•^^.•.
^^»^
.^'
w^
«'«-'*&*
z.'^m^^
m-if's^
-'Ö^^-' vT ^-^
^Ml
.«O^;
•.•XJ»-
Jen
^ibrarn of tbe K^usntm
OP
COMPARATIYE ZOÖLOGY,
AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS.
jFouulJcti b» pvibntc suliscriptfon, in 1861.
Deposited by ALEX. AGASSIZ.
No.ioißQlf.
nuctS
\
0l4a^ca^^^
Jeiiciische Zeitschrift
für
MEDICIN
und
NATURWISSENSCHAFT
herausgegeben
von der
medicinisch - naturwissenschaftlichen &esellschaft
zu Jena.
Vierter Band.
Mit sieben Tafeln.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Engelmann.
^"M868.
-I-
Inhalt.
Seite
Geuther, A., Ueber üxaniid unrl Harnstoff. Versuche von E. Scheitz.
J. E. Marsh und A. Geuth er 1
Ueber die Zusammensetzung der Krystalle von Aethernatron 16
Scheitz, Dr, E., Ueber die Einwirkung von einfach salzsaurem Glycoläther
auf Mononatriumglycolat li*
Pfeiffer, Dr. L., Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1S3G — 1867,
mit Berücksichtigung der anderen gleichzeitigen Epidemien 21
Flemming, Dr. H., Ueber einige Thalliumverbindungen und die Stellung
dieses Metalls im System 33
Gegenbaur, C, Ueber die Drehung des Humerus. (Taf. I.) 56
Häckel, E., Monographie der Moneren. (Taf. II. u. III) 64
Müller, "Wilhelm, Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im
Jahre 1S66 145
Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1S67 . . 170
Kirch ho ff, Alfred, Caspar Friedrich Wolff. Sein Leben und seine Be-
deutung für die Lehre von der organischen Entwickelung 193
M i k 1 u c h - M a c 1 a y, N., Beiträge zur Kenntniss der Spongien I. (Taf. IV.
u.V.) .' 221
Geuther, A., Ueber die Einwirkung des Aethernatrons auf die Aether
einiger Kohlenstoffsäuren 241
Theile, Dr. R., Ueber Legumin 264
Ueber einen neuen, dem Tyrosin und Leucin ähnlichen Körper. (Mit
3 Figuren in Holzschnitt.) 281
Geuther, A., Untersuchung über sauerstoffreiche Kohlenstoffsäuren . . . 28S
I. Abhandlung. Ueber die Einwirkung concentrirter Chlorwasserstoff-
säure auf Weinsäure und Traubensäure in höherer Temperatur. Von Dr.
H. Riemann 2S9
Engelmann, Dr. Th. AV. in Utrecht, Ueber Reizung der Muskelfaser durch
den Constanten Strom. (Mit 2 Holzschn.) 295
Zur Lehre von der Xervendigung im Muskel 307
Ueber die Flimmer])ewegung\ (Taf. VI) 321
Seidel, Dr. M., Beitrag zur Lehre vom Ileotyphus. (Taf. VII) 480
Pfeiffer, Dr. L. in Weimar, Die bisherigen Erfahrungen über Trichiniasis
und Fleischbeschau in Thüringen 504
IV lllllillt.
Seite
Win kl er, Dr. N. F , Ueber Stellungen des graviden und puerperalen Uterus 522
Die Zotten des menschlichen Aninios 535
Schultze, B. S., Die Placentarrcspiration des Foetus 541
Miklucho-Maclay, Beitrag zur vergleichenden Anatomie des Gelnrnes.
(Mit 3 Figuren in Holzschnitt). Vorläufige Mittheilung 553
üeuther, A., Ueber die Bildung der Aethylessigsäure aus Aethyldiacetsäure 570
Kleinere Mittheilungen.
Geuther, A., Ueber die Constitutinii dor sog. Homologen der Blausäure 13S
Zwei Notizen 139
Schultze, B. S., John Mayow über Apnoe und Placentarresjjiratiun 141
Zur forensischen Diagnose des Geschlechts 312
Geuther, A., Ueber die Constitution einiget Siliciumverbindungen und Einiges, was sich
auf das Mischungsgewicht des Siliciums bezieht 313
Schultze, B. S., Ueber die narbenförmigen Streifen in der Haut de.s Oberschenkels . . 577
lieber Ovaiiiid und Harustoff.
Versuche von E. Scheitz, J. E. Marsh und A. Geuther.
Mitgetheilt von
A. Geuther.
Die Bildung der Amide aus Säure und Ammoniak lässt sich durch
folgende Gleichung ausdrücken :
Saure + b NH^ = 2. b HO -H Amid,
wobei b die Zahl bedeutet, welche die Basicilät der Säure angiebt.
Das heisst: für je 1 Mgt. Ammoniak, welches in Verbindung gehl treten
2 Mgte Wasser aus. In Bezug auf den Ursprung des Letzteren sind
zwei Möglichkeiten denkbar, entweder stammt dasselbe nämlich aus
Wasserstoff und Sauerstoff der Säure, oder aber ist es aus Wasserstoff
des Ammoniaks und Sauerstoff der Säure gebildet worden. Die erstere
Auffassungsweise ist nur möglich für Säuren , welche wenigstens 2 b
Wasserstoff enthalten, d. h. für alle einbasischen Säuren mit wenig-
stens 2 Mgtn. Wasserstoff, für alle z w e i basischen Säuren mit wenig-
stens 4 Mgtn. Wasserstoff, für alle drei basischen Säuren mit wenigstens
6 Mgtn. Wasserstoff u. s. f., während die andere für alle Säuren ohne
Ausnahme Anwendung finden kann, da das einwirkende Ammoniak
immer mehr Wasserstoff" enthält, als solcher in Form von Wasser aus-
zutreten hat. Liesse sich nun zeigen, dass die erstere Auffassungsweise
für jene erwähnten Säuren die am meisten berechtigte sei , fände bei
ihrer Verwandlung in Amide nur die Auswechslung gleicher Volumina
Wasser gegen Ammoniak statt, so würden diejenigen Säuren, welche
diese Auffassungsweise nicht zuliessen als eine besondere Classe von
den andern zu trennen sein. Für diese aber, deren Anzahl bis jetzt
eine sehr geringe ist und als deren Ilauptrepräsentanlen bei den
Kohlenstoffsäuren, auf die es uns zunächst hier ankommt, die Kohlen-
Baud IV. I. 1
A. Geutlier,
Es ^vu^de 1 Mgt. bei 100» getrockneten Harnstoffs m>l ( Mgl^
Ameisensiture (erhallen aus trockenem ameisensauren Ble.oxyd und
'r: nen! Schvvefei.assers.off) in einem Kocl>D»scheen zusammen,
oebrachl und selbiges, da nach einiger Zeit be. gewohnl.che. Tempe
f,..u- keine Ein^i^kung zu bemerken war, mit eme„> umgekehr en
K er in Verbindung gebracht und alhnlihlich im ^^^f''^^^^^
erhitzt. Der Harnstoff ging hierbei in Lösung Als d,e E.n - k.mg
einige Zeit gedauert hatte, wurde der Inhalt durch freies Feue b>s
zum Sieden erhitzt. Da eine Gasentwicklung begann wurde nach kurzer
ZU d Feuer entfernt und erkalten gelassen. Die dabei ,mmer d.cker
w rlde Flüssigkeit erstarrte nun zu einem Brei ■"-ner we.ss
Krvslalle . ihrem Aussehen nach wesentlich verschieden von denen des
H nstoffs und des ameisensanren Ammoniaks. Sie ware_n .» =b- "'™
Alkohol sehr schwer löslich und konnten damit von noch vorhandenem
Harns ff etwa gebildetem ameisensauren Ammoniak und der Ame.sen-
";: beireit we'i-den. Sie entwickelten -H''»'-. ^'^---^^.f^ff
gössen kein Ammoniak. Um zu sehen , ob s,e ame.sensaurer Ha.nstofl
L en wurde der Versuch wiederholt, aber nachdem der Harnstoff m
Lösung gegangen war sogleich verschlossen und erkalten gelassen.
Nach Verlauf ™n etwa 12 Stunden erschienen aber grosse durch , ei-
lige situlenförmige Krystalle von Harnstoff Nach weUerem Verlaut von
anstunden ruhigen Stehens fingen die Harnstoffkrystalle an em e In
weisse Puncte zu zeigen, deren Menge sich nach und nach bede. n 1
vermehrte und deren Ansehen ganz dem der zuerst erhaltenen g.ch.
Sie sind , wie ihre Untersuchung gezeigt hat, in der That d.e nand.che
Verbindung. , , . .„^^o
Die mit absolutem Alkohol vollkommen abgewaschene und bei 1 ÖU
getrocknete Verbindung gab bei der Analyse folgende Zahlen:
1 ^603 grm. gaben 0,206/1. grm. Kohlensäure, entspr. 0,075(>!5
■ g,'ni. =27,9 Proc. KohlenstofT und 0,M1 1 grm. Wasser, entspr.
0,01 23i grm. = i,7 Proc. Wasserstoff.
U 2;rl8 grm. lieferten 0,2579 grm. Kohlensäure und 0,1 126 grm.
■ Wasser, entspr. 0,07031 grm. KohlenstofT = 27,9 Proc. unc
0,01201 grm. Wasserstoff = 4,9 Proc.
Zur Beslinnnung des StickstofTs wurden verwandt: 0,208 grm
und erhalten 5Ö,7 CC. StickstolT bei 6", :> und 732,5 Mm. Barometer
stand, was bei 0" und 760 Mm. Druck 51,9 GC. ausmacht, die enl
sprechen: 0,06521 grm. = 31,'. Proc. Stickstoff.
lieber Oxamid und HnriistofT. -
Daraus berechnet sich für sie die Formel: C^H^N^O^.
I.or.
gef.
I. II.
€•■2 = 27, ;j
27,9 27,9
H^ = 4,0
1,7 4,9
N2 = 31,8
— 31,4
0^ = 36,4
— —
100,0
Die Bildung dor Verbindung fiiulot nach der Gleichung statt:
€H^N202 -f. tH^b' = 4^2H i?^20' + 2 «0.
Obwohl dieselbe also die Zusammensetzung des Oxamids besitzt,
so ist sie doch nur metamer und nicht identisch mit demselben , wie
die folgenden Eigenschaften beweisen.
Sie löst sich leicht in Wasser , sehr schwer in kaltem , leichler in
heissem abs. Alkohol. Aus letzterer Lösung krystallisirt sie nach dem
Verdunsten des Alkohols unverändert, aus der wässrigen Lösung er-
hiilt man sie nicht wieder, mag man in der Wärme oder über Schwefel-
säure in der Kälte das Wasser verdunsten lassen , sie zerfällt dabei in
Ameisensäure und Harnstoff, welch letzterer zurückbleibt, während
die erstere mit dem Wasser verdunstet und bei genügender Concen-
Iration durch ihren Geruch wahrgenommen werden kann. Natronlauge
entbindet in der Kälte aus ihr kein Anmioniak , was sofort geschieht,
wenn sie damit gekocht wird. In der zurückbleibenden Flüssigkeit
ist Ameisensäure enthalten , sie wurde mit verdünnter überschüssiger
Schwefelsäure daraus frei gemacht, überdestillirt und an ihren Re-
actionen erkannt. Wird die wässrige Lösung des Ameisenharnstoffs
mit gefälltem , fein geschlemmten Quecksilberoxyd gekocht und heiss
liltrirt, so erhält man nach dem Erkalten eine geringe Menge einer
weissen dichten Substanz , ganz vom Aussehen des Harnstoff-Queck-
silberoxyds Dabei findet keine Motallreduclion statt. Dieselbe tritt
erst nach längerem Erhitzen ein oder wenn man das Filtrat über
Schwefelsäure eindunsten lässl und zwar auch da erst, wenn die Ver-
dunstung nahezu vollendet ist.
Zu den charakteristischen Eigenschaften des Ameisenharnstoffs ge-
hört noch die bei 159" unverändert zu einer farblosen Flüssigkeit, die
beim Erkalten wieder weiss erstarrt, zu schmelzen. Wird derselbe
über diese Temperatur eihitzt (was im Oelbad geschah), so beginnt er
bald sich zu zersetzen.. Zuerst erscheint reichlich Ammoniak, dann
Cyanwasserstoff, als Rückstand bleibt Cyanursäure und poröse Kohle.
Als die Temperatur 190" erreicht halte trat ausserdem noch ein ölför-
miges flüchtiges Product in geringer Menge auf. Dasselbe löste sich in
ß A. Geuther,
Wasser und gab nach dem Kochen mit kohlensaurem Natron und An-
säuern mit Schwefelsäure ein saures Destillat, welches Silberlösung
reducirte. Darnach könnte dasselbe Formamid gewesen s,ein , das
sich auf analoge Weise gebildet haben würde , wie das Acetamid beim
Erhitzen des Acetyl-Harnstoffs oder das Benzamid beim Erhitzen des
Benzoyl-Harnstoffs. Seine Menge ist nur sehr gering, der grösste Theil
desselben wurde wohl in Blausäure und Wasser zersetzt. Bei 200 ^
wird der noch zähflüssig erscheinende Bückstand durch Aufschäumen
schwarz und zu poröser Kohle.
Herr Scheitz hat nun noch versucht, ob sich der Ameisenharnstoff
aus Formamid und Gyansäure nach der Gleichung:
£omm + €NO,so = £mwo^
darstellen lasse, und zu dem Ende auf völlig trocknes Formamid die
Dämpfe von Gyansäure geleitet. Dabei verwandelte sich ein grosser
Theil der Letzteren in Gyamelid, während ein anderer zersetzend auf
das Erstere einwirkte, indem er unter Wasserentziehung dessen Ueber-
gang in Blausäure veranlasste, aber Ameisenharnstoff' konnte nicht auf-
gefunden werden.
Da somit dem Mitge theil ten zufolge das Oxamid nicht Formyl-
harnsloff ist , so bleibt für dasselbe die erstere Deutung als Azo-Glyco-
coll oder Azo-Glycolamid noch übrig. Die im Folgenden mitgelheilten
Versuche sind von diesem Standpunct aus unternommen worden.
Oxamid und Ameisensäure.
Die Einwirkung stärkerer Mineralsäuren auf das Oxamid ist be-
kannt. Man weiss , dass es durch die Hydrate derselben oder bei
Gegenwart von Wasser leicht in Oxalsäure und Annnoniak verwandelt
wird, ein Verhalten, welches es mit dem Glycolamid, das leicht in
Glycolsäure und Ammoniak zerfällt, theilt, nicht aber mit dem GlycocoU,
das sich mit den Säuren verbindet. Von der Wirkung starker Kohlen-
stolfsäuren auf das Oxamid ist nur bekannt, dass Essigsäure ohne Wir-
kung ist (Henry und Hisson) . Ebenso verhält sich , wie Herr Marsh
fand, reine Ameisensäure, selbst wenn dieselbe im Ueberschuss
längere Zeit im verschlossenen Bohr mit Oxamid auf 100" erhitzt wird.
Bei 125*' dagegen findet schon Zersetzung statt, es ist Druck vorhanden
und es strömt beim Oeffnen desBohrs ein n)it blauer Flanune brennen-
des Gas, Kohlenoxyd, aus. Die Temperatur wurde unter mehrmaligem
Oeff"nen des Bohrs schliesslich bis 250" gesteigert und immer das gleiche
Besultat erhalten. In dem Maasse als die Temperatur eine erhöhte ge-
worden war fand die Bildung grösserer Krystalle im Innern statt und
Ueber Oxamid und IlnrnstolT. 7
schliesslich war die ganze Menge Oxamid in diese verwandelt. Sie er-
wiesen sich als oxa Isau res Ammoniak. Die Ameisensäure zerfällt
also hierbei in Kohlenoxyd und Wasser, welch letzteres das Oxamid in
oxalsaures Ammoniak verwandelt. Es entsteht also kein Ameisen-
Oxamid (Formyloxamid) , wie es der Fall hätte sein müssen , wenn sich
das Oxamid dem Harnstoff analog verhalten hätte oder wie es der Fall
hätte sein können, wenn Oxamid und Glycocoll Analogie zeigten.
Oxamid und Essigsäureanhydrid.
Beide Körper wurden im verschlossenen Rohr von I iO*^ allmählich
auf 160^ erhitzt, ohne dass, eine geringe Bräunung des überschüssigen
Anhydrids ausgenommen , Veränderung eingetreten wäre. Sie waren
beide noch als solche vorhanden , wie die Trennung derselben mittelst
absol. Alkohols zeigte
Oxamid und Benzoesäureanhydrid.
Beim Erhitzen der beiden Substanzen im offenen Rohr auf 1 70"
findet nach den Versuchen von Herrn Marsh keine Einwirkung statt,
denn wenn die Masse mit Alkohol behandelt wird , bleibt Oxamid un-
verändert übrig. Erhitzt man aber bis 200^ und behandelt die Masse
auf gleiche Weise, so lässt sich in dem Rückstand , welchen die alko-
holische Lösung liefert , durch überschüssige Natronlauge nicht in der
Kälte, wohl aber beim Kochen Ammoniak frei machen, ein Zeichen,
dass Benzaraid entstanden ist. Oxalsäure konnte in dem übrig ge-
bliebenen Oxamid nicht nachgewiesen werden. Das bei dieser Tempe-
ratur gleichzeitig sich bildende Sublimat enthält neben Benzoesäure
gleichfalls Benzamid.
Dieses Verhalten des Oxamids zu den Anhydriden unterscheidet
es gleichfalls wesentlich vom Harnstoff, wie wir weiter unten zeigen
NNerden. Ob das Glycolamid mit ihm darin übereinstin)mt ist nicht
untersucht, ebensowenig das Verhalten der Anhydride zu Glycocoll.
Von Letzlerem ist es wahrscheinlich, dass es damit die zum Theil schon
bekannten zusammengesetzten Glycocolle bilden wird (mit Essigsäure-
anhydrid z. B. das von Kraut und Hartmann erhaltene Acetylglycocoll) .
Oxamid und Kupferoxyd.
Schon ToussAiNT i) , welcher auf Veranlassung des Einen von uns
das Verhalten des Oxamids zu Kupferoxydhydrat untersuchte , fand.
4) Ueber d. Oxaijiinsäure. Inaug. Dissert. Göltingen 1861.
g A. Geuther,
dass sich dasselbe damit zu verbinden vermag, aber nicht in der
Weise , wie das Glycocoll , welches bekanntlich unter Austritt von
Wasser das Metalloxyd aufnimmt, sondern so, dass es direct Kupfer-
oxyd aufnimmt, in ähnlicher Weise, wie es Dessaignes ^j schon früher
mit Quecksilberoxyd beobachtet hat. Die entstehende Verbindung be-
sitzt nach ToussAiNT die ungewöhnliche Zusammensetzung: SC^H'N^O^,
5CuO. Herr Marsh hat diese Verbindung von Neuem auf die von
ToussAiM angegebene Weise durch Kochen von überschüssigem Oxa-
mid mit Kupferoxydhydrat dargestellt und durch die Analyse die von
Letzterem dafür angegebene Zusammensetzung bestätigt gefunden.
Dieselbe Verbindung entsteht ferner auch sofort, wenn n)an zu
einer heissen Oxamidlösung neutr. essigsaures Kupferoxyd giesst, oder
beim Erwärmen, wenn man die Lösungen kalt zusammenbringt, jedes-
mal unter Freiwerden von Essigsäure. Zur Darstellung wurde nach
der ersteren Art verfahren und von der Lösung des Kupfersalzes so
lange zugefügt, bis die Flüssigkeit die Farbe derselben zeigte. Nach
dem Absetzen des Niederschlagi^s wurde noch warm abgegossen und
ersterer wiederholt mit siedendem Wasser behandelt, so lange als beim
Erkalten desselben noch eine Oxamidabscheidung stattfand. Die auf
diese Weise erhaltene Verbindung besitzt alle Eigenschaften der auf
andere Art erhaltenen , nur ist die Farbe derselben etwas lebhafter
grün. Herr Marsh fand bei der Analyse derselben folgende Zahlen:
0,7712 grm. über Schwefelsäure getrockneter Substanz gaben mit
Natronlauge zersetzt 0,4165 Kupferoxyd = 54,0 Proc. und Oxalsäuren
Kalk, dessen Kalkgehalt nach dem Glühen 0,2279 grm. betrug; daraus
berechnen sich 0,0976 grm. = 12,6 Proc. Kohlenstoff. Das über-
destillirte Ammoniak lieferte Platinsalmiak, der nach dem Glühen
0,7877 grm. Platin hinterliess, was 0,1117 grm. = 14,5 Proc. Stick-
stoff entspricht.
ToUSSAlNT
ber.
gef. gef.
€4 = 12,8
^'= ''^47
N» = 15,0[ ''
0'' = 17,1
12,6
5CuO = 53,0
54,0 53,5 l
_ 53,7
100,0
Das Oxamid-Kupferoxyd stellt ein leichtes , lockeres, sehr hygro-
skopisches Pulver dar und wird , wie schon Toussaint gefunden hat.
1) Annal. de chim, et de phys. 3. Ser. T. XXXIV. p. 144.
üeber Oxamid und Harnstoff. 9
durch stärkere Mineralsäuren zerlegt. Wirken dieselben in der Kälte
darauf ein , so löst sich das Kupferoxyd allein und das Oxamid bleibt
zurück. Ebenso wirkt conc. Essigsäure und conc. Ammoniak , ver-
dünnte Essigsäure und verdünntes Ammoniak dagegen sind fast ohne
Wirkung. Wird die Verbindung in Wasser verlheilt der Einwirkung
von Schwefelwasserstoff ausgesetzt , so wird sie gleichfalls leicht zer-
setzt. Aus dem abgeschiedenen Schwefelkupfer kann durch Kochen
mit Wasser leicht das Oxamid ausgezogen werden. Das Oxamid-
Kupferoxyd ist ungemein beständig in der Wärme. Toussaint ver-
\\andlc zu seinen Analysen bei 110^ getrocknete Substanz; aber es
kann ohne wesentlichen Gewichtsverlust zu erleiden, noch höher er-
hitzt werden: ein Beweis, dass dasselbe eine völlig wasserfreie Sub-
stanz ist.
Herr Marsh fand , als er die über Schwefelsäure getrocknete Ver-
bindung einer allmählich steigenden Temperatur während 8 Tagen
aussetzte, dass dieselbe bei 1 10*^ 't,6Proc., bei 160" 2,1 Proc, bei
180'^ 3 Proc. und bei 190'MJ,6 Proc. verloren hatte und von unver-
ändertem Aussehen war. Erst bei !9i*^ beginnt die Zersetzung unter
Schwärzung und nun ist der Verlust bedeutend , bei 200" betrug er
schon ;{9,0 Proc. und nach dem Erhitzen auf 220" ist das Gewicht des
schwarzen Rückstands nur -noch 56,7 Proc. Er besteht aus fast reinem
Kupferoxyd, von dem die Verbindung 53,0 Proc. enthält.
Ausser der Verbindung des Oxamids mit Kupferoxyd ist nur noch
eine solche mit Quecksilberoxyd von der Formel: C^H^N^^O^.HgO be-
kannt, welche Dessaignes erhalten hat. Mit Bleioxvd und Silberoxyd
konnte Pelouze i) das Oxamid nicht vereinigen , auch uns gelang es
nicht durch Kochen von Oxamidlösung mit Silberoxyd eine Verände-
rung beider Substanzen wahrzunehmen. Eine Lösung von essigsauren)
Silberoxyd wird durch eine kochende Oxamidlösung gleichfalls nicht
verändert. Ebenso verhält sich eine n utrale essigsaure Bleilösung;
wird Oxamidlösung aber zu einer Lösung von bas. essigsaurem Blei-
oxyd gefügt, so entsteht, sofort ein starker Niederschlag, welcher indess
kein Oxamid in Verbindung enthält, sondern nur Oxalsäure und wahr-
scheinlich der nämliche ist, den Pelouze 2) erhielt, als er die wässrige
Lösung des Oxamids mit wenig Ammoniak versetzt zu salpeter- oder
essigsaurer Bleioxydlösung fügte, nämlich bas. oxalsaures Bleioxyd:
6PbO,€20'\
Eine heisse Oxamidlösung wirkt ferner nicht ein auf die neutralen
1) Gmelin, Handb. Bd. V, p. 16.
2) Gmelin, Handb. Bd. IV, p. 853 u. Bd. V, p. 16.
10 A. Gcuther,
essigsauren Salze des Eisenoxyduls, Eisenoxyds, Manganoxyduls,
Nickeloxyduls, Zinnoxyduls und Quecksilberoxyds. Die Lösung des
essigsauren Quecksilberoxyduls wird durch dieselbe beim Kochen
reducirt.
Das eben erwähnte Verhalten des Oxamids den Metalloxyden und
Salzen derselben gegenüber ist nicht allein merkwürdig des unter-
schiedenen Verhaltens halber, sondern auch der Art der Verbindungen
wegen. Letztere entstehen nicht wie die der meisten Amide so, dass
für Wasser, welches austritt, Metallox^d eintritt, sondern es fügt sich
das Metalloxyd einfach zu dem Oxamid, denn das Verhalten der Kupfer-
oxydverbindung in der Wärme schliesst die Annahme , dass es eine
wasserhaltige Verbindung sei, aus. Es ist ferner nicht anzunehmen,
dass die Kupferverbindung eine Art basischer Verbindung ist , obwohl
in ihr 21/2 Mgte Kupferoxyd auf 1 Mgt. Oxamid kommen , da sie unter
Freiwerden von Essigsäure entsteht.
Von anderen Amiden , welche sich mit Metalloxyden direct ver-
einigen sind uns ausser dem Harnstoff keine bekannt. Denn die von
Fehling 1) mit Bisuccinamid dargestellten Bleioxydverbindungen sind
nach den Untersuchungen Teuchert's 2] als Succinaminsäure-Salze zu
betrachten. In gleicher Weise ist offenbar die von Arppe 3] mit dem
homologen Bipyrotartramid erhaltene Bleiverbindung (2l€5H''NO^,5PbO,
bflO] aufzufassen, als ein anderthalb basisches Bleioxydsalz
einer Pyrotartraminsäure.
2€5H7NO^ 5PbO, 5H0 = [2 (esflSNO^, PbO) + 3 (PbO,HO)].
Ob eine Verbindung , welche das Fumaramid mit Quecksilberoxyd
bildet, und von der Dessaignes *) blos die Quecksilberbestimmung aus-
geführt hat, ohne irgend etwas anderes von ihr zu sagen , als dass sie
ein weisses Pulver darstelle, hierher gehört, ist ganz zweifelhaft.
Durch die Fähigkeit des Oxamids sich mit gewissen Metalloxyden
direct zu vereinigen, unterscheidet sich dasselbe wesentlich von dem
Glycocoll. Ob das Glycolamid nicht im Stande ist sich mit den Oxyden
cowisser schweren Metalle in analoger Weise zu vereinigen ist bis jetzt
nicht untersucht worden. Die Angaben über das Verhalten des ihm
homologen Lactaraids lauten nur dahin , »dass sich in wässriger Lacta-
niidlösung kein unlösliches Oxyd löst« (Brüning)^). Käme aber auch
1) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 49, p. 196.
2) Ebend. Bd. 134, p. 155.
3) Ebend. Bd. 87, p. 235.
4) Annal. de chim. et de phys. 3. Ser. T. XXXIV, p. 145.
6) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 104, p. 197.
Ueber Oxaraid und Harnstoff. 1 1
dein Glycolamid die Fähigkeit, solche Verbindungen wie das Oxaniid
zu bilden, nicht zu, so würde daraus doch keineswegs die oben er-
wähnte Ansicht als unzutreffend gefolgert werden können.
Oxamid und Wasserstoff.
Um zu sehen , ob im Oxaniid ein Theil oder der ganze Stickstoff-
gehalt gegen Wasserstoff ausgewechselt und es in GlycocoU oder Glycol-
amid oder Glycolsäure übergeführt werden könne, unterwarf Herr
Scheit/ dasselbe der Einwirkung von Zink und Essigsäure, welche
letztere für sich keine Einwirkung darauf äussert, wie schon Henry
und Plisson fanden und wir bestätigen können. In einem Kolben
wurde das Oxamid mit Zink und viel Wasser in Berührung gebracht
und langsam Essigsäure in dem Maasse, als die Wasserstoffentwicklung
gering wurde, zugefügt. Der Kolben wurde bis etwa 60'^ erwärmt und
so lange stehen gelassen , als beim Erkalten eine Oxamidabscheidung
noch wahrgenommen w erden konnte , was etw a 8 Tage lang währte.
Darauf wurde aus der Flüssigkeit das Zink mit Schwefelwasserstoff
entfernt und dieselbe schliesslich im Wasserbade zur Trockne gebracht.
Es hinterblieb eine strahlig krystallinische, in Alkohol lösliche Masse, die
schon in der Kälte mit Natronlauge Ammoniak entwickelte. Sie besass
saure Reaction und stimmte in ihrem Aussehen mit dem sauren Ammoniak-
salz der Glycolsäure, wie es Hei\tz ') beschrieben hat, überein. Ein
Theil derselben wurde in Wasser gelöst, mit Kalkhydrat gekocht, wobei
Ammoniak entwickelt w urde , aus dem Filtrat der überschüssige Kalk
durch Kohlensäure entfernt und zui- Krystallisation eingedampft. Die
erhaltenen Kry stalle hatten ganz das Aussehen von glycolsaurem Kalk.
Das bei 100^ getrocknete Salz gab nach dem Glühen 23,2 Proc. Kalk;
der glycolsäure Kalk enthält 22,9 Proc. Es war demnach wirklich
glycolsaurcr Kalk und das Oxamid also in Glycolsäure und Ammo-
niak verwandelt worden. Die Entstehung von GlycocoU konnte hier-
bei nicht wahrgenommen werden.
Harnstoff und Essigsäureanhydrid.
Das Verhalten des Harnstoffs zu den Mineralsäuren und einer Reihe
von Kohlenstoffsäuren ist bekannt. Er bildet damit Verbindungen, in
welchen er die Rolle einer einsäurigen Basis spielt. Er zeigt also das
Verhalten , wie es von einem Azo-hydroxymethylamin wohl erwartet
1J PoGGENDORFF, Annal. Bd. 114, p. 440.
12 A. Geuther,
werden kann. Das Verhalten des Harnstoffs zu Säureanhydriden ist
bis jetzt nicht untersucht gewesen.
Wird Harnstofl' mit Essigsäureanliydrid (I Mgt. des ersteren auf
2 Mgie des letzteren) einige Zeit bis zum Siedepunct des Anhydrids er-
hitzt und dann erkalten gelassen, so sciioidet sich auf Zusatz von Wasser
Acctylharn Stoff aus, der durch Umkrystallisiren aus heissem Wasser
leicht rein erTialten werden kann. Nur wenn die Erhitzung längere
Zeit fortgesetzt worden ist, enthalten die Krystalle etwas Cyanursäure
beigemengt. Durch Kochen der wässiigen Lösung mit kohlensaurem
Silberoxyd kann diese leicht entfernt werden. Er besitzt alle die
Eigenschaften, wie sie Zimy ^) für denselben angegeben hat.
I. Unmittelbares Product etwas cyanursäurehaltig.
0,2161 grm. gaben 0,276 grm. Kohlensäure, entspr. 0,07527 grm.
= 34,8 Proc. Kohlenstoff und 0,1136 grm. Wasser, entspr. 0,01262
grm. = 5,9 Proc. Wasserstoff.
II. Mit kohlensaurem Silberoxyd gereinigtes Product.
0,2455 grm. gaben 0,3185 grm. Kohlensäure, entspr. 0,086869 grm.
= 35,4 Proc. Kohlenstoff und 0,136 grm. Wasser, entspr. 0,01511
grm. = 6,1 Proc. Wasserstoff.
ber.
€^ = 35,3
H6 = 5,9
N2 = 27,5
04 = 31,3
100,0
Der Acetyl-Harnstoff entsteht nach der Gleichung:
€H<N20'^-f-2€2H-^0:i=G3iI6N204 4-€2H^O^.
Seine Bildung geht so leicht von statten , dass dies die bequemste
Methode seiner Darstellung ist.
Harnstoff und Benzoesäureanhydrid.
Erhitzt man Benzoesäureanhydrid mit Harnstoff zu gleichen
Mischungsgewichten, so findet bei 120" die Schmelzung des Harnstoffs
unter dem geschmolzenen Anhydrid statt, ohne dass ein gleichförmiges
1) Annal. d. Chem. u. riiarm. Bd. 92, p. 403.
lieber Oxamid iiiul HarustolT. 1 3
Gemisch entstünde ; auch durch Unischüttohi kann ein solches nicht
erhalten ^verden. Lässt man erkalten, so krystallisirt der Harnstoff
wieder unter dem flüssigen Anhydrid. Hält man die Temperatur
aber einige Zeit bei I 20"^ , so tritt vollständige Mischung der Flüssig-
keiten ein und beim Erkalten entsteht eine terpenthinartige Masse, die
selbst nach tagelangem Stehen nur wenig Krystallbildung zeigt. Sie
löst sich vollkommen und leicht in absolut. Alkohol , enthält demnach
keinen Benzoyl-IIarnsloff. Wird dieselbe einer Temperatur von 140 —
1 50^' längere Zeit ausgesetzt, so beginnt die Abscheidung kleiner säulen-
förmiger Krystalle. Hat die Erhitzung lange genug gedauert, so
krystallisirt beim Erkalten die ganze Masse wieder leicht. Wird die-
selbe nun mit kaltem absol. Alkohol behandelt, so bleibt ein Rückstand
von Cyanursäure und Benzoyl-Harnstoff, während neben über-
schüssigem Anhydrid Benzamid in Lösung geht. Durch wiederholtes
ümkrystallisiren aus ammoniäkalischem Wasser entfernt man die
Cyanursäure, welche in Lösung bleibt und erhält man den Benzoyl-
Harnstoff in farblosen nadeiförmigen Krystallen , die in kaltem Wasser
sehr schwer löslich sind. Sie besitzen die von Zimn dafür angegebenen
Eigenschaften , sie krystallisiren aus Alkohol in Blättchen , schmelzen
gegen 200^ (208^), geben auf dem Platinblech vorsichtig erhitzt zuerst
den Geruch von Benzonitril und hinterlassen einen Rückstand von
Cyanursäure, im Röhrchen über ihren Schmelzpunct erhitzt beginnt
die Masse zu schäumen und erfüllt sich mit Nadeln von Cyanursäure,
indem Benzamid sublimirt.
Die Ausbeute an der Verbindung ist immer nur gering, da das
Wasser, welches vom Benzoösäureanhydrid fortzugehen hat, sich, wie
mir scheint, nicht zu letzterem begiebt und damit Benzoesäure bildet,
sondern zersetzend auf Harnstoff einwirkt. Man bemerkt in der That
auch während der Operation immer eine Gasentwicklung.
Die Analyse mit wenig Substanz (0,1097 grm.) ausgeführt, hat
kein ganz genaues Resultat ergeben, es wurden nämlich gefunden:
oöjGProc. Kohlenstoff und ö, 4 Proc. Wasserstoff, während der Benzoyl-
Harnstoff: 58,5 Proc. Kohlenstoff und 4,9 Proc. Wasserstoff verlangt.
Das oben angeführte Verhalten der Substanz lässt indess keinen
Zweifel, dass sie der Hauptsache nach diese Verbindung war.
Als einmal gleiche Mischungsgewichte Harnstoff und Benzoösäure-
anhydrid im Luftbad rasch auf 180^' erhitzt wurden, fand lebhafte
Gasentwicklung statt, es entwich viel Anunoniak und es bildeten sich
in der geschmolzenen Masse vollkommen farblose grosse nadeiförmige
Krystalle von Cjanursäure. Sie blieben nach dem Behandeln mit ab-
solut. Alkohol allein zurück, ohne Benzoyl-Harnstulf.
14 A. Genther,
Harnstoff und Metalloxyde.
Von Harnstoff sind nur Vorbindungen mit Silberoxyd und Queck-
silberoxyd bekannt. Sie stimmen mit den Oxamid-Metalloxyden darin
überein , dass sie einfache Verbindung von Harnstoff mit den Oxyden
sind und ohne Austritt von Wasser entstehen. Liebig fand für die
Silberoxydverbindung die Formel: €HiN202,:^AgO und für die drei
Quecksilberoxydverbindungen die Zusammensetzung €fl^N202,2HgO i),
€H^N20-^,3HgO und €HW^O-^,IHgO.
Die essigsauren Salze des Kupferoxyds und Quecksilberoxyds
werden durch eine Harnstofflösung nicht gefällt.
Harnstoff und Wasserstoff.
In gleicher Weise wie das Oxamid hat Herr Marsh Harnstoff mit
Zink und Essigsäure behandelt. Auf 12 grm. des ersteren wurden 60
grm. der letzteren angewandt. Als die Reaction zu Ende war, wurde
die Flüssigkeit, in welcher noch viel Harnstoff durch Salpetersäure
nachgewiesen werden konnte mit Natronlauge im Ueberschuss versetzt
und deslillirt. Das Uebergehende wurde in Salzsäure aufgefangen, zur
Trockne gebracht, mit abs. Alkohol ausgezogen und der nach dem
Verdampfen des letzleren bleibende Rückstand mit Aether-Alkohol
abermals behandelt. Nachdem das Lösungsmittel wieder verdunstet
war, blieb so gut wie kein Rückstand. Das Ungelöste war nichts als
Salmiak.
Einen zweiten Versuch stellte Herr, Marsh in der Weise an , dass
er 8 grm. Harnstoff in 40 grm. Eisessig löste und diese Lösung in einem
Retörtchen mit aufgerichtetem Hals, das mit einem umgekehrten Kühler
verbunden war, auf überschüssige Eisenfeile goss. Es fand unter ge-
ringer Erwärmung nur geringe Gasentwicklung statt, dieselbe wurde
reichlicher, als die Reaction durch Feuer unterstützt wurde. Nachdem
eine Stunde lang bis zum Siedepuncte der Essigsäure erhitzt worden
war, wurde die Masse noch einige Tage sich selbst übeilassen. Sie
war fest geworden. Sie wurde nun in viel Wasser gelöst, die Lösung
zum Sieden erhitzt, abfiltrirt, mit Natronlauge im Ueberschuss destillirt
und das Uebergehende in Salzsäure aufgefangen. Als dasselbe zur
1) Dessaignes giebt für diese die Formel : €M3HgN-02,HgO, indess seine analy-
tisclien Resultate, welche untereinander seU)st sehr abweichen, zeigen, dass die
von ihm untersuchte Substanz nicht rein war (a. a. 0.).
Uebcr Oxamul uml Iliirnstoff. 15
Trockne gcbrnclU und mit Aolhor-Alkohol boliandolt wurde, ging nur
sehr wenig in Lösung. Dieses bestand zum Tlieil aus Salmiak, zum Tlieii
aber aus einem an der Luft feucht werdenden Salz , das mit Natron-
lauge ausser Ammoniak den Geruch von Aminbascn zeigte. Die Menge
war indess so gering, dass ein wesentlicher Theil des Ilarnstotls in
diese Substanz nicht verwandelt sein konnte. Das in Aether-Alkohol
l'ngelöst gebliebene war reiner Salmiak. Es wurde also der Harnstoff
auch durch dieses Reduclionsverfahren nicht verändert, seine Bestän-
digkeit reducirenden Einflüssen gegenüber ist also viel grösser als die
des Oxamids.
Teber die Zusanimeusetziiiig der Kristalle von Aethernatroii.
Von
A. Geuther.
Es ist bekannt , dass wenn man Natrium auf abs. Alkohol ein-
wirken lässt, nach dem Erkalten aus der warmen dicken Flüssigkeit
völlig durchsichtige farblose nadeiförmige Krystalle abgeschieden wer-
den. Wendet man auf I Th. Natrium 10 Th. Alkohol an, so befindet
sich nach Beendigung der Reaction Alles in Lösung oder ist wenigstens
durch Erwärmen leicht in diese zu bringen ; wendet man nur 8 Th.
Alkohol an , so ist schon eine anhaltende Erwärmung nöthig, um dies
zu erreichen und bei noch weniger Alkohol, etwa 6 Th., gelingt es gar
nicht mehr eine völlige Lösung zu erhalten, auch wenn man noch wäh-
rend der Einwirkung für genügende Erwärmung Sorge trägt: es über-
zieht sich das Natrium mit weissen, undurchsichtigen, unkrystalli-
nischen Krusten , welche die weitere Einwirkung sehr verlangsamen.
Dieselben lösen sich leicht, wenn man mehr abs. .Alkohol zufügt und
es erscheinen dann beim Erkalten, wie in den übrigen Fällen blos jene
langen klaren Krystallnadeln. Es hat nicht den Anschein, als ob die j
weissen Krusten und die durchsichtigen Krystalle einerlei Zusammen- '
Setzung hätten.
Um die Vorbindung €2fl^NaO- aus diesem Product der Einwirkung
von Natrium auf abs. Alkohol zu erhalten, genügt es nicht es einer
Temperatur von 100" auszusetzen um sämmtlichen überschüssigen
Alkohol zu entfernen, man muss dieselbe vielmehr bis auf I HO" steigern.
Die zurückbleibende Verbindung erscheint vollkommen unkrystallinisch
und zeigt an vielen Stellen noch die Gestalt der ursprünglich vorhan-
denen Krystalle , die aber nun das Aussehen einer stark verwitterten 1
Substanz besitzen.
üebcr die Ziisainmensetiung der Krystalle von Aetheriiatron. 17
Diese Erscheinung, zusammen mit der schwierigen Verflüchtigung
des Alkohols liess vermuthen , dass (iie zuerst entstehenden farblosen
duiihsichtiiien Krystalle nicht blosses Aethernatron , sondern vielmehr
eine Vorbindung desselben mit Alkohol seien.
Die analytische Untersuchung, welche Herr Dr. Scheitz mit den-
selben vorgenomnien , hat diese Vermuthung bestätigt und für sie die
Zusammensetzung 4^''H>Naü^+ 2€^H"0^ ergeben.
Zu ihrer Darstellung verwandte Herr Dr. Scheitz ein , am einen
Knde zugeschmolzenes, am andern ausgezogenes längeres Glasrohr, in
dem auf STh. absoluten Alkohol I Th. Natrium wirken gelassen wurde.
Nachdem Alles durch Erwärmen in Lösung gegangen war, wurde das
Kohr zugeschmolzen , nach dem Erkalten durch Umdrehen desselben
die Mutterlauge von den Krystallen so viel wie möglich ablaufen ge-
lassen und in dieser Stellung die Spitze abgebrochen und die Mutter-
lauge entfernt. Die Krystalle wurden dann entweder sogleich oder erst
nach raschem Abwaschen mit wasserfreiem Aether, wobei sich freilich
ein grosser Theil löste, aus dem unmittelbar über ihnen abgeschnittenen
Rohr auf Fliesspapier gebracht, damit möglichst rasch und vollkommen
abgepresst und gewogen. Abs. Alkohol löst sie noch leichter als Aether.
7,3297 grm. lieferten nach dem Lösen in Wasser und Neutrali-
siren mit Schwefelsäure 3,1872 grm. neutr. schwefelsaures Natron,
entspr. 1,3916 grm. Natron = 19,0 Proc.
0,6122 grm. der mit Aether gewaschenen Krystalle gaben desgl.
behandelt 0,2657 grm. schwefelsaures Natron entspr. 0,116 grm. oder
19,0 Proc. Natron.
ber. gef.
Gm'^o\ = 23,1 ■ — ' — ■
Naoi = 19,4 19,0 19,0
2€2Hfi02 =57,5 — —
Da die Krystalle im leeren Raum über Schwefelsäure unter Ver-
witterungserscheinungen ihren Alkohol verlieren und zu der Verbindung
^^^H'^NaO^ werden, so wurden zur Reslimmung des ersteren 6,516 grm.
wohlabgepresster Krystalle über Schwefelsäure unter die Luftpumpe
gebracht und während 8 Tagen unter wiederholtem Auspumpen da
belassen. Das Gewicht derselben betrug nach rasch vorgenommener
Wägung noch 3,583 grm., also fand ein Verlust von 2,933 grm. d. h.
45,0 Proc. statt. Sie wurden sofort wieder unter die Luftpumpe ge-
bracht und weitere 8 Tage da gelassen. Ihr Gewicht betrug jetzt:
2,570 grm., der Gesammtverlust demnach 3,946 grm. oder 60,6 Proc.
Nach weiteren 8 Tagen betrug der Gesanmitverlust: 4,046 grm.
oder 62, t Proc. und nach noch weiteren 8 Tagen 4,1685 grm. oder
Band IV. 1. 2
IS A. Geuther, Ueber die Zusammensetzung der Krystalle von Aethernatron.
64,0 Proc. Man sieht, dass der bei den beiden letzten Wägungen er-^
haltene nahezu conslante Verlust gleich ist l,5resp. 1,9 Proc. und
offenbar nicht einem Weggang von Alkohol, der mit den Krystallen
noch in Verbindung gewesen wäre zuzuschreiben ist, sondern durch
den Einfluss der Feuchtigkeit der Luft auf die Substanz, während ihres
Herausnehmens aus der Luftpumpenglocke und Wagens bedingt ist.
Die Substanz hatte nach der zweiten Wägung , bei welcher der Ge-
sammtverlust 60,6 Proc. betrug, bereits allen Alkohol verloren und da
sie schon zweimal gewogen worden war, noch einen weiteren durch-
schnittlichen Verlust von 2 mal 1,7 Proc. erlitten, also in Wirklichkeit
einen Verlust an verbundenem Alkohol von 60,6 Proc. minus 3,4 Proc.
d. h. -57,2 Proc. ergeben. Es stimmt dies Resultat fast genau mit dem
von der obigen Formel verlangten, nämlich 57,5 Proc, überein.
Icher die Eiiinirkiiii<i; Ton einfach salzsaurem Glyeoläther auf
Mononatriiiiiigl} colat.
Von
Dr. E. Scheitz.
Bei derEinwirkung von einfach essigsaurem Glycolätber aufMono-
natnumglycolat erhielt Mohs ') hauptsächlich Digl y colalkohol. Da
die Sauerstoffsäureäther des Glycols sich in mancher Weise aber ab-
weichend verhalten von den Haloidäthern , so war es von Interesse
zu erfahren , ob auch bei dieser Einwirkung dies der Fall sein würde.
Es wurde nach der Methode von Wurtz dargestellter einfach chlor-
wasserstoffsaurer Glycoläther auf in einem Retörtchen bereitetes Mono-
nalriumglycolat gegossen , und der in die Höhe gerichtete Hals des
Gefässes mit einem umgekehrten Kühler Verbunden. Da bei gewöhn-
licher Temperatur keine Einwirkung erfolgte, wurde das Retörtchen
im Oelbad allmählich auf l'iO*' erhitzt. Es entwich ziemlich viel eines
mit blauer Flamme brennenden Gases, dessen Menge bei einer Steige-
rung der Temperatur auf 1 50'^ sich noch vermehrte. Nach Verlauf
einiger Stunden , als kaum noch eine Gasentwicklung im Innern zu
bemerken war, wurde der Retortenhals sammt Kühler geneigt gestellt
und die Temperatur bis 250^ gesteigert. Dabei deslillirte eine gelb-
liche ölige Flüssigkeit. Der Retortenrückstand bestand neben Spuren
einer organischen Substanz und etwas Natron aus Chlornatrium. Das
Destillat bestand aus wenig unter 180" Siedendem, aus viel zwischen
194 und 19()0 Uebergehendem und aus wenig zwischen 235 und 245*^
Destillirondem. Nach mehrmaliger Rectification wurde das zwischen
194 und 19G" und das zwischen 235 und 245" Uebergehende für sich
gesammelt und analysirl.
1) Diese Zeitschrift. Bd. 111. p. 15.
20 Dr. E. Scheitz, Ueber die Einwirkung von einfach salzsaurem Glycolüther etc.
0,1946 grm. des ersteren lieferten 0,2674 grm. Kohlensäure,
entspr. 0,07292 grm. Kohlenstoff = 37,3 Proc. und 0, 1 726 grm. Wasser
entspr. 0,01917 grm. Wasserstoft = 9,9 Proc.
Der bei gleicher Temperatur siedende Glycolalkohol verlangt:
38,7 Proc. Kohlenstoff und 9,7 Proc. Wasserstoff; es war also dem-
nach fast reiner Glycolalkohol.
0,3035 grm. des zweiten lieferten 0,51 1 1 grm. Kohlensäure entspr.
0,1394 grm. Kohlenstoff = 45,9 Proc. und 0,2365 grm. Wasser, entspr.
0,0263 grm. Wasserstoff =8,7 Proc.
Der Diäthylenalkohol, mit dem dieses Product den Siedepunct ge-
mein hat verlangt: 45,3 Proc. Kohlenstoff und 9,4 Proc. Wasserstoff.
Eine grosse Menge der angewandten Glycol Verbindungen war in
jenes mit blauer Flamme brennende Gas, das offenbar nichts anderes
als Aethylenoxyd war, übergeführt worden.
Die Producte der Einwirkung sind hauptsächlich also: Aethylen-
oxyd, und Glycolalkohol und nur sehr wenig Diglycolalkohol. Die Ein-
wirkung verläuft demnach anders als bei der Anwendung von einfach
essigsaurem Glycoläther, wobei als Hauptproduct Diglycolalkohol ent-
steht.
Das Verhalten des einfach essigsauren und einfach chlorwasser-
stoffsauren Glycoläthers zu Mononatriumglycolat ist also analog dem
verschiedenen Verhalten jener Aether zu Kalihydrat.
Die Reaction verläuft nach der Gleichung :
€2fl2| HO „^, ^ <^2JJ2| HOHO _ €2H2| HOHO Q'^) H202 ^ ^ p,
j HO ***'' "*" i HONaO " j HOHO "*" j "*"
Der Diglycolalkohol verdankt seine Entstehung der Einwirkung
von Aethylenoxyd auf Glycol.
Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1836 — 1867, mit
Berücksichtigung der anderen gleichzeitigen Epidemien.
Von
Dr. L. Pfeiffer in Weimar.
Angeietil durch die Untersuchungen Buhl's über den Zusamnien-
hcine; von Typhus mit den Schwjinkungen des Grundwassers in Mün-
cJun , die im Verein n)it den jetzt anerkannten Entdeckungen Petten-
kofer's über die Hilfsursachen für Choleraepidemien der öffentlichen
Gesundheitspflege ganz neue und praktisch vervverthbareGesichtspuncte
liefern, versucht Verfasser in Nachfolgendem die auffallende Typhus-
morbilitiit zu beleuchten, wie diese in den Journalen des Weimarischen
Militärspitales seit 1836 niedergelegt und ihm durch die Güte des Herrn
Oberstilbs- und Regimentsarztes Dr. Hörn in Weimar zugänglich ge-
macht ist. An Stelle der jahrelang fortgeführten Grund wassermessungen
in München , deren schwankender Werth so genauen Schritt hält mit
den Schwankungen der Typhustodesfälle, kann Verfasser nur einige
Anhaltepuncte bieten, die indessen beweisen , dass in der anscheinend
so gesund und hochgelegenen Kaserne zu Weimar eine fortlaufende
Kette von Typhuserkrankungen in ungünstigen Untergrundsverhält-
nissen ihre Ursache hat und dass das zeitweilige epidemische Auftreten
des Typhus daselbst mit Feuchtigkeitsverhältnissen unterhalb der Häuser
in Verbindung stehen muss.
Es findet sich der Typhus (Abdominaltyphus) in Thüringen in sehr
grosser Verbreitung. Ebensowohl die volkreichen Städte an der nörd-
lichen Abdachung des Thüringer Waldes, als Orte im Gebirge selbst
liefern jedes Jahr eine grössere oder kleinere Anzahl von Erkrankungen
und auch der im Westen an den Thüringer Wald sich anschliessende
Gebirgsstock der Rhön hat auf seinem Basaltboden einzelne ganz ver-
heerende Epidemien gehabt.
22 Dr. L. Pfeiffer,
Fortlaufende Ketten von Typhuserkrankungen i) finden sich in
Eisenach (Ackerhof, unterlasse, Fischerstadt), in Gotha (Gegend am
Brühl), in Weimar (Graben, Brühl, Bahnhofslrasse etc.) , in Apolda
(Heidenberg), in Wiehe etc. und giebt die auffallende Localisation der
Cholera von 1806 in denselben Dislricten fast Gewissheit, dass die
Aetiologie dieser beiden Krankheiten sehr viel Gemeinschaftliches haben
muss.
Es ist zur Zeit noch nicht genügendes Material vorhanden, um in
Thüringen die Beziehungen von Typhuslocalitäten zu Cholera einer-
seits und weiter zu Malaria , für welch Letztere ein räumlicher Anta-
gonismus ebenfalls nicht zu bestehen scheint, ins Klare bringen zu
können. Bei der umschriebenen Ve;^'brcitung der Cholera und bei der
kleinen räumlichen Ausdehnung der Malaria in Thüringen ist die hier
angeregte Frage eine mit verhältnissmässig weniger Schwierigkeiten
verknüpfte und findet der neu gegründete ärztliche Verein von Thürin-
gen hier jedenfalls ein dankbares Feld.
Nach beifolgender Uebersicht der Typhuserkrankungen ist die
Vertheilung derselben über die einzelnen Monate des Jahres im Ganzen
eine ziemlich gleichmässige , zumal wenn man die beiden grösseren
Epidemien von 1839 und 1867 in Abrechnung bringt. Von den beiden
grösseren Epidemien fällt eine in den Herbst (mit 64 Erkrankungen),
die andern auf den Winter (21). Die Typhuserkrankungen der Kaserne
stehen in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit gleichen lirkran-
kungen in der auf dem andern Ufer der Um gelegenen Stadt. In den
Jahren 1859 — 66 sind in der Stadt mehrfach gehäufte Erkrankungen
von den Aerzten beobachtet worden und zum Theil von dem ärztlichen
Verein zu Weimar zur Feststellung einer Typhuskarte benutzt worden,
während unter dem Militär dieselben sich nicht über das Durchschnitts-
mittel erheben. Im letzten Jahre (1867) war im Frühjahr die Stadt fast
frei und nur in den, im Rücken der Kaserne liegenden Ortschaften,
Oberweimar und Ehringsdorf, kamen vereinzelte Erkrankungen vor.
Die Durchschnittsanzahl von Typhuserkrankungen beträgt nach
beifolgender Zusammenstellung fast 7, und ist dieses Mittel in dem vor-
liegenden Beobachtungsmaterial von 31 Jahren nur 6 mal überschritten
worden, in den Jahren 1839, 1840, 1841, 1856, 1857 und 1867.
Die Epidemie von 1839 (gewöhnlicher Dienstbestand in der Ka-
serne 5 Compagnien ä öü Mann, mit den Eingezogenen c. 500 Mann),
die stärkste aller beobachteten , fällt zusammen mit der Herbstein-
ziehung. Es erkrankten viele der Neueingezogenen und bestätigt sich
1) Ausführlicheres in : Choleraverhältnisse Thüringens vom Verfasser, Mün-
chen, Oidenbourg 1867.
Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1836—1867 etc.
23
Tab. I.
Uebersicht der Typhuserkrankungen im Militärlazareth zu Weimar
iH;U) — 1807.
u
(0
3
u
,N
^
._j
JS
t4
B
'"*
S
<
^
3
1-5
3
S
u
a
n
a
.Q
e
i
o t-
o
>
Sa. ;
> o
« 'S
o
o
0)
O
^
Q
1
1
n I K
12 H
4
7
16 11
25
24
40
28
22 3
1
1
64
8
16
7
4
1
4
3
2
5
1
5
7
7
12
11
5
2
5
3
1
2
3
6
3
21
213
Mit Ausnahme der beiden grösseren Epidemien von
1839 und 1867 verlheilen sich die übrigen 128 Er-
krankungen von 28 Jahren folgendermaassen ;
6 110,10,14
23 16 MO 9
128
I ^
2
30
756
646
698
637
842
902
972
888
1048
744
1018
974
1118
748
1042
1457
1659
1442
?
24 Dr. L. Pfeiffer,
die Thatsache, dass Umzug vom Land in die Stadt [d. h. engere Wohn-
räume, mehr Aufenthall in schlechter Luft etc.) die Disposition steigert.
Specielle Ursachen ausser den in früherer Zeit sehr beschränkten
Wohnungsverhaltnissen können nicht angegeben werden.
Für die zvveilstärkste Epidemie (gewöhnlicher Dienstbestand 700
Mann) des Jahres \ 867 lässt sich eine derartige Schädlichkeit nicht an-
führen und muss, da in den letzten 10 .Jahren sowohl die Wohnungs-
ais auch die Nahrungsverhältnisse der Soldaten bedeutend verbessert
wurden , eine Ursache dieser plötzlichen Zunahme nur in Einflüssen
gesucht werden, die ausserhalb der socialen Beziehungen stehen müssen.
Die schlossähnliche Kaserne liegt weit hin sichtbar an dem Rande
eines Plateaus, c. 1 50 Fuss über dem Spiegel der nahe vorüberfliessen-
den Um und c. 800 Fuss über dem Meere. Nach der Um und nach der
jenseits derselben liegenden Stadt zu fällt das Terrain ziemlich steil
ab, weniger steil nach SO, nach Qberweimar zu. Nach 0. dehnt sich
das Plateau , einzelne Terrainfalten abgerechnet , weit aus , mit zahl-
reichen und starken Quellen in den Terrainfalten (Papierbach von Ober-
weimar, Quelle im Park, Quelle im Rebhühnerpark auf den sogenannten
90 Aeckern und nach starkem Regen auf den Aeckern nach N. von der
Kaserne, auf der »Grossmutter« und im W^ebicht).
Den geologischen Untergrund dieses Plateaus bilden theilvveis
dünne Muschelkalkbänke, die in bröcklichen unregelmässigen Schichten
mit Letten abwechseln. Der grösste Theil aber besteht aus Alluvionen,
wie sie sich jenseits der lim nach dem Gottesacker zu (Vorwerksgasse)
finden (Lehm) und aus KiesgeröUen , wie sie bei Süssenborn über 80
Fuss hoch zu Tage liegen.
Die Kaserne mit den Nebengebäuden liegt in einer der oben ge-
schilderten wasserreichen Terrainfalten des Plateaus und finden sich zu
beiden Seiten der ganzen Wilhelmsallee zahlreiche Brunnen. Die jetzige,
im Jahre 1855 neu erbaute Kaserne ist zum Theil aus den dünnen
Muschelkalkplatten gebaut, die unter dem östlichen Flügel des Ge-
bäudes selbst gebrochen wurden. Der westliche Flügel steht auf Geröll
und »Knatz« (Keuperletten ?) und hat sich nach der Vollendung des Baues
so gesenkt, dass das Gebäude in der Mitte starke Risse bekommen hat.
Die Abtrittsgrube befindet sich am östlichen Flügel in dem früheren
Steinbruche angelegt. Die frühere Kaserne n)it sehr ungünstigen Räum-
lichkeiten befand sich in dem jetzt zum Lazarelh eingerichteten Ge-
bäude und steht dasselbe wahrscheinlich ganz auf Alluvium. Die
Brunnen am Kasernenberge haben eine wechselnde Tiefe von 18 — 26 —
30 Fuss und variiren im Wasserstand bedeutend.
Der Einfluss socialer Missstände lässt sich in Bezug auf den Aus-
Der Typhus in der Kaserne 7,11 Weimar von 1836 — 1867 efc. 25
hruih von Typhusepitlemien heim Militär leichter übersehen, als bei
der Civilbevölkernng. Es giebt die Kaserne zu Weimar den Beleg, dass
ohne sociales Elend (Simon) doch Epidemien entstehen können und ist
das sociale Elend als ätiologisches Moment überhaupt ein Factor, der
sich zu allen Zeiten auch unter einer relativ gesunden Bevölkerung in
grösseren und kleineren Orten jederzeit nachweisen lässl. Wenn man
auch (l(M' früheren Kaserne zu Weimar den Vorwurf machen konnte,
dass sie ültervölkert wai", so trifft dies doch kaum die jetzige Kaserne,
tlie luflig gelegen, nicht durch Mauei'n eingeengt ist, in welcher den
Bewohnern eine ausreichende Kost verabreicht und in welcher dienst-
lich auf Beinlichkeit der Räume und der Bewohner gesehen wird. Un-
günstige Eintlüsse von Seiten der Beschäftigung der Soldaten können
nicht stark prädisponirend eingewirkt haben, da bei ziemlich gleich-
massiger Beschäftigung in 30 Jahren nur 6 mal eine stärkere Typhus-
morhilität vorkam.
Zur Eiklärung der Exacerbationen des Typhus bedarf es, wie-
Bi'HL sagt, einer Ursache im grossen Styl, die, wie sie für München in
den Schwankungen des Grundwassers sicher nachgewiesen und be-
lechnet'j, auch für die frühere und jetzige Kaserne zu Weimar vor-
handen ist.
Die dem Militär zugehörigen Baulichkeiten stehen (mit Einschluss
des östlichen Hügels der neuen Kaserne) auf einem porösen, für Luft
und Wasser durchgängigen Untergrund, der bei c. 25 Fuss Grund-
wasser führt.
Das Grundwasser unterliegt bedeutenden Schwankungen, wie
der schwankende Wasserstand der Pumpbrunnen daselbst beweist.
Der Wasserstand war im Herbst 1866 so hoch, dass nach N von der
Kaserne auf den c. 200 Fuss entfernten Aeckein eine Quelle zu Tage
trat. Im Februar 1867 hatte der Brunnen vor dem Lazareth auffallend
wenig Wasser, war am ganzen Kasernenberg Wassermangel, der erst
im März und April sich wieder ausgeglichen hatte. Es trifft somit die
T\pliusepidemie vom Wintei" 1867 mit einem tiefen Stand des Grund-
wassers zusammen um! scheint auch das Erlöschen mit dem Steigen
desselben in Beziehung zu stehen.
Aehnliche Verhältnisse constatirte der ärztliche Verein für die im
Frühjahr 1866 in dem Typhusbezirk von Weimar (Brühl, Wagnergasse,
Töpfergasse, Kirchgassen etc. i auffallend spät eingetretenen Erkran-
kungen. Es ging dieser Epidemie ein starkes Fallen des Grundwassers
in jenen Stadttheilen voraus.
\j Seidel, Zeitschrift für Biologie, Bd. I.
26 Dr- L« l'leiffer,
Verschiedene kleinere Epidemien , die Verfasser im Sommer und
Herbst 1865 in der Umgebung von Eisenach im Anschluss an die
Epidemie von Meningitis des Winters (ii/65 •) zu beobachten Gelegen-
heit hatte, treffen ebenfalls mit einem Eingehen der dort allein vorhan-
denen Pumpbrunnen zusammen. Zumal in dem Dorfe Uetterode war
ein solch unerhörter Wassermangel und eine so starke Typhusepidemie,
wie sich kein Einwohner eines Gleichen erinnern konnte.
Die liauptpuncte des von Buhl aufgefundenen Zusammengehens
von Grundwasserschwankungen und Typhusmorbilität finden sich
demnach im Untergrund der Kaserne. — Die von dem ärztlichen Verein
zu Weimar schon längst angeregten ständigen Grundwassermessungen
werden voraussichtlich eine Bestätigung der anderweitigen interessanten
directen beiderseitigen Abhängigkeit, eine Bestätigung des Gesetzes,
ergeben :
dass die Dauer und Baschheit der auf- oder abwärtsgehenden
Bewegung des Grundwassers das Maass enthält für die In- und
Extensität des Typhus, d. h.
dass plötzliches tiefes Zurückgehen des Grundwassers z. B. eine
starke Epidemie mit stärkster Mortalität im Beginn derselben
vorhersagen lässt.
Es finden wahrscheinlich die für das Auftreten und die Verbreitung
der Cholera jetzt anerkannten Grundsätze auch hier ihre Anwendung,
muss'für epidemische Verbreitung des Typhus eine Regeneration des
Contagiums, das auch hier in den Entleerungen zu suchen ist, im Bo-
den statt haben und ist der dazu günstige Zustand des Bodens vorhan-
den, wenn beim Zurückgehen des Grundwassers durch die nachfolgende
Luft die im Boden deponirten Abtriltsstoffe in Fäulniss übergehen.
Durch die schon jahrelange Anhäufung von Soldaten auf dem
oben als porös geschilderten Boden ist die Imprägnation desselben mit
durch das Grundwasser gelösten excrementiellen Stoffen auf jeden Fall
eine sehr bedeutende.
Die Lage der Senkgrube, an einer höhern Stelle des Terrains nach
0. von der Kaserne , muss ein Sickern derselben unter der Kaserne
hinweg nach dem Abhänge des Plateaus zu veranlassen.
Eine verhältnissmässig starke Fäulnissentwickelung beim Zurück-
gehen des Grundwassers wird die natürliche Folge sein und findet dies
eine Bestätigung darin, dass mehrere Brunnen jedesmal beim Beginn
von Typhusepidemien mussten geschlossen werden wegen jauchiger
4) Diese Zeitschrift. Bd. II. 1865.
Der Tjpliiis in di'r Kaserne i\\ Weimar von 1830—1867 etc. 27
Beschaflenheit des Wassers. Auch nach Gebrauch anderen, guten
Wassers sind dann noch fortgesetzte Erkrankungen vorgekommen.
Die immer noch in Frage gestellte Gontagiositiit des Abdominal-
typhus können wir durch Beispiele nicht erhärten. Der persönliche
Veikehr ist in einer Kas(Mne viel zai vervvickellj, als dass sich für der-
artige Untersuchungen Anhaltspuncte finden liessen. Die in der Poli-
klinik zu Jena dui'chLoTUOLz (Inauguraldissertation) zusanunengestellten
Beobachtungen über das Incubalionsstadium des Abdominaltyphus
(18 — 28 Tage!) bestätigen den von Griesinger aufgestellten Satz, dass
eine Ansteckung von Seiten Typhuskranker erfolgt. Die sehr einfachen
Verhältnisse der verschiedenen kleinen, jenen Beobachtungen zu Grunde
liegenden I^pidemien in wenig bevölkerten Orten finden sich so selten,
dass diesen Beobachtungen ein doppelter Werth beigelegt werden muss.
Für die Erklärung der auffallenden Thatsache, dass seit 31 Jahren
der Typhus eigentlich nie in der Kaserne erloschen ist, braucht aber
nicht einmal eine öfter erneuerte Ansteckung von Einwohnern der
Kaserne, oder eine öftere Importation von Typhuscontagium angenom-
men zu werden.
Die Tenacität des Typhuscontagiums ist eine ungeheure. In der
Erlanger Klinik erkrankten 3 Jahre lang alle Kranken am Typhus, die
in ein Zimmer gelegt w urden , in dem vor Jahren Typhuskranke ge-
legen hatten und kann die hier 30 Jahre lang zu verfolgende Reihe
von Typhusfällen auf die Tenacität des Gontagiums bezogen werden,
welches event. jedes Zurückgehen des Grundwassers zu neuer, aus-
gedehnterer Regeneration benutzt.
In directem Anschluss an die Typhuserkrankungen im Februar
und März 1867 kamen im Militärlazareth zahlreiche Wechselfieber-
erkrankungen zur Beobachtung, von denen es anfangs zweifelhaft war,
ob dieselben nicht gleichen ätiologischen Ursprunges mit der voraus-
gegangenen Epidemie seien. Vereinzelte oder auch mehrfache Wechsel-
fiebererkrankungen kommen alljährlich vor,
1840. 1842. 1844. 1846. 1847. 1848. 1849. 1851. 1853.
1.
1854.
1.
1855.
1.
1856.
1.
1858.
2.
1859.
7.
1860.
72.
1862.
3.
1863.
5.
1865.
8.
1 866.
7.
1867.
5.
3.
2.
1.
6.
5.
1.
3. 12.
Doch sind die Erkrankten meist Recruten aus den Dörfern im
Rieth der Gera und der ünstrut, oder solche, die auf der Wanderschaft
Fieberorte besuchten. So kommen z. B. von den 7 Wechselfieber-
kranken des Jahres 1855
28 Dr- L- Pfeiffer,
2 auf Allstedt.
2 - Kalbsrieth.
1 - Wolferstedt.
1 - Niederpöllnitz.
1 - Heigendorf.
Nur die gehäuften Erkrankungen im .lahre 1849 und 1867 Hessen
sich nicht auf so einfache Weise erklären, zumal 1867 ein so directer
Änschluss an die eben so unerwartete Typhusepidemie statt hatte:
[Februar 10. 21. 22. 23. 27. 27. 27.
Typhus 1867 März 2. 3. 3. i. 5. 5. 5. 8. 8. 12. 15. 25.
(April 3. 13.
fApril 8. 12. 18. 21.
Wechselfieber 1867 JMai 14. 18. 18. 20. 23. 29.
Juni 12. 20.
Auffallend war, dass unter den Wechselfieberkranken sich nur
Soldaten des I. Bataillons befanden , welche im August 1 866 in Rastatt
in Kasematten (Friedrichsfeste) gelegen hatten und dass vom II. und
III. Weimarischen Bataillon mit Quartieren in Ulm kein Einziger er-
krankte. An eine Infection in Weimar war, da die Soldaten des 111.
Bataillons in derselben Kaserne und unter sonst gleichen Verhältnissen
sich befinden , nicht zu denken und muss demnach trotz des langen
Incubationsstadiums von 6 Monaten die Infection auf die Friedrichsfeste
in Rastatt bezogen werden.
Räthselhaft würde diese Epidemie geblieben sein, wenn nicht be-
reits für die massenhaften Wechselfiebererkrankungen des Jahres 1849
sich ähnliche ätiologische Beziehungen hätten finden lassen. Im August
und September 1848 war das Weimarische Militär in der Stärke von
1000 Mann nach Schleswig ausgerückt mit Quartieren in und in der
Nähe von Flensburg. Bereits auf dem Heimwege erkrankten einzelne
am Wechselfieber, aber erst im Frühjahr 1849, also ebenfalls wieder
nach einer fast 6monatlichen Latenz , kam es zu den massenhaften Er-
krankungen unter dem damals geringen Dienstbestand und viele
mittlerweile Entlassene überstanden ihre Krankheit in der Heimath.
Zahlreichere Typhuserkrankungen kamen damals nach Tab. I nicht
vor. Man kann die Salubritätsverhältnisse der Kaserne nicht beschul-
digen, dass gerade durch sie eine frühere Infection zur Perfection ge-
kommen sei.
Die andervveiten im Militärlazareth beobachteten epidemischen
Krankheitsformen haben wegen der geringen Zahl der vorgekommenen
Fälle nur untergeordnetes Interesse. Die beigegebene Tabelle II. giebt
Der Typhus in der Kaserne zn Weimar von 183G— 1867 etc.
29
Tab. II.
Im Jahre
Januar bis April bis
März Juni
Juli bis
September
Uctober bis
December
Summa
1836
Varioloiden 2
Varioloiden 2
Varioloid. 14
Varioloiden 1
Varioloiden 19
1840
'
Parotidis 8
Parotidis 8
1842
Varioloiden 1
Varioloiden 4
Varioloiden 5
1844
Varioloiden 2
Varioloiden 2
1
1845
1
Parotidis 4
Erysipelas 2
Erysipelas 1
Parotidis 4
Erysipelas 3
1847
Morbillen 2
Morbillen 2
1
1848
Morbillen 3
Varioloiden 1
Varioloiden 1
Morbillen 3
1849
Parotidis 1
Morbillen 3
Varioloiden 7
Erysipelas 2
Varioloiden 3
Varioloiden 9
Varioloiden 19
Parotidis 1
Erysipelas 2
MorbiHen 3
1
1830
Erysipelas 3
Varioloiden 1
Parotidis 1
Erysipelas 2
Erysipelas 4
Varioloiden 1
Erysipelas 2
Influenza 1
Varioloiden 2
Parotidis 1
Erysipelas 11
1851
Influenza 3
Erysipelas 1
Parotidis 1
Erysipelas 3
Parotidis 1
Erysipelas 4
Influenza 4
1852
Erysipelas 3
Erysipelas 1
Erysipelas 4
1
1853
Erysipelas 4
Erysipelas 7
Parotidis 14
Erysipelas 7
Parotidis 14
Erysipelas 18
1854
Varioloiden 2
Varioloiden 2
Erysipelas 5
Erysipelas 12
Erysipelas 1
Varioloiden 4
Erysipelas 18
1855
Varioloiden 1
Parotidis 1
Erysipelas 2
Varioloiden 1
Erysipelas 10
Influenza 3
Erysipelas 3
Influenza 3
Influenza 2
Varioloiden 2
Parotidis 1
Erysipelas 15
Influenza 8
^gMg ' 1 Varioloiden 3
Erysipelas 3 ' Erysipelas 5
Erysipelas 4
Erysipelas 1
Varioloiden 3
Erysipelas 13
1857 j
Erysipelas 3
Erysipelas 8
Morbillen 3
Varioloiden 3
Erysipelas 4
Morbillen 1
Erysipelas 2
Varioloiden 3
Erysipelas 17
Morbillen 4
30
Dr. L. Pfeiffer,
Fortsetzung von Tab. II.
Im Jahre
Januar bis
März
April bis
Juni
Juli bis
September
October bis
December
Summa
1858
Scarlatina 1
Erysipelas 4
Scarlatina 1
Erysipelas 5
Morbillen 1
Varioloiden 2
Erysipelas 4
Varioloiden 2
Erysipelas 9
Scarlatina und
Morbillen 3
1859 i
Varioloiden2
Parotidis 1
Varioloiden 2
Parotidis 4
Erysipelas 8
Parotidis 2
Erysipelas 4
Varioloiden 4
Parotidis 7
Erysipelas 16
1
1860
Erysipelas 2
Erysipelas 5
Erysipelas 3
Erysipelas 10
!
1861
Morbillen 3
Erysipelas 5
Erysipelas 1
Erysipelas 6
Morbillen 3
1862
Erysipelas 7
Erysipelas 3
Erysipelas 10
1863
Erysipelas 2
Erysipelas 5
Varioloiden 2
Erysipelas 5
Varioloiden 6
Erysipelas 2
Influenza 12
Varioloiden 8
Erysipelas 14
Influenza 12
1864
Varioloiden 2
Erysipelas 1
Erysipelas 3
Erysipelas 3
Erysipelas 2
Varioloiden 2
Erysipelas 9
1865
Parotidis 3
Erysipelas 2
Erysipelas 3
Erysipelas 5
Erysipelas 2
Parotidis 3
Erysipelas 12
1866
Parotidis 3
Erysipelas 3
Morbillen 10
Scarlatina 1
Erysipelas 3
Erysipelas 3
Erysipelas 1
Cholera 2
Cholerine 4
Parotidis 3
Erysipelas 10
Morbillen 10
Scarlatina 1
Cholera i „
Cholerinej
1867
Erysipelas 2
Diphtheri-
tis 14
Erysipelas 2
Summa
ohne
1867
Varioloid. 10
Parotidis 13
Erysipelas 2 3
Morbillen 21
Scarlatina 2
Influenza 3
72"
Varioloid 22
Parotidis 5
Erysipelas 85
Morbillen 3
Scarlatina 1
Influenza 3
ll¥
Varioloid 25
Parotidis 17
Erysipelas 72
Morbillen 2
Scarlatina —
Influenza 3
U9
Varioloid. 19
Parotidis 8
Erysipelas 21
Morbillen —
Scarlatina —
Inlluenza 15
63
Varioloiden 76
Parotidis 43
Erysipelas 201
Morbillen 26
Scarlatina 3
Influenza 24 (?)
373.
Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1836—1867 etc. 31
eine Uebersicht der in den 30 Jahren notirliMi Falle von Erysipelas,
Varioloiden , Morbillen , Searlalina , Parotidis und Influenza. Leider ist
die Diphtheritis in den Krankcnropports niciit bonlcksichligl.
Die Uebersicht zeigt eine forllaufende Anzahl von Ei\.sipelasfällen
(mit Ausschluss von' Lymphangitis und Phlegmone) durch eine lange
Reihe von Jahren , die im Durchschnitt mein- auf die uiirmeie Jahres-
zeit fallen und die häulig sporadisch, in n)anchen Jahi-en aber auch in
grösserer Anzahl mit acuten Exanthemen zusammen vorkommen. Bös-
artige Formen sind kaum zur Beobachtung gekommen. So nach der
Typhusepidemie von 1867 ein Fall, in dem fast t Quadratfuss ßauch-
wand mit einem grossen Theil des Zellgewebes am Scrotum und Penis
brandig ausgestossen wurde , und der in Heilung ausging.
Kleinere Epidemien von Parotidis sind verhiiltnissmässig häufig
zur Beobachtung gekommen, doch lasst sich hier ebenso wenig wie für
die Fälle von Rothlauf irgend ein äusseres ätiologisches Moment geltend
machen. Meist findet sich die Parotidis vor oder nach oder auch gleich-
zeitig mit acuten Exanthemen, und im Ganzeii ziemlich gleichmässig
über das ganze Jahr vertheilt.
Parotidis wurde beobachtet
Blattern 1850, 1855, 1859.
Erysipelas 1853, 1859, 1866.
Gleichzeitig mit .llnfluenza 1851.
Masern 1866.
Scharlach 1866.
^ , iRothlauf 1853.
Vorausgehend vor ), ,^^,
'^ (Blattern 1864.
XT LT 1 j c (Blattern 1849.
Nachioleend aui ' ., <..^,„
^ (Rothlauf 1865.
, ,. (1845.
^''^''' fl840 (Typhus).
Halsentzündungen kamen durchschnittlich 30 — 40 in jedem Jahre
in Behandlung; Ausnahmsweise stark vertreten in den letzten Jahren
1860. 1861. 186^ . 1863. 1864. 1865. 1866.
~^3(K 3 y! W. 40^ Ü 5. 1 1 6. 89^
jedoch ist nicht mehr nachzukommen, w ie sehr diphtheritische Processe
hierbei betheiligt sind (die in neuerer Zeit entschieden häufig vor-
kommen).
Lediglich der Vollständigkeit wegen sei noch angeführt, dass jähr-
lich 2 — 5 bis höchstens 1 1 Lungenentzündungen vorkamen.
32 Dr. !'• Pfcitfer, Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1836—1867 etc.
Acute Gelenkrheumatismen durchschnittlich 1 — 2 — 3 in jedem
Jahr.
Nagelgeschwüre durchschnittlich 33, Minimum 12, Maximum 63.
Muskelrheumatismen in folgender Vertheilung :
1849. 1850. 1851. 1852. 1853. 1854. 1855. 1856. 1857.
40. 55. 60. 85. 61. 61. 78. 46. 5'(.
1858. 1859. 1860. 1861. 1862. 1863. 1864. 1865. 1866.
36. 100. 101. 93. 63. 120. 164. 180. 131.
wobei zu berücksichtigen ist, dass der Dienstbestand der letzten Jahre
fast das Doppelte ist von z. B. dem des Jahres 1839.
Teber einige Tlialliiiniverbiiidiiugeii und die Stellung dieses
Metallü» im S^steni^
von Dr. H. Plemming.
Die im Folgenden mitgetheilten Untersuchungen über das Thallium
wurden von mir auf Veranlassung des Herrn Dr. Sonnenschein in Berlin
in dessen Laboratorium begonnen und im Laboratorium des Herrn Pro-
fessor Dv. Geuthür in Jena zu Ende geführt.
Dieselben sollten sich nur auf die Darstellung und Untersuchung
etwaiger Verbindungen des Thalliumoxyduls mit Molybdänsäure, Wolf-
ramsaure und Arsensaure, sowie auf das Studium der Einwirkung von
trocknem Anunoniakgas auf metallisches Thallium beschränken. Nach-
dem ich schon längere Zeit mit den einleitenden Arbeiten beschäftigt
war, kam mir erst eine Abhandlung »On the combinations of Thallium,
Inaugurai-Dissertation at the Georgia-Augusta University by Phil. Jos.
ÜETTiNciER« zu Gcsicht , iu welcher ein Theil der von mir beabsichtigten
Untersuchungen schon enthalten war. Da Oettinger indess die von ihm
erhaltenen Salze auf ihren Wassergehalt zu untersuchen versäumt hatte,
so habe ich geglaubt, die beabsichtigte Untersuchung nicht unterlassen
zu dürfen.
Verbindungen des Thalliumoxyduls mit Wolframsäure.
Oettinger erhielt, als er wolframsaures Natron zu salpetersaurem
Thalliumoxydul goss, einen weissen in Wasser unlöslichen Niederschlag,
für den er nur ;mf Grund einer Wolframsäurebestimmung die Formel:
TIO 2 WoO^ HO aufstellte. —
Fügt man wolframsaure Alkalien zu nicht zu verdünnten Lösungen
der Thalliumoxydul-Salze, so erhält man weisse amorphe Niederschläge.
Dagegen entstehen, wenn beide Lösungen kochend und stark verdünnt
zusammengebracht werden, in der erkaltenden Flüssigkeit stark licht-
brechende Krystallblättchen, welche unter dem Mikroskop die Form sechs-
seitiger Tafeln zeigen, ohne jede Abscheidung amorphen Salzes. Ob
Band. IV. 1. 3
34 H. Flemmino,
die Krystalle dem rhombischen oder hexagonalen System angehören,
wage ich nicht zu Entscheiden.
Man erhält die nämlichen Krystalle, wenn man Wolframsäure län-
gere Zeil mit kohlensaurem Thalliumoxydul kocht und heiss filtrirt.
Ich habe den weissen amorphen Niederschlag durch Zusammen-
giessen kalter nicht zu verdünnter Lösungen von kohlensaurem Thal-
liumoxydul und NaO. WoO^. 2 HO dargestellt und analysirt. Derselbe
erleidet, wenn lufttrocken angewandt, ^^eder nach 3tägigetn Trocknen
über Schwefelsäure, noch nach 12 stündigem desgleichen bei 100" C,
noch nach (i stündigem bei 150" C. irgend welchen Gewichtsverlust.
Er ist also wirklich wasserfrei. In kohlensaurem Natron löst er sich
beim Kochen; bein) Erkalten der Lösung entstanden die erwähnten
Krystalle. Zur Analyse wurde die Substanz durch kohlensaures Natron
in Lösung gebracht , das Thallium durch lodkalium gefällt i), abfiltrirt
und nach dem Trocknen bei lOO" C. gewogen. Das Filtrat wurde mit
salpetersaurem Quecksilberoxydul vollkommen ausgefällt und der Nie-
derschlag von wolframsaurem Quecksilberoxydul und lodquecksilber
vorsichtig geglüht.
1,125 grm. Substanz gaben 1,034 grm. Tl J, entsprechend 0,6622
grm. TIO = öH.H Procent und 0,4645 grm. WoO=^ = 41,2 Procent.
Es entsprechen diese Zahlen allerdings nicht einem neutralen Salz,
aber auch nicht einem sauren; sie kommen am Nächsten der Formel:
4 TIO, 5 Wo0^2j
Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass das Mehr an Wolfram-
säure bloss neutralem, rasch und deshalb amorph ausgeschiedenem Salz
beieemenot sei.
1; Dies geschah immer nach der von Willm*) gegebenen Vorschrift. Der-
selbe räthdas Thallium in einem vorher gut gereinigten offnen Gefäss in der Kälte zu
fallen, da sich dasselbe leicht an die Wandungen des Glases ansetze, 10—12 Stun-
den absetzen zu lassen, einmal zu decantiren und den Niederschlag mit einer klei-
nen Quantität Wasser, welches man vorher mit ein paar Tropfen lodkaliumlösung
versetzt hat, aufs Filter zu bringen und abtropfen zu lassen. Dann wird mit reinem
Wasser ausgewaschen, so lange, bis die oberste Schicht des Filtrals anfängt, sich
zu trüben. Das Filter muss bei lOO^C. getrocknet und gewogen sein und man
wiederholt diese Operation, nachdem man das lodthallium darauf gesammelt hat.
— Die Resultate sind, wie ich bestätigen kann, sehr genau.
*) Recherches surle Thallium, These presentee äla Facultc des Sciences de Paris,
par M. J. Ediiond Willm, Paris, 1865 vollst, abgedr Annales de Chim. et de Phys.
4, V, p. 5—103.
2) Das .\equivalent des Thalliums habe ich hier, wie bei allen meinen Analysen
mit Lamy zu 204 angenommen.
üeber einige Thalliumverbiudungeii und die Stellung dieses Metalls im System. 35
bei'. gef.
4T10 59,4... 58,8
5 WoO^ 40,6 ... 41,2
roo
Krystallisirtes wolframsaures Thalliumoxydul erhielt ich durch Ver-
mischen kochend heisser, stark verdünnter Lösungen von kohlensaurem
Thalliumoxydul mit NaO. WoO^. 2 HO und Abfiltriren der, in der er-
kaltenden Flüssigkeit schnell entstehenden Kryslalle. Es verliert beim
Trocknen etwas an Glanz und Lichlbrechungsvermögen , erleidet aber,
nachdem es lufttrocken geworden ist, weder beim Trocknen über Schwe-
felsäure, noch bei 100, noch bei loO^ C. irgend welchen Gewichtsver-
lust. Es ist also auch wasserfrei.
Zur Analyse wurde das Salz gleichfalls in kohlensaurem Natron ge-
löst, das Thallium als lodthallium gefallt und gewogen , das Filtrat hie-
rauf unter Zusatz von Salzsäure eingetrocknet, die dabei theilweise
reducirle Wolfram sä uie durch einige Tropfen Salpetersäure wieder oxy-
dirt, Wasser zugefügt, die zurückbleibende Wolframsänre abfiltrirt und
mit Salmiak haltigem Wasser ausgewaschen , getrocknet , geglüht und
gewogen
Ein anderes Mal habe ich krystallisirtes wolframsaures Thallium-
oxydul , durch Kochen von Wolframsäure mit kohlensaurem Thallium-
oxydul dargestellt; in der heiss abfiltrirten Lösung scheiden sich die
Kryslalle rasch aus. Das Salz wurde ganz wie das vorhergehende ana-
lysirt.
L Salz durch Umsetzung mit NaO. WoO^. 2 HO erhalten:
4,9325 grm. gaben: 0,631 grm. WoO^ *) = 32,6 Procent und:
1,945 grm. TU, entsprechend 1,246 grm. TIC = 64,5 Procent.
H. Salz beim Kochen mit WoO^ erhalten:
0,8135 grm. Substanz lieferten: 0,8205 grm. TU, entsprechend
0,5255 grm. TIO = 64,5 Procent; ferner 0,290 grm. WoO^ = 35,6
Procent.
Demnach ist das Salz neutrales wolframsaures Thalliumoxydul,
ber. gef.
TIO 64,5 . 64,5 . 64,5
WoO^ 35,5 . (32,6) . 35,6
100
1) Bei dieser Wolframsäure-Bestimmung ging Etwas verloren.
3*
36 H. Flemming,
Ich habe auch versucht ein saures wolframsaures Salz des Thallium-
oxydurs zu erhalten dadurch , dass ich eine verdünnte heisse Lösung
von kohlensaurem Thalliumoxydul mit einer desgleichen von saurem
wolframsaurem Natron versetzte. Bei geringem Zusatz bilden sich wäh-
rend des Erkaltens die mehrfach beschriebenen Krystalle, bei grösse-
rem Zusatz entsteht eine Trübung der Flüssigkeit, und, wenn man noch
einige Zeit kocht, scheidet sich am Boden gelblich grüne Wolframsäure,
untermischt mit amorphem Salz aus. Die hierbei entstehenden Kry-
stalle waren anfangs klar und durchsichtig, aber nach Verlauf von 24
Stunden waren sie trüb und undurchsichtig geworden. Da sie sich
durch Abschlämmen von dem amorphen Niederschlag gut trennen
lassen , habe ich auch von ihnen eine Thallium-Bestimmung gemacht.
Sie sind darnach gleichfalls neutrales Salz.
1,7515 grm. des krystallisirten Salzes gaben : 1,7(i45 grm. Tl.T,
entsprechend 1,1301 grm. Tl = 64,5 Procent.
Verbindungen des Thal 1 iumox yd ul s mit Mol yb da n säure.
Giesst man eine heisse stark verdünnte Lösung von NaO. MoO^.
iüO mit einer gleichfalls heissen und stark verdünnten Lösung von
kohlensaurem Thalliumoxydul zusammen , so scheiden sich beiu) Er-
kalten der Flüssigkeit Krystallflitter aus, die unter dem Mikroskop ganz
dieselbe Form und ein gleich ausgezeichnetes Lichtbrechungsverniögen
zeigen, als die schon beschriebenen Krystalle des neutralen wolfi'am-
sauren Salzes. Sie scheinen im Wasser noch schwerer löslich zu sein,
als jene; durch kohlensture Alkalien werden sie gleichfalls gelöst und
bei genügender Conccnlration beim Erkalten wieder erhalten.
Zur Analyse wurde die lufttrockne Substanz verwandt; sie erlitt
sowohl über Schwefelsäure, als bei 100, als bei 150^*0. keinen Ge-
wichtsverlust. Das Salz war also ebenfalls wasserfrei". — Nach dem
Lösen in kohlensaurem Natron wurde das Thallium durch lodkalium
ausgefällt.
1,0593 grm. des getrockneten Salzes gaben: 1,230 grm. TU,
entsprechend 0,787S grm. T10 = 7i,4 Procent.
Demnach ist das Salz neutrales molybdänsaures Thalliumoxydul.
ber. gef.
TIO 74,6 . . 74,4
MoO^ 25,4 . . —
iTo
Diese Krystalle kann man auch durch Kochen von Molybdänsäure
üeber einige Tlialliumverbindiingeii und die Slelluun diesi'S Metalls im System. 37
mit einer Lösung von kohlensaurem Thalliumoxydul erhalten; filtrirt
man letztere noch heiss von der ungelöst gebliebenen Molybdänsäure
ab, so erscheinen dieselben beim Erkalten im Filtrat.
Fügt man eine heisse und stark verdünnte Lösung von zweifach
molybdünsaurem Natron — erhallen durch Zusammenschmelzen von
1 Mischungsgewicht NaO. CO^ mit 2 desgleichen MoO'* — zu einer
heissen, stark verdünnten Lösung von kohlensaurem Thalliumoxydul,
so entsteht anfänglich kein Niederschlag, aber bei weiterem Zusatz des
molybdänsauren Natron entsteht ein, durch die ganze Flüssigkeit ver-
breitetes, voluminöses, weisses Präcipitat, welches mit wenigen com-
pacteren Krystallen vermengt ist. Es setzt sich sehr langsam ab; die
unterste und schwerste Schichte zeigt eine gelbliche Farbe. In einer
hinreichenden Menge siedenden Wassers löst es sich wieder auf; fügt
man dazu von Neuem molybdänsaures Natron, so entsteht nach einigem
Koi hen ein gelber, schnell zu Boden sinkender Niederschlag. Wird
dieser, nach dem Ausw^aschen mit Ammoniak behandelt , so verliert er
seine gelbe Farbe , es bleibt eine weisse Masse zurück und in der
Flüssigkeit findet sich Thallium und Molybdänsäure. Eine qualitative
Analyse dieses gelben SalzeSjWelche angestellt wurde, um zu entscheiden,
ob dasselbe vielleicht ein Doppelsalz von TIO. MoO'^ und NaO. MoO'
sei, ergab die Abwesenheit von Natrium.
Das sich zueist abscheidende und schwer absetzende Präcipitat,
welches sowohl von gelbem , als auch von krystallisirtem Salze leicht
durch Schlämmen getrennt werden kann, wurde über Schwefelsäure
getrocknet und analysirt. Es konnte ohne Gewichtsverlust bis 150" C.
erhitzt werden und ist also wasserfrei.
1,04225 grm. lieferten 1,1075 T1.I, entsprechend 0,7098 TIO =
68,5 Procent.
DasVerhältniss des Thalliumoxydul's zur Molybdänsäure berechnet
sich danach wie 8:11 oder '1 : '6^.^. Es ist wohl möglich, dass dasselbe
ein Gemenge amorphen neutralen Salzes mit freier Molybdänsäure ist. —
Das vorher erwähnte gelbe Salz verliert, wenn es lufttrocken ist,
weder über Schwefelsäure, noch bei 100 resp. ISO^C. an Gewicht.
0,7ri75 desselben gaben: 0,f)2;io grm. TlJ, entsprechend 0,:^993
grm. T10 = 5.i,6 Procent.
Darnach enthält es also 46,4 Procent Molybdänsäure, welche Zahlen
annähernd einem Salz von der Zusammensetzung ItlTlO, 8 MoO* ent-
sprechen.
Oettinger erhielt durch Wechselzerselzung von salpetersaurera
Thalliumoxydul und molybdänsaurem Natron gleichfalls das neutrale
Salz, für das er die richtige Zusammensetzung angegeben hat.
38 H. Flemming,
Verhalten des Thalliumoxyduls gegen Kieselsäure.
Dass das Thalliumoxydul das Vermögen besitzt, Kieselsäure aufzu-
lösen , ist schon von den Entdeckern dieses Metalls bemerkt worden ;
es ist jedoch, so weit ich habe in Erfahrung bringen können, nie
das Verhältniss untersucht, in welchem beide sich mit einander zu
vereinigen im Stande sind. — Die von mir zu den Versuchen ver-
wandte Kieselsäure war bei der Darstellung der Kieselflusssäure als
Nebenproduct gewonnen, sie wurde vollkommen ausgewaschen und
ungeglüht angewandt. Das Thalliumoxydulhydrat war durch Wechsel-
zersetzung von schwefelsaurem Thalliumoxydul mit Barythydrat in
verschlossenem Cylinder und Eindampfen der verdünnten Lösung in
einer Retorte erhalten worden. Diese Lösung wurde mit viel über-
schüssiger Kieselsäure etwa 24 Stunden lang im Kochen erhalten und
dann abfiltrirt. Das Filtrat wurde getheilt, ein Theil diente dazu, das
relative Löslichkeitsverhältniss der Kieselsäure im Thalliumoxydul fest-
zustellen, der andere, um zu sehen, ob bei weiterem Eindampfen etwa
eine kryslallisirte Verbindung erhalten würde.
Die ersterwähnte mit Salpetersäure angesäuerte Flüssigkeit wurde
zur Trockne gebracht, wieder mit Wasser aufgenommen und von der
ausgeschiedenen Kieselsäure abfiltrirt ; im Filtrat wurde das Thallium
als lodthallium bestimmt.
Es wurden erhalten : 1,620 grm. TU, entsprechend 1,0433 grm.
TIO und 0,04355 grms. SiO^
Demnach waren gelöst in 100 Theilen Thalliumoxydul 4,17 Theile
Kieselsäure.
Die nach einiger Concentration aus dem zweiten Theil nach dem
Erkalten sich abscheidende Substanz war weiss und krystallinisch ; sie
verlor, lufttrocken angewandt, über Schwefelsäure 5, 3 8 Procent Wasser,
nichts weiter indessen beim Erhitzen auf löO'^G.
Zur Analyse wurde dieselbe mit Salpetersäure einige Zeit gekocht,
im Wasserbade zur Trockne gebracht , mit Wasser wieder aufgenom-
men , von der ausgeschiedenen Kieselsäure abfiltrirt und im Filtrat das
Thallium als lodthallium gefällt.
0,2345 grm. gaben: 0,073 Si 0^ = 31,1 Proc. und 0,23875 grm.
TU, entsprechend 0,1529 grm. TIO = 65,2 Proc.
Man sieht, dass die Analyse einen Verlust von 3,7 Procent ergiebt,
über den ich mir Rechenschaft nicht zu geben vermag. Es wäre denk-
bar, dass die Substanz Wasser , welches bei I50"C. noch nicht aus-
getrieben wurde, enthalten hätte. Das gefundene Gewichtsverhältniss
von TIO und SiO' entspricht dem Mischungsgewichts verhältniss 4:9.
üeber einiiip Tliiilliuiiiverbiiulimgeii und die Stelliiiio; dieses Metalls im Syslcin. 39
Die Lösung von KiCvSelsüure und Thalliuinoxydul n> iid durcli Kohlen-
säure unter Abscheidung von Kieselsäure zersetzt, aber die letzlere ist
doch auch im Stande, die Kohlensäuie auszutreiben, da eine kochende
Lösung von Tl 0. CO'^ Kieselsäure zu lösen vermag. Beim Erkalten
trübt sich die Flüssigkeit, wird al)er durch erneutes Kochen wieder
klar. Beim abermaligen Erkalten tritt die Trübung von Neuem ein
und nach einigem Stehen scheidet sich eine, in ihren äussern Eigen-
schaften der vorher analysirten ganz ähnliche Substanz aus.
Verhalten des Thallium gegen Stickstoff.
Für diesen Versuch, wie für die folgenden, habe ich mir Thallium
nach Willm's Vorschrift aus oxalsaurem Thalliumoxydul dargestellt.
Wenn man dieses Salz erhitzt, so schmilzt es unter starkem Aufschäu-
men zu einer anfangs schwarzen , dann rothbraunen Masse , aus wel-
cher sich plötzlich der Regulus hervordrängt. Fast immer ist derselbe
an seinen Rändern noch von einem schmalen Ringe braunen oder
schwarzen Oxydes umgeben, von welchem man das flüssige Metall
leicht durch Drehen des Glasrohrs (Kugelröhren) ablaufen lassen kann.
lieber das dergestalt reducirte glänzende Metallkorn wurde Stick-
gas aus einem Gasometer, über Schwefelsäure und Chlorcalcium getrock-
net und über glühende Kupferspähne geleitet, treten gelassen. Es wurde
allmählich die Hitze gesteigert. Die Metallkugel blieb völlig blank und
unverändert, selbst als die Temperatur die Schmelzhitze des böhmischen
Glases erreicht hatte.
Die gleiche Un Veränderlichkeit des Metalls beobachtete Oettinger,
als er trocknes Ammoniakgas 2 Stunden lang über in einer Glasretorte
geschmolzenes Thallium leitete.
Verhalten des Thallium gegen Kohlensäure.
Reine trockne Kohlensäure übt auf blankes Thallium , selbst bei
einer Hitze, welche das böhmische Glas erweichen macht, nicht die ge-
ringste Wirkung aus. Es entsteht keine Spur Kohlenoxydgas oder
Thalliumoxydul.
Einwirkung von Kohlenoxydgas auf die Oxyde
des Thallium.
Obgleich nach der von Willm gemachten Entdeckung, dass beim
Erhitzen von oxalsaurem Thalliumoxydul metallisches Thallium ent-
40 H. Flemming,
stehe, und nach dera Resultat des vorherigen Versuchs es beinahe als
selbstverständlich anzusehen war, dass die Oxyde des Thallium durch
Kohlenox)dgas reducirt werden, so stellte ich doch, da der directe
Versuch noch nicht gemacht war, denselben an.
Ich leitete über das beim Glühen des Salpetersäuren Thalliumoxy-
duls erhaltene Product — nach Lamy ein Gemenge von Thalliumoxydul
und Thalliumtrioxyd — das sich in einem Porzellanschiffchen und dieses
wieder in einem böhmischen Glasrohr befand, Kohlenoxyd. — Schon
nach kurzer Zeit zeigten sichMetallkügelchen und es gelang nach länge-
rem Glühen, das Gemenge der beiden Oxyde vollständig zu reduciren.
Verhalten des elektrischen Stroms gegen salpeter-
saures Thalliumoxydul.
Es ist mehrfach von den Chemikern, welche sich mit Unter-
suchungen über das Thallium beschäftigten, bemerkt worden, dass bei
Reduclion desselben mittelst des elektrischen Stromes aus einer Sulfat-
Lösung sich am positiven Pol eine schwarze Masse ausschied. Dieselbe
trat stets in zu geringen Mengen auf, um damit Reactionen anstellen zu
können; man vermuthete nur, dass es Thalliumtrioxyd sei. Auch ich
beobachtete diese Substanz bei der Reduction des Metalls durch den
elektrischen Strom, welche ich derjenigen durch Zink weitaus vorzu-
ziehen gelernt hatte. Wenn dieselbe wirklich Superoxyd war, so konnte
ihre Rildung in grösserer Menge bei der Zersetzung des salpetersauren
Salzes erwartet werden. In der That geschieht diess. Es scheidet sich
am negativen Pol Metall, am positiven Thalliumtrioxyd in beträcht-
licher Menge als dichte, schwarzbraune Masse aus, welche dieselben
Reactionen, wie das auf anderem Wege dargestellte Trioxyd liefert. ^)
Verhalten des Thalliumoxydulhydrats gegen Phosphor.
In schmale Streifen geschnittener , weisser Phosphor in eine Lö-
sung von schwefelsaurem Thalliumoxydul gebracht, erzeugt in der-
selben nach wochenlangem Stehen am dunkeln Orte keine Veränderung.
Phosphor-Stücke in eine concentrirte Lösung von Thalliumoxydul-
hydrat, welches durch Zersetzen von TIO. SO^ mit Rarythydrat unter
möglichstem Luftabschluss dargestellt war, gebracht, bedecken sich fast
augenblicklich mit einer schwarzen Haut . die beim Kochen zu einem
1| Ich ersehe eben aus dem 2. Hefte des Jahrgangs i868 p. 57 der »Zeitschrift
für Chemie«, dass Böttger bereits dasselbe beobachtet kat.
üeber einige Thalliumvcrbiiidiingen und die Stellung dieses Metalls im System. 41
metallglänzenden Ueberzug wird. In verdünnter SO^ löste sich derselbe
sehr langsam.
Phosphor-Stücke tnit Thaliiuinoxydulhydrjit in oiiin Röhre einge-
schlossen und 2i Stunden im W'asserbade erhitzt, werden ebenfalls zu
einer schwarzen am Boden bleibenden Masse, während weissliche kleine
Krystalle sich an den Gefässwänden ansetzen. BeimOelinen der Röhre,
\^ eiche nur wenig Druck zeigt, ist der Geruch nach Phosphorwasser-
stoff \\ahrnehmbar ; die in der Röhre befindliche Flüssigkeit enthält
viel Thallium und etwas phosphorige Säure.
Die schwarze Masse wurde zur Entfernung überschüssigen Phos-
phors mehrmals mit Schwefelkohlenstoff behandelt, aus welchem sich
nach dem Abgiessen alsbald rolher amorpher Phosphor ausschied. Die
zurückbleibende Masse wurde über Schwefelsäure getrocknet, gewogen
und hierauf mehrere Stunden mit verdünnter Schwefelsäure gekocht;
es entwickelte sich dabei ein starker äusserst unangenehmer Geruch,
dem des Schwefelaethyrs vergleichbar. Ein geringer Theil , welcher
ungelöst blieb, wurde abfiltrirt und in der mit NaO. CO^ neutralisirten
Lösung das Thallium als lodthallium niedergeschlagen. Phosphorsäure
war im Filtrat nicht nachweisbar.
0,4565 grm. Substanz lieferten: 0,664 grm. TU, entsprechend
0,409 grm. Thallium = 89,6 Procent.
Der in Schwefelsäure ungelöst gebliebene nicht weiter gewogene
Rückstand löste sich in Salpetersäure unter Freiwerden von salpetriger
Säure ; derselbe enthielt nur noch geringe Mengen Thallium , dagegen
verhältnissmässig viel Phosphor. Es mag diess wohl ein Phosphorthal-
lium gewesen sein, aber die geringe Menge der vorhandenen Substanz
erlaubte keine genaue quantitative Analyse.
Im Anschluss hieran habe ich einen Versuch angestellt über das
Verhalten des Thallium gegen Phosphordämpfe bei
höherer Temperatur.
Es wurden Phosphordämpfe über in der Glühhitze geschmolzenes
Thallium in einem Koldensäureslrom geleitet. Die Metallkugel bleibt
blank und zeigt nach dem Erkalten auf der Oberfläche nur eine dünne
Schicht einer blasigen schwärzlichen Masse ; die Kugel lässt sich leicht
zerschneiden, die Schnittflächen sind völlig metallglänzend, ganz wie
bei reinem Thallium. Nachdem sie längere Zeit in Wasser gelegen
hatte, wurde die äussere schwarze Schicht durch Salpetersäure weg-
gelöst; die Lösung enthielt Phosphorsäure, das Uebrige der Metallkugel
war reines Thallium, denn:
42 H. Flcmming,
1,0125 grni. trockner Substanz lieferten: 1,64125 grm. TU, entspre-
chend 1,01 15 grm. oder 99,9 Proc. Thallium.
Dass die äusseren schwarzen Schichten der grösstentheils unver-
änderten Thalliumkugel ein Phosphorthallium gewesen sind, glaube ich
nach dem Angeführten annehmen zu dürfen ; aber es ist dadurch auch
constatirt, dass die Verwandtschaft dieses Metalls zu Phosphor in der
Glühhitze nur sehr gering ist.
Ich war leider verhindert, diese Versuche zum völligen Abschluss
bringen zu können.
Heber die Stellung iles Thallium im System.
Das Thallium hat das wunderbare Schicksal gehabt , zuerst unter
die Metalloide, dann unter die Metalle und da wieder zu den leichten
und schw'eren gerechnet worden zu sein.
Grookes glaubte anfangs , als er wohl nur Schwefelthallium und
nicht das Metall unter den Händen hatte, es gehöre zur Schwefel-Selen
Gruppe, später jedoch, als er die Eigenschaften des reinen Metalls stu-
dirte, stellte er es zwischen Blei und Silber.
Lamy, der zuerst das Thallium in reinem Zustande erhielt, sprach
die Ansicht aus, es sei in die Gruppe der Alkalimetalle zu stellen. Nach
ihm hat Dumas in einem Bericht an die Akademie i) das bis dahin über
Thallium Bekanntgewordene zusammenfassend, sich ebenfalls für die
LxMv'sche Ansicht ausgesprochen. Auch Willm bekennt sich am Schlüsse
seiner vortrefflichen »Recherches sur le Thallium« zu der Ansicht
Lamy's, was eigentlich zu verwundern ist, da fast alle von Vv'illm neu-
gefundenen Thatsachen darauf hinweisen, dass das Thallium den
schweren Metallen beizuzählen sei.
Von deutschen Gelehrten hat sich mit Bestimmtheit eigentlich nur
Werther bei Gelegenheit seiner Arbeiten über das Thallium für dessen
Stellung in die Alkaligruppe ausgesprochen. — In den EROMAivN'schen
sowohl, wie in den ScHÖNBEiN'schen Arbeiten habe ich entschiedene
Erklärungen hierüber nicht gefunden.
Strecker, der über die Verbindungen des Thalliumtrioxyds ge-
arbeitet hat, stellt das Element in seinem Lehrbuch unter die schweren
1) Comptes renalis des s^ances de l'Acadeinie des Sciences, seance du
15. Decembre 1862.
lieber einigt' Tliiillüiiiivi'iliiiuliingeii iiiid die Slelliiiig dieses Metalls im System. 43
Metalle und beschreibt es unniillelbar hinter dem Blei ; allejdings fügt
er am Schlüsse die Bemerkung hinzu ; »Der chemisehc Charakter des
Thallium ist so eigenthümlieh , dass es mit keinem andern Metall
verglichen werden kann. Wahrend es in mehreren Beziehungen den
Alkalimetallen ähnlich ist, zeigt es besonders wegen seiner Fäll-
barkeit durch Schwefelanmionium und der leichten Reduetion durch
Zink aus seinen Salzlösungen mehr Beziehungen zu den schweren
Metallen «.
In dem Lehrbuch von Graham-Otto wird es in der Einleitung der
zweiten Abtheilung des zweiten Bandes, welche über die allgemeinen
Eigenschaften der Metalle handelt, zu wiederholten Malen unter den
schweren Metallen genannt und in unmittelbarer Nähe des Blei's auf-
geführt. — WöuLER stellt es in seinem Grundriss gleichfalls neben das
Blei. — Man sieht also, dass über den, dem Thallium anzuweisenden
Platz unter den Chemikern noch keineswegs Einigkeit herrscht.
Diejenigen, welche das Thallium zu den Alkalimetallen rechnen,
führen für diese Ansicht an: 1) die Löslichkeit des Thaliumoxyduls in
Wasser und die stark alkalische Reaction dieser Lösung, 2) die Fäll-
barkeit mancher Metallsalze, z. B. Zinkoxydsalze durch das Thallium-
oxydul, ;{) die Existenz eines Thalliumalkohoiat's, i) die leichte Lös-
lichkeit des Thalliumfluorürs , des kohlensauren und schw efelsauren
Thalliumoxyduls und die Isomorphie des letzteren mit dem schwe-
felsauren Kali, 5) die Bildung von Thalliumoxydulalaunen, 6) die Lös-
lichkeit der phosphorsauren Thalliumoxydul - Salze , des Gyan-, des
Ferro- und Ferridcyanthallium , 7) die Unlöslichkeit des Thallium-
platinchlorids.
Ehe ich jetzt zu den zahlreichen gewichtigen Momenten übergehe,
w eiche dafür sprechen , das Thallium unter die schweren Metalle zu
zählen, muss ich noch einige Worte über die Beziehung sagen, in wel-
cher das Mischungsgewicht des Thallium zu denen der Alkalien nach
Dlmas stehen soll, sow ie über die aus der specifischen Wärme abgelei-
teten Argumente Willm's.
W. in seiner oben citirten Abhandlung sagt: «Herr Dumas in sei-
nem so klaren Bericht über das Menwire des Herr Lamy fügt, nachdem
er die Gründe erörtert hat, welche das Thallium unter die Alkalimetalle
zu stellen zwingen, hinzu, dass, diesen Satz zugegeben, das Lithium,
wenn man die numerischen Beziehungen betrachtet, welche zwischen
ihren Aequivalenten bestehen, den ersten Platz in der Reihe dieser Me-
talle einnimmt, indem es das niedrigste Aequivalent hat, während das
Thallium am andern Ende der Beihe mit dem höchsten Aequivalent
sich befindet. Diese Reihe ist folgende :
44
H. Flemmiiio,
Lithium . . . .
7
Natrium . . . .
23
Kalium . . . .
39
Rubidium. . . .
85
Caesium . . . .
123
Thallium . . . .
204
Ueber diesen Ges^enstand ist noch bemerkt worden , fügt Dumas
hinzu:
1) Dass das Aequivalent des Natrium genau die Hälfte der Aequi-
valenle des Kalium und des Lithium ist, ' ' = 23.
2
2) dass, wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium zum
Gewichte des Kalium fügt, man das Gewicht des Rubidium erhält:
46 + 39 = 85,
3) dass, wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium zum
Doppelten des Gewichts des Kalium fügt, man nahezu das Gewicht
des Caesium erhält: 46 -}- 78 = 124,
4) dass, wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium zum
Vierfachen des Kalium hinzufügt, man nahezu das Gewicht des Thal-
lium erhält: 46 + 156 = 202.«
Zu 3) erwähnt W. in einer Anmerkung , dass durch spätere For-
schungen freilich das Aequivalent des Caesium zu 133 festgestellt sei,
dass sich aber auch diese Zahl in den Zusammenhang der Reihe bringen
lasse, wenn man sie betrachte als gleich dem vierfachen Gewicht des
Natrium plus dem Gewicht des Kalium : 92 + 39 = I 31 .
Schliesslich bemerkt er, dass Dumas, indem er diese Beziehungen
aufsuchte, dadurch nicht eigentlich habe ein neues Beweismittel für die
Stellung des Thallium unter die Alkalimetalle bringen wollen, sondern
dass er diesen Punct bereits hinlänglich erwiesen achte und nur bei-
läufig ein numerisches Band zwischen den Aequivalenten der Alkalien
habe aufsuchen wollen.
Wie locker und künstlich gemacht der hier aufgestellte Zusammen-
hang ist, scheint mir am Klarsten daraus hervorzugehen, dass, wenn
das Aequivalent des einen Elements nach neueren Forschungen sich
plötzlich um \ höher stellt, die aufgestellte Rechnung den Autoren des-
halb um Nichts unwahrscheinlicher erscheint, sondern, dass es schnell
gelingt ein neues Verhältniss herzustellen.
Der Zusammenhang unter den Aequivalent-Zahlen verwandter
Elemente ist bis jetzt noch so wenig aufgeklärt , dass es durchaus un-
statthaft erscheint, aus einer darauf gegründeten Combination einen
Ueber einige TiialliiimvPiiiiiKliiiiiiPii und die Stollmiu dieses Metalls im Syslom. 45
Kückschluss zu iniiclion. Für den voi-liogcndcM» l"";ill lässt sich das sehr
leicht in (Mnein Beispiel erörtern.
Man ist jetzt allgemein darüber einiii, dass das Thallium nicht wie
Crookes anfanglich annahm . zu den Metalloiden resp. der Schwefel-
Selen-Gruppe gehöre. Es würde aber diesem Chemiker leicht gewesen
sein, z^^ischen dem Ae(|ui\alenl des Thallium und jencMu der 3 Ele-
mente Schwefel, Selen und Tellur einen eben solchen Zusammenhang
aufzufinden, als es Dumas mit dem Thallium luid den Alkalimetallen ge-
lungen ist. — In der Reihe:
Schwefel ... 16
Selen .... 39,5
Tellur .... 04
ist der Zusammenhang l)ekannt. Fügt man nun das Doppelte des Aequi-
valents des Selen zum Doppelten des Tellur, so kommt man dem Ae-
ijuivalent des Thallium fast ebenso nahe, wie Dumas mit der Zahl 202;
denn 79 -f- 128 = 207.
Ich sollte meinen, dass dieser Trugschluss allein genügte, um das
DuMAs'sche Argument zu entkräften.
Wn.LM sagt weiter, indem er darauf hinweist, dass das Atomge-
wicht des Thallium, aus seiner specifischen Wärme abgeleitet, sich,
ebenso wie das des Kalium, zu 102 berechnet, es müsse das Thallium,
ebenso wie das Kalium, als einatomig angesehen werden, während das
Blei, dessen Aequivalent 103,0 mit dem berechneten übereinstimmt,
als zweiatomig zu betrachten sei.
\V. übersieht dabei, dass sich aus der angeführten Thatsache ebenso
gut eine Aehnlichkeit des Thallium mit dem Silber ableiten lässt, denn
das Aequivalent desselben berechnet sich aus dei- specifischen Wärme
gleichfalls nur zu 54, während es doch allgemein zu lOS angenommen
wird. — Nun hat auch in sehr vielen anderen Beziehungen das Thal-
lium mit Silber kaum weniger Aehnlichkeit, als mit Blei, und es würde
gewiss, wenn es unter die schweren Metalle zu zählen sei, bei beiden
seinen Flatz erhalten müssen.
Durch das Beispiel des Silbers wird gleichzeitig auch ein Argument
entkräftet, welches W. als das gewichtigste füi- die Placirung des Thai-
liun) unter die Alkalimetalle bezeichnet, nämlich der Isomorphismus
einiger Thalliumoxydulsalze mit Kalisalzen, besonders der Sulfate.
Durch Mits<:hi:klich\s'j Untersuchungen ist bekannt, dass sehr viele
Silbersalze mit Natronsalzen isomorph sind. Ich nenne hier nur das
schwefelsaure Silberoxyd und das unterschwefelsaure Silberoxyd. Zwar
4) Pogg. Aniiai. Bd. VII. p 138, u. Bd. XXV. p 30^.
46 H. Flemming,
hat man bis jetzt durch Versuche nur festgestellt, dass das unter-
schwefligsaure Silberoxyd mit den unterschwefligsauren Alkalien und
alkalischen Erden Doppelsal2;e bilde, aber in Folge des oben besproche-
nen Isomorphismus würde es höchst wahrscheinlich gelingen, die ent-
sprechenden Natronsalze in Doppelverbindungen durch Silbersalze ver-
treten zu lassen, und man könnte vielleicht auch Silberalaune erhalten,
wenn die dahin gerichteten Versuche nicht etwa an der Schwerlöslich-
keit des schwefelsauren Silberoxyd's scheitern sollten. Dadurch würde
auch das Vermögen des schwefelsauren Thalliumoxydul's, jVlaune und
andere Doppelsalze, wie sie Werther mit isomorphen Sulfaten der
Magnesia-Reihe erhalten hat, zu bilden, leicht erklärlich, und, w^eit
entfernt, für die alkalische Natur des Thallium zu zeugen, würde es
vielmehr den Beweis liefern , dass die Thatsachen des Isomorphismus
von uns durchaus noch nicht in ihrer letzten Ursache erkannt sind.
Neben diesem Beispiel des Isomorphismus der Salze solcher Me-
talle, die ganz verschiedenen Gruppen angehören , erscheint es unnö-
thig, noch darauf hinzuweisen, dass Isomorphieen zwischen Blei- und
Strontian- resp. Baryt-Salzen, sowie auch zwischen Zinn- und Mag-
nesia-Salzen etc. vorkommen. Deshalb hat man indess sich nie be-
wogen gefunden , daraus Schlüsse über die chemische Stellung dieser
Körper zu ziehen.
Eine von Vielen betonte Aehnlichkeit des Thallium mit dem Kali-
um soll darin bestehen, dass seine Salze mit Platinchlorid ein unlös-
liches Doppelsalz bilden. Dieser Umstand scheint mir indess wenig zu
beweisen; erstlich ist das Verhalten der Alkalimetalle selbst in dieser
Beziehung verschieden , indem bekanntlich Chlornatrium ein lösliches
Doppelsalz, das mit 6 Aequivalenten Wasser kryslallisiren kann, liefert,
während die andern Chloralkalien unlösliche Salze geben, und zweitens
ist durch die Untersuchungen v Bonsdorff's^) dargethan worden, dass
nicht allein Chloride der Alkalien , sondern auch Chloride der Metalle
und der alkalischen Erden mit Platinchlorid Doppelsalze bilden. Die-
selben haben die allgemeine Formel RCl, PtCl- -h xaq. Es sollen das
Strontium- und Calcium-Salz mit 8, das Barium-Salz mit 4, das Mag-
nesium-, Eisen-, Mangan-, Zink-, Cadmium-, Kobalt-, Nickel- und
Kupfer-Salz mit 6 Aequivalent Wasser krystallisiren ; die acht letztge-
nannten sind isomorph. Sowie sich also hier Magnesium, Eisen, Mangan
etc. an die Seite des Natrium stellen, ohne dass man daraus geschlos-
sen hat , sie gehörten in eine Gruppe , ebensowenig lässt sich behaup-
ten, dass das Thallium , welches sich der andern Gruppe der Alkalien
1) Pogg. Amial. Bd. XVII. p. 250, Bd. XIX. p. 337.
lieber einige Thiilliumverbiiidiingeii imd dif Stellimii dieses Metalls im System. 47
rücksichtlich seines Verhallens zu Platinchlorid anschliesst, deswegen
nicht unter die schweren Metalle zu rechnen sein dürfte.
Dass Thallium-Verbindimpen die Flamme färben, ist eine Eigen-
schaft, die sie bekanntlich nicht allein mit den Alkalien , sondern auch
mit den Salzen des Kupfers theilen.
Aus dem spectralanalytischen Verhalten des Thallium und seiner
Verbindungen hat W. Allen MillerI ganz die entgegengesetzten Schlüsse
gezogen, als die französischen Chemiker. Während nämlich das auf ge-
wöhnliche VN'eise im BiNSEX-KmcHHOFP'schen Apparate erzeugte Spec-
trum des Thallium nur die bekannte grüne Linie zeigt, enthält das
Spectrum des zwischen zwei Thallium-Drähten überspringenden elek-
trischen Funkens mehrere neue Linien, welche die für die Metalle cha-
rakteristische Eigenschaft zeigen, an den Enden viel intensiver zu sein,
als in den mittleren Theilen. Die Photographie des Spectrums erinnert
am Meisten an das des Cadmium und Zink's, weniger an das des Blei's.
Miller bekämpft auf Grund dieser Beschaffenheit des Spectrums die
LAMY-DuMAs'sche Ansicht und ist der Meinung, dass das Thallium in die
Nähe des Blei's und Silber's gestellt werden müsse.
Man hat aus dem Umstände, dass blankes Thallium an der Luft
schnell anläuft und sich mit einer Oxydschicht bedeckt, auf ein gros-
ses Vereinigungsstreben des Metalls zum Sauerstoff geschlossen, aber
abgesehen davon, dass dasselbe nach Schönbein's^) Untersuchungen in
trockenem und ozonfreiem Sauerstoff ganz unverändert bleibt, spricht
auch der Umstand, dass das Thallium die Kohlensäure und das Wasser
nicht zerlegt, und, wie ich gezeigt habe, durch Kohlenoxydgas aus sei-
nen Oxyden leicht reducirt wird, desgleichen die leichte Reducirbar-
keit aus seinen wässrigen Salzlösungen durch den elektrischen Strom
durchaus nicht für eine grosse Verwandtschaft zum Sauerstoff.
Es ist zudem eine bekannte Thatsache, dass auch blankes Blei sich
nach einiger Zeit mit einer Oxydschicht überzieht und die Versuche
vieler Chemikei", unter andern die von Elsner und Noad^) haben gelehrt,
dass es in Berührung mit Wasser und Luft sich äusserst schnell mit
weissem Bleioxydhydrat bedeckt, welches von Wasser in nicht unbe-
deutender Menge gelöst wird, so dass durch Schwefelwasserstpff braune
und schwarze Färbung entsteht. — Mag auch das Thallium etwas grös-
1) Sog. Roy. London, 13. .lan. 1S63 ; Annales de Chim. et de Phys. III. S<5iie,
T. LXrX, p. 507.
2) Journ. f. pract. Chem. XCIil, p 3r>.
3i Chem. techn. Mittheilg. ISTjA — 56. p. 24 ; Jahiesber. v. Liebig und Kopp,
1851. p. 616.
48 H. Flemmiiiff,
sere Vorwandlschaft zum Sauersloll' haben, als andere schwere Metalle,
jedenfalls kann dieselbe mit derjenigen , welche die Alkalimetalle zei-
gen, nicht verglichen werden ; denn dieselben zersetzen bekanntlich
sowohl das Wasser, als auch die Kohlensäure unter Feuererscheinung.
Derjenige Umstand, der unstreitig am Meisten geeignet wäre, dem
Thallium den Platz unter den Alkalimetallen anzuweisen, ist die Lös-
lichkeit des Oxyduls in Wasser. Man ist allerdings gewöhnt, die Unlös-
lichkeit der Oiyde als eine charakteristische Eigenschaft der schweren
Metalle, die Löslichkeit als eine solche der alkalischen Erden und Alka-
lien anzusehen , aber es muss constatirt werden , dass innerhalb der
verschiedensten Gruppen sich ausserordentliche Differenzen in dieser
Hinsicht zeigen : Kalihydrat und Lithionhydrat, Barythydrat und Mag-
nesiahydrat, selenige und tellurige Säure, Phosphorsäure und Antimon-
säure. Dasselbe gilt für die schwefelsauren , phosphorsaui'en und koh-
lensauren Salze: schwefelsaurer Baryt und schwefelsaure Magnesia,
schwefelsaures Quecksilberoxyd und schwefelsaures Bleioxyd, phos-
phorsaures Kali und phosphorsaures Lithion, kohlensaures Kali und
kohlensaures Lithion. Dazu konmit die Unlöslichkeit des chromsauren
Thalliumoxyduls, des Chlor- , iod- und Brorathallium der Löslichkeit
der entsprechenden Alkalisalze gegenüber. Man sieht daraus, dass Lös-
lichkeitsvcrhältnisse der Verbindungen Nichts entscheiden , wenn es
sich um die chemische Stellung einer Substanz handelt.
Es spricht aber ferner gegen die Alkalinatur des Thallium, dass
dasselbe noch ein unlösliches Oxyd bildet, welches, wenn es auch leicht
Sauerstofl" abzugeben und mit concentrirter Salzsäure Chlor zu ent-
wickeln vermag, doch mit Sauerstoffsäuren Salze bildet und dadurch
von den Superoxyden sich wesentlich unterscheidet.
Wenn man überhaupt zugeben muss , dass die Löslichkeit des
Oxyduls nicht unbedingt ein Criterium für die alkalische Natur des
Thallium abgiebt, so fällt damit das letzte Argument für die Lamy-Du-
niAs'sche Auffassung hinweg. Denn die sonst noch bemerkenswerthen
Eigenschaften des Thallium, so die alkalische Reaction und der laugen-
artige Geruch der Oxydulhydratlösungen und ihre Eigenschaft, Kiesel-
säure zu lösen, sowie die Löslichkeit der Cyanverbindungen, die Bil-
dung von in Alkohol löslichem Thalliumalkoholat werden in der Löslich-
keit des Oxyduls eine genügende Erklärung finden.
Ganz direct gegen die Alkalinatur des Thallium sprechen aber
vor Allem drei Eigenschaften: 1) die Abscheidung desselben durch Zink,
aus den wässrigen Lösungen seiner Salze, 2) die Reducirbarkeit seiner
Oxydationsstufon durch Kohlonoxyd und 3) dieFällbarkeitdurcli Schwe-
felammonium.
Ueber einige Tliiilliiimverbiiidiingeii und die Stellung dieses Metalls im System. 49
Will man sich darnach ein Bild von der Stellung dos Thallium im
System machen, so %v(lrde man sagen müssen, es sei das Metall, wel-
ches die Gruppe der Alkalien und alkalischen Erden mit der Eisen-
und Bleigruppe verknüpfe.
Schliesslich nehme ich Gelegenheit , den Herren Dr. Sonnenschein
und Professor Dr. Geuther, unter deren Anleitung ich die vorstehenden
Untersuchungen ausführte, für die gütige undbereiLwilligeUnterstützung,
welche mir dieselben dabei zu Theil werden Hessen — und nieinem
geehrten Freunde , Herrn Dr. Carstanjen in Berlin für die Liberalität,
mit welcher er mir das erforderliche Material zur Verfügung stellte,
meinen wärmsten Dank auszudrücken.
Jena, Januar ^868.
Ruiiil IV. I.
Teber die Drehung des Humerns.
Von
C. Gegenbaur.
(Hierzu Taf. I.)
Unter der Bezeichnung »Drehung a (Torsion) des Hunierus machte
Charles Martins i) eine Erscheinung bekannt, welche an sich nicht we-
nig interessant, für die Vergleichiing der beiden Extremitäten aber von
giösster Wichtigkeit ist. Sie gibt für diese Operation einen Factor ab,
der die Mehrzahl der grossen, hier auftretenden Schwierigkeiten besei-
tigt. Obgleich ich selbst bei meiner Vergleichung der vordem und hin-
tern Gliedniassen der WirbeUhiere zu wesentlich denselben Resultaten
gekommen war, wie der vorgenannte Autor, so hatte ich damals den-
noch Bedenken gegen Jene Aufstellungen, und legte Lageveränderun-
gen der proximalen Enden von Ulna und Radius das Hauptgewicht bei.
Diesen Verschiebungen jener Enden muss ich auch heute noch das Wort
reden. Allein ich halte sie nicht mehr für das Ausschliessliche, ja nicht
einmal für das Hauptsächlichste bei der Umgestaltung welche die Lage-
rungsverhältnisse der Theile des Armskelets im Vergleiche mit dem
Skelete der hintern Gliedmassen darbieten. Eine genaue Prüfung der
Angaben von Martins, noch mehr aber das Auffinden positiver Nach-
weise fürden genannten Vorgang lassen mich nicht nur jener Auffassung
vollkommen beipflichten , sondern geben auch zu diesen Zeilen mittel-
baren Anlass. Diese meine gleich von vornherein erklärte Zustimmung
bezieht sich jedoch nur auf die Diehung der Humerus. Bezüglich der
1 1 Nouvelle Coniparaisoii des nienihies pclviens et thoraciques chez l'liomme
et oliez des Maminifercs dcdiiile de la lorsion de l'Huinerus. Kxtrait des Mönioires
de l'Academie des Sciences et lettres de Montpellier T. III. p. 471. Montpellier
1857. — Audi in den Ann des sc. nat. S^r. IV. Tome 8. 1857. p. 45.
('('her die Drehung des Ilunierus. 5t
Deutungen von Olocranon und Palello iniiss ich iuicl» jel/t noch ondrer
Mt'iiiunij; ^sein.
Beaelit(U\ wir zunächst die Anjznben von Maiitins. Va siii;t in dein
der Vergk'ichunu; des renuu' mit dem Ikuneius gewidmeten Abschnille
seiner Abhyndlung: »Der Ilumerus des Menschen ist ein um seine Axe
in einem Winkel von IcSO (irad gechehter Knochen. Das Femur ist ein
gi'iach'r Knochen, ohne Drehung. Da i\e\' Ilumerus ein gedrehtes Fenuu'
Norstelll, so muss man hei der Vergleichung dieser beiden Knochen vor
allem den Humerus zurückdrelin (detordre); das Resultat dieser Ope-
lalion wird sein , dass die Epitrochlea nach aussen, der Epicondylus •
nach innen gerichtet sein wird. Alsdann bietet die Vergleichung der
Brust- und der ßeckengliedmassen gar keine Schwierigkeit mehr. Der
Kopf des Ilumerus bleibt dabei unverändert in seiner Lage nach innen
(median) wie jener des Femur.a
»Die Körper beider Knochen besitzen ihre Kanten parallel ihrer
Axe. Die convexe oder tricipitale Fläche des Oberarniknochens findet
sich vorne, wie die vordere, con\e\e oder tricipitale Fläche des Ober-
schenkelknochens. Beide Knochen sinil somit einander ähnlich; ihre
Condylen sind if,\c\\ hinten gerichtet. Der innere Theil, der nunmehr
zum aussein geworden ist, entspricht durch seinen starkem Vorsprung
dem sich ähnlich verhaltenden äussern Gondylus des Fenuir; das Olc-
cranon liegt wie die Palella nach vorne zu ; diese ist an den vordem äussern
Theil des Kopfes der Tibia befestigt, welcher die miteinander verbun-
denen und verschmolzenen Köpfe der UIna und des Radius vorstellt.«
»Für den Unterschenkel und den Vorderarm scheinen nun die
Schwierigkeiten gleichfalls gelöst. Wenn die Gliedmasse sich in Supi-
nalion befindet, so lässt die Rückdrehung idelorsion) des Humerus den
Vorderarm eine Drehbewegung ausführen, welche die Streckfläche nach
vorne bringt, die Beugefläche nach hinten; folglich wird der der Til)ia
analoge Radius sich innen finden; die LUna, der Fibula analog, aussen.
Der Daumen und die grosse Zehe sind beifte innen, der kleine Finger
und die kleine Zehe aussen gelagert.«
L'm sich von der Richtigkeit dieser Aufstellung zu überzeugen, ge-
nügt es nach Martins »am Ilumerus des Menschen oder irgend eines
Säugethieres die rauhe Linie zu verfolgen welche vom Epicondylus an
sich schräg gegen tlie hintere Fläche wendet, dies(! längs der Rinrve für
den Kadiaincis iiiii/.ieht, und sich mit d r Insertionsoberfläche des An-
cnniK'us iiilcmus forlscl/.t, um unlcrlialb des Humeriis-Kopfes an einer
ausge/eiclinclen Stelle des Ihiisos zu enden, gerade am andern Ende des
Oiicrdiirclunessers des Kuoclieiis. Diese Drehung ist \on vicU'U Anthro-
|totoMi('M b.'aclitel wonlrii."
4*
52 C. Gegenbaur,
»Doch zogen diejenigen, welche die Thatsache conslalirten keines-
wegs die sich daraus ergebenden Folgerungen. Dass diese von einem
Botaniker verstanden wurden, ist jedoch nicht auffallend, wenn man
weiss, dass die Drehung an den Stengeln der Gewächse eine sehr ge-
wöhnliche Erscheinung ist. Man muss ihr beständig Rechnung tragen,
da sie die symmetrische Anordnung der Anhangsorgane, der Knospen,
Blätter, Blüthen etc. stört.«
»Da die Drehung des Humerus eine unbestreitbare Thatsache ist,
so ist es klar, dass man logischer Weise diesen Knochen nicht mit dem
Femur vergleichen konnte, ohne ihn zurückzudrehen, und aus ihm einen
ebenso geraden Knochen darzustellen als es das Femur ist; denn es ist
die Drehung welche den Sinn der Beugung der Beckengliedmassen um-
kehrt, weil der Vorderarm sich nach vorne, der Unterschenkel dagegen
nach hinten beugt.«
»Die Drehung ist keine ausschliessliche Eigenthümlichkeit des
menschlichen Humerus, sie ist allgemein in den drei obersten Abthei-
lungen der Wirbelthiere, der Säugethiere, Vögel und Reptilien, leben-
der sowohl als fossiler; sie beträgt ISO*' beim Menschen und den Land-
oder Wassersäugethieren; 90*^ bei den Chiroptern, den Vögeln und den
Reptilien.«
»Beim Menschen nnd den Land- und Wassersäugethieren beträgt
die Drehung zwar immer 180**, allein die Verhältnisse der Axen des
Halses und den Trochlea sind nicht in der ganzen Reihe dieselben. Es
gibt davon zwei Modificationen.«
»Beim Menschen und den anthropomorphen Affen , wie der Orang,
Chimpansee, der Troglodytes Tschego, der Gorilla und die Gibbons, sind
die Axen des Halses des Femur wie des Humerus parallel und alle beide
gegen die Wirbelsäule gerichtet, d. h. von aussen nach innen und von
unten nach oben. Die eine wie die andere, ebenso wie die Axen des
Körpers beider Knochen , sind in derselben Ebene etwas vertical und
senkrecht gegen die Vertebro-Sternal-Ebene. Diese Richtung der
Axen ist die mechanische Bedingung für die Drehbewegung des Arm-
und des Schenkelknochens in ihrer Gelenkpfanne. «_.
»In dieser Thiergruppe ist wie beim Menschen die Axe der
Trochlea des Humerus ebenso parallel der Ebene in welcher die Axen
des Halses und des Körpers desselben Knochen liegen ; und man kann
wenn das Tliier aufrecht auf seinen Füssen steht , in physikalischer
(nicht in mathematischer Beziehung) sagen , dass die Axe des Hu-
merushalses, des Körpers dieses Knochens, und die seiner Trochlea,
ebenso wie jene des Fcniui-halscs, die Axe dieses Knochens und die
üeber die Drehung des Hnmerns. 53
seiner Condylcn doullifh in oiniMi und (loi'selben verlicalen Ebene lie-
gen, die senkrecht gegen die Medianebene des Körpers gerichtet ist.«
»Bei den Land- und Wasser-Säugethieren ist die Axe des Femur-
halses wie beim Menschen gelagert, und die Ebene welche man durch
die Axe des Knochens, sowie jene des Feniurh;ilses legt, ist eben-
falls senkrecht zur Medianebene des Körpers. Aber nicht dasselbe ist
an den vorderen Gliedniassen der Fall : die Axe des IIunierushals<*s ist
von vorn nach hinten und von unten nach oben gerichtet. Diese Axe
und jene des Humeruskörpers liegen in einer Ebene, welche parallel
/.u der Sternovertebralebene steht. Daraus folgt, dass dieEl)enc, in
der die Axe des Knochens und jene seines Halses liegen, senkrecht zur
Axe der Trochlea liegt«, »während beim Menschen diese drei Axen in
eine und dieselbe Ebene fallen. Wenn wir als Vergleichungspunct
die Axenrichtung des Femurhalses nehmen , welche bei allen Thieren
dieselbe ist, so können wir zugeben , dass beim Menschen und den
höhern Affen der Humeruskopf an der Drehung des Körpers dieses
Knochens keinen Antheil nimmt. Im Gegensatz hierzu hat bei den nie-
dern Affen wie bei den übrigen Säugethieren das untere Ende des Hu-
merus eine Umdrehung von 180" erlitten, und das obere, anstatt wie
beim Menschen unverändert zu l)leiben , ist gleichfalls um 90" gedreht.
Diess wird bewiesen durch die relative Lagenveränderung der Rauhig-
keiten , welche die Bicepsrinne begrenzen. Die Tuberositas externa
beim Menschen wird bei den Säugethieren zur vordem, die Tuberositas
interna des Menschen zur hinlern, was eine Drehung von 90" voraus-
setzt.« »Die Folge dieser Lagenveränderung ist die Bewegung der
Vordergliedmassen des Säugethieres in einer Ebene, indem es nur ganz
unvollkonmien die Drehbewegungen vollführen kann, welche den Men-
schen und die anlhropomorphcn Affen auszeichnen.«
»Bei den Chiroptern , den Vögeln, und den Reptilien beträgt die
Drehung des Humerus nur 90", die Axen des Femurhalses und des Hu-
merus sind wie beim Menschen gerichtet, nämlich die Axe des Körpers
des Knochens und jene des Halses liegen in einer zur Medianebene
senkrecht stehenden Ebene. Da jedoch der Körper des Humerus blos
um 90" gedreht ist, so ist die Trochlea nach aussen gerichtet. Bei diesini
Thieren ist die Ebene, in welcher die Axe des Knochens und jene
seines Halses liegt, senkrecht gerichtet gegen die Axe der Hunierus-
Trochlea, und ebenso geschieht die Bewegung des Vorderarms gegen
den Oberarm nach auswärts in einer senkrecht auf die Sterno-vertebral-
Ebene stehenden Ebene.«
Das vorstehend milgetheilte umfasst einige der ^^i^■hligsten Sätze
der genannten Abhandlung, welche ich ausfuhrlicher mitzutheilen mir
54 f- Getiviibiiiir,
erlaubte, il.i die Arbeit in DcuIsiIiIüimI wciiii: lickiiDiit, oder doeli min-
destens nicht i^ebüliiend beaciilet ist. ij Der Verlasser erläutert wei-
terhin noch die Beziehungen , welche diese verschiedenen Axenstel-
lungen der Extremitätenknochen zu den von den Extremitäten aus-
geführten Hauplbewegungen besitzen, und in den andern Capiteln
der Abhandlung wird die Verglcichung, sowohl dei- SkeJettheile als der
übiigenTheile der Extremitäten — Muskeln, Nerven, Arterien — durch-
geführt. Es ist indessen keineswegs meine Absicht auf alle diese Ver-
hältnisse einzugehen, vielmehr will ich nur an die Eischeinung der
Drehung des Uumerus anknüpfen, da diese j,i für tue Verglcichung der
beiden Extremitäten nach Martiivs ohnehin den Cardinalpunct abgibt.^)
Nach Martins soll der Humerus des Menschen im Vergleiche zum
Femur eine Drehung von LSG" um seine Axe vollfülu-t haben; so dass
der ulnare Epicondylus ursprünglicli aussen, der radicale dagegen innen
1 ) Berücksiclitigt finde ich sie im Handbuch der Anatomie von Cruvkilhiek (Traitö
d Anatomie descriptive. Quatrierae Edition, Tome I. Paris 1862. In einem der Ver-
iileichung beider Extremitäten gewidmeten Abschnitt S. 262 heisst es : »M. Martins
a bien voulu faire, pieces en main, la demonstralion de son ingenieuse theorie de-
vant la Socicte anatomique, et noiis devons dire qu'ii nous a parfaitenuMit con-
vaincu, ainsi , que tous los niembres de la Socicte qiii assistaient a cette scance.«
Die MARTiNS'sche Angalie emer Drehung von 180" für den Itumerus des Menschen
wird dabei als ricldig angenommen. -
2) Die Geschichte der Verglcichung findet sich bei Martins gleichfalls ausfuhrlich
besprochen. In gedrängterer Form habe ich in meiner Ahandlung über den Carpus
und Tarsusdas Wichtigste darüber zusammengestellt. Von einigen damals mir nicht
7.u:.;änglichen AbliHudlungen war mir mzwischen Einsicht zu nehmen gestattet.
Die eine, Etüde d'Anatomie philosophique sur la main et le pied de l'homme et
sur les Extremites des Mammifercs ramenees au type pentadactyle, par les pro-
fesseurs N. Joly, etA. Lavocat, Toulouse 1853, vertritt die Principien der Geoffroy-'
sehen Schule. Wenn diese auch als »die wahren Grundlagen einer wirklichen
wissenschaftlichen Vergleichungsmethode« aufgeführt wurden, so bewähien sie sich
doch nur sehr wenig als solche, wie alsbald aus der Aufstellung von zwei je fünf
Stücke umfassendoii Reihen von Carpus oder Tarsusknochen hervorgeht. Hieifür wie
für andere Aufstellungen sucht man vergeblich nach einer »wirklich wissenschaft-
lichen« Begründung, denn das »Gesetz der Analogie« lasst auch hier im Stich. Viel
wichtiger ist die Arbeit von G. M. Humphry : Observations on Ihe limbs of verle-
Israte animals, the plan of Iheir construction ; thcir homology; and the comparison
of Ihe fore and iiind limbs. Cambridge and London, 1860. Obgleich keine neuorn
Thatsachen biingcnd , ist die Abhandlung doch reich an tielllichen IkMiierkuiigen
Da jedoch zum Versländniss der unterhalb der Saugelhiere stehenden Classen
durchaus neue Untersuchungen nöthig waren, so würde sie schwerlich einen Ein-
fluss auf die Ergebnisse meiner Arbeil gehalit haben Da die Abhandlung auch der
.MARTiNsscIien Drehung des Humerus entgegentritt, werde ich in dieser Arbeit da-
! auf zurückkommen müssen.
lieber die Dreluiiip; des Iliimerns. 55
sich befand. Dioso Diohuni: \\ ird jilleidings nicht als thatsächlich sich
voll/idiend angenommen , sondern nur im Vergleiche zum Fenuu" so-
wohl , als zur llumerusslellung niedrer Wirbellhierclassen als virtuell
vorhanden aufgestellt. Zur l'rüfi^ng dieser Aufstellung ist vor Allem
ein bestimmterer Nachweis des Verhaltens des proximalen und distalen
Humerusendcs nölhig, denn die Angaben von Martins, dass eine durch
den Hals des numerus gelegte Axe in derselben Ebene liege milder durch
das distale Ende gelegten Queraxe ist nicht sicher erwiesen, und ergibt
sich schon bei blosser Betrachtung mehrerer Ilumeri als keineswegs
durchgreifend. Eine zweite Frage betridt die Jugendzustände des nu-
merus, aus welchen zu ermitteln wäre, ob die Stellung der bei(i(M
Enden zu einander stets die gleiche sei.
Für die erste Frage ist eine von Lucae i) gemachte Beobachtung
von Bedeutung, nach welcher beim Neger das distale Ende des nume-
rus eine andere Stellung zum Gelenkkopfe besitzen soll, als beim Euro-
päer. Welcher hat das durch mehrere Messungen bestätigt, die von
Lucae veröffentlicht worden sind. 2) Dem Verhalten beim Neger wird
der Befund des Humerus eines Europäers und eines Juden entgegen-
gestellt. Das Verfahren Welcker's bestand darin »auf dem Caput hu-
meri eine Linie aufzutragen, welche die Richtung bezeichnet, in wel-
cher der Gelenkkopf sich nach der Schulter hinwendet«. Sie verläuft
an der Insertionsfacelte des Muse, supraspinatus nach dem rinleren
etwas lippenförmig prolongirten Rande des Gelenküberzuges \m\",
sodann wurden den Condylen desCubitalendes zwei Stecknadeln ein-
gefügt. Der Knochen wurde nun in einem Glaskasten senkrecht auf-
gestellt, Kopf nach oben, und zunächst dieser mil dem Fadenkreuzdi-
opter nach der LLCAE'schen Methode gezeichnet. Die auf das Caput
humeri aufgetragene Linie »wurde in die Zeichnung mit aufgenommen,
zugleich aber auch diejenigen Theile des Cubitalendes , welche bei
dieser Aufstellung des Knochens sichtbar waren sanunt den Steck-
nadeln. Hierauf wurde d(>r Knochen mit deui unteren Ende nach
oben aufgestellt, und die Unterseite des Piocessus cubitalis saninit den
Stecknadeln gezeichnet. « Durch Uebertragung der einen Zeichnung
auf die andere unter Anpassung an die daselbst angezeichneten Axen-
linien konnte dann der zwischen beiden bestehende Winkel genxvssen
werden.
Aus denauf diese Art ausgeführten Messungen Welcker's gehl zwar
hervor, dass die Stellung des distalen Endes zum Humerusko|tf beim
1j j^bhandl. der Seniieiiber;^. natiut Gesellscli. V. Bd.
2) Archiv f Aiitliiopolo.me 11. S. 273.
56 C. fiegeiibaiir,
Neger eine vom Vrrh;ilten beim Eiiiopiior «nbwpichonde ist, Lucae will
aber darin keinen »typischen Unterschied zwischen Kuropäer und
Neger erkennen , da noch einige bei Europäern gemachte Messungen
ziemliche Schwankungen ergaben.« Bevor verglichen werden kann,
wird aber erst eine Norm in dem aus zahlreichen Messungen sich er-
gebenden Mittelwerthe aufzustellen sein.
Meine eigenen Untersuchungen erstreckten sich auf Messungen von
:}6 Oberarmknochen Erwachsener. Die Objecto gehörten theils dem
osteologischen Unterrichtsmaterial der hiesigen anatomischen Anstalt,
iheils den Skeleten der Sammlung an , die Messung habe ich ganz in
der von Welcher geübten Weise vorgenommen. Da aber, wie dieser
selbst zugesteht, verschiedene Beobachter die eine Linie »um I — 2
Winkelgrade verschieden « legen können, so hielt ich es nicht für nöthig
auch die Deciinalen mit in Anschlag zu bringen. Vielmehr möchte ich
der Möglichkeit einer verschiedenen Linienlegung einen viel grösseren
Breitegrad der Schwankung einräumen. Zunächst sind ja die beiden
Stellen, zwischen denen Welcker die Linie über das Caput humeii
zieht, keine festen Puncto. Die Supraspinatusfacelte ist verschieden
gross, und der »untere lippenförmig prolongirte Rand des Gelenküber-
zuges« fehlt sehr häufig vollständig. Eine Linie zu suchen die über die
Mitte des Gelenkkopfes hinwegziehend in eine durch die Längsaxe des
numerus gelegte Ebene fällt, hat mir dann das Rathsamste geschie-
nen. Für die Linie am distalen Ende des Humerus ergeben sich ge-
lingere Schwierigkeiten. Die verschiedene Gestaltung der Epicondylen
orhöhtjedoch gleichfalls die Unsicherheit. In den einzelnen untersuchten
Humeris ergab die Winkelraessung zwischen jenen beiden Linien fol-
gende Zahlen:
1.
10"
—
15.
12»
Weib.
2.
14»
altes Weib.
16.
3»
-
3.
32"
Mann.
17.
20»
—
4.
230
Weib.
18.
5"
-
5.
20"
-
19.
18»
Weib V. 28 Jahren.
6.
22«
-
20.
6»
Mann.
7.
50
Mann,
21.
11"
Mann v. 50 Jahren.
8.
10"
-
22.
12»
Mann.
9.
23»
-
23.
10"
-
10.
1 3"
Mann v. 64 Jahren.
24.
8»
_
11.
15»
Mann v. 30 Jahren.
25.
2«
_
12.
19»
Mann.
26.
14»
_
13.
5»
-
27.
14»
-
I'i.
10"
-
28.
11»
Weib.
Ueber die Drehnnjf des Hnmerns. 57
29. 9" \Voil)\. iO.liiluTii. :'.:<. I i" Mann.
30. 4" Mann. 34. 19"
31. 8" - 35. ()"
3'->. 9" - 3G. i"
Das Millcl von diesen 36 Fällen ergibt einen Winkel von l'2". Als
grössler Winkel erscheint einer von 32®, als geringster einer von 2"
In II Fällen bleibt der Winkel unter 10". In 18 Fällen bewegt er
sich zwischen I 0—20". Nur in i Fällen übersteigt er 20". Eine Ver-
schiedenheit des Verhaltens in beiden Geschlechtern kann nicht er-
kannt werden. Mit dem gefundenen Mittelwerthe stimmen auch die
wenigen von Anderen vollführten Messungen überein, Wklckkr gibt für
einen Fall 2,5", Lucae für drei Fälle 8", 10" und 13" an. Zähle ich
diese meiner Beobachtungsreihe bei, die dadurch auf H) Fälle sich er-
hebt, so wird der Mittelwerth nur wenig verändert, er wird sich dann
auf 11,8" stellen. Da die beiden Linien also noch nicht in eine durch die
Längsaxe des Humerus gelegte Ebene fallen, so ist folglich im Anschlüsse
an die MARTiNs'sche Auffassungsweise keine Drehung um 1 80" vorhanden,
sie wird im Mittel nur als eine von 168" bezeichnet werden dürfen.
Wenn sich nun schon von hier aus ein Vergleichungsobjcct mit
den Stellungen der Humerusenden bei anderen Rassen oder bei Thieren
finden Hesse, so schien mir wichtiger zuerst die zweite der oben be-
rührten Fragen ins Auge zu fassen, nämlich den Befund dieser Verhält-
nisse in jüngeren Lebensaltern. Das in dieser Richtung untersuchte
Material darf ich keinesw egs als ausreichend bezeichnen , allein es hat
pennoch einiges Bemerkenswerthe ergeben.
An Ilumeris von Embryonen aus der 12 — IG. Woche, die ich in
Untersuchung zog, war mir bedenklich die Messung auszuführen. Die
Beschaffenheit der knorpeligen Enden gestattete nicht , jene Linien mit
der annähernden Sicherheit zu bestimmen , dass die Ergebnisse einer
Winkelmessung mit jener an den Ilumeris von Erwachsenen vorge-
nonmienen, einen gleichen Anspruch auf Zuverlässigkeit hätten machen
können. Ich nahm daher die Untersuchung von älteren Embryonen auf.
Von der 16-33. Woche habe ich 8 Exemplare untersucht, und die
Winkel jener beiden Linien stellten sich wie folgt heraus.
1. 16. Woche 48" 5. 20. Woche iS"
2. 17. - 49" 6. 24. - 43"
3. 18. -• 50" 7. 33. - 22"
4. 19. - 30" 8.1) 33. - 59"
Da ich nicht eine grössere Anzahl aus gleichem Alter untersucht
1) Vergl. Taf. I. Fig. III.
1^ r. neuciibanr,
habe, so können die gefundenen Zahlen in Anbetracht der Möglichkeit,
ja sogar Wahrscheinlichkeit einer bedeutenderen Schwankung, keines-
wegs als Normzahlen für einzelne fötale Lebensperioden gelten , und
ich muss mich sogleich gegen jede derartige Unterstellung verwahren.
Aber aus der kleinen Untersuchungsreihe kann dennoch geschlossen
werden, dass die Winkelstellung der beiden Linien eine bedeutend an-
dere ist, als beim Erwachsenen. Winkel von 59", 50", 49", selbst in*',
fehlen in der oben vorgeführten Reihe von Humeris Erwachsener
gänzlich. Wir können also nur das, aber auch mit Sicherheit behaup-
ten, dass der Mittelwerth der Winkel jener beiden Linien beim Föüis
ein bedeutend grösserer ist, als beim Erwachsenen. Er stellt sieh
etwas über 4H", gegenüber 12" bei Erwachsenen.
Daran schliessen sich einige Messungen von Neugebornen. Ich
fand an solchen die Winkel :
1. 35" 3. 45"
2. 59" 4. 40"
Wir erhalten hieraus im Mittel fast 45". Der Winkel ist somit
offener als bei den Endoryonen. Wenn man von letzteren ausgeht, so
könnte man schliessen, dass der Humerus in einer Lebensperiode wie-
der eine rückläufige Drehung vollführe. Das dürfte aber doch ein grober
Irrthum sein. Die für Neugeborne gefundenen Grade sind zwar im
Mittel höher als das Mittel der Grade bei Embryonen beträgt, allein hier-
bei ist nicht zu vergessen , dass jene Mittelwerthe aus einer verhäll-
nissmässig sehr geringen Anzahl von Einzelfällen gewonnen sind. Vier,
und Sieben. Jeder neuhinzukommende Fall kann den Mittelwerth be-
deutend anders stellen. Nehme ich an, dass von den Embryonen
No. 4 u. 7 nicht untersucht worden wäre, so würde das Mittel der an
den fünf andern gemessenen Winkel fast 48" ergeben haben, somit im
Vergleich zu dem Resultate bei Neugebornen einen um 5" offenem
Winkel. Ich halte also diese Messungen keineswegs für zahlreich ge-
nug, um ganz specielle Schlüsse daraus zu ziehen.
Dasselbe muss ich auch von den Messungen sagen die von Kindern
aus dem ersten Lebensjahre genommen wurden. Daraus habe ich die
Humeri von sieben Individuen ') untersucht, die ich in eine nach dem
Alter geordnete Reihe stelle :
V Ich halte nicht für iiboiflüssi!^ anzuführen, dass die Untersuchuni,'en der
Jii!,'endzustäiHie des Humerus in keinem lalle au trockenen Exemplare u anucstellt
wurdun, die hierzu vollstäiulii; untioeiunel sind D.ihei kam es auch, dass ii-h mich
auf eine geringe Anzahl beschränken, und das i^auze von der anatomischen Samm-
Iclici die Drcliiiiiü des lliiiiicnis. (S$
1) .^ Mon;.lr
. . ;■):;<>
2)i) ;i -
34»
•A) 5 -
39 "
4) 6 -
38 ü
5) 8 -
22
(i) 9 -
370
7) 9 -
40
Als Miltol ergibt sich hieraus nahebei .{S". Von den 7 Fallen bietet
nur Einer- einen Winkel dar, der an die bei Erwachsenen gefundene
Reihe sieh ansehliessl; ein anderer reicht nahe heran, aber auch da
zählen diese zu den höhern. Die fünf übrigen Falle ergeben Winkel,
deren Gradzahl sich selbst weit über die bei Ei'wachscnen gefundenen
extremen F'älle erhebt. (Von älteren Kindern habe ich nur bei einem
i jährigen Knaben den Iliunerus untersucht und da einen Winkel von
1 .)" gefunden, welchen sehr vereinzelten Fall ich jedoch nicht mit in
Anschlag bringen will.) Es kann also für die bei Kindern aus dem ersten
Lebensjahre gefundene Stellung des Humerusendes Aehnliches wie für
die Ilumerusstellung bei Embryonen und Neugeborenen ausgesprochen
werden, dass nämlich der Winkel, den jene beiden durch die (ielenk-
enden gelegten Linien mit einander bilden , ein bedeutend offener
ist. Rechnen wir alle einzelnen (19) Fälle, die oben in verschiedenen
Kategorien vorgeführt wurden, zusammen, so erhalten wir für die Stel-
lung beider Gelenkenden im fötalen und ersten Kindesalter einen Win-
kel von nahezu 12 0. Somit ergibt sich ein nicht unbeträchtlicher Unter-
schied gegen die Stellung des Gelenkendes der Erwachsenen, und man
wird das letzte Verhalten nur dann aus dem frühern ableiten können,
wenn man mit der allmählichen Ausbildung des llumcrus eine ebenso
allmäliliche Aenderung der Queraxenrichtung des untern Gelenkendes
staluirt. Angesichts dieser Thatsache wird ei ne D re hung des Hu-
mer us um seine Längsaxe als erwiesen betrachlot werden
dürfen. Der llumcrus nuiss um von dem frühern Zustande dei- Stellung
der beiden Queraxen in den spätem überzugehen, eine Drehung um
seine Längsaxe vollführen, durch welche der ulnare F>}ucond\lus weiter
nach innen, der radiale weiter nach aussen rückt. F^in die drei ersten
Figuren auf der beigegebenen Tafel vergleichender Blick gibt der Vor-
stellung von jener Veränderung eine Unterlage. In F'ig. HI. sind die
beiden Gelenkenden des Humerus eines 8 monatlichen Fölus nach der
Iuiil: uvbnioue Material an trockenen Skelelen aus veischicdenen jugendlichen Allern
unl)eiiuf/.t lassen niusste.
\, Vergl. Taf. \. Fig. II.
60 C. fipoeiibaiir,
WELCKER'schcn Weise in eine Ebene in einander gezeichnet. Fig. II.
stellt in gleicherweise den Humerus eines ^'/s Monate alten Kindes dar.
Fig. \. endlich kann als Schema für die aus meinen F'ällen berechnete
Mittelstellung des Humerus der Erwachsenen gelten. Von den dargestellten
Axen wird in Fig. III. b näher an B und a an A rücken müssen um in
die in Fig. II. dargestellte Stellung zu treten, sowie in dieser Figur der
gleiche Vorgang Platz greifen muss um in die in Fig. I. vom erwach-
senen Humerus dargestellte Lage zu treten. Damit hätte also die Mar-
TiNs'sche Theorie von einer Drehung des Humerus im Allgemeinen eine
Bestätigung gefunden, wenn auch nicht nachgewiesen wurde, dass dem
Humerus anfänglich eine mit dem Femur gleiche Stellung zukommt,
und dass die Drehung sich über 1 80^' erstreckt. Der Nachweis einer
Drehung widerlegt zugleich die von Humphry gemachten Einwürfe
(op. cit. p. 22), und wenn auch zunächst nur der zweite derselben,
dass nämlich zu keiner Entwickelungsperiode eine Drehung beobachtet
worden sei, haltlos werden dürfte, so fallen doch nicht minder auch
die übrigen, und zwar um so leichter, als sie nur auf theoretische Be-
denken gegründet sind.
In welchem Maasse die Erscheinung zu verschiedenen Perioden
der fötalen Entwickelung sowie des jugendlichen Alters fortschreitet,
ist aus meinen Beobachtungen, die nur an ganz wenigen gleichaltrigen
Knochen angestellt wurden, nicht zu ersehen, und nur das eine möchte
ich daraus noch anführen , dass während des ersten Lebensjahres im
Vergleiche mit der embryonalen Periode die Drehung noch eine unbe-
deutende ist. Es lässt sich also nur vcrmutlien, dass die Zeit des gröss-
ten Längswachsthums des Körpers wohl auch für den Humerus jene
Veränderung am raschesten herbeiführen wird. Die dabei thätigen
Vorgänge werden selbstverständlich weniger in Resorptions- und Neu-
bildungserscheinungen an der Oberfläche des Knochens gesucht werden
dürfen, als in dem Wachsthum durch Knorpel an den Gelenkenden oder
vielmehr an den Enden der Diaphyse.
Vergleicht man mit dem von mir für die Jugendzustände des Hu-
merus angegebenen Verhalten die vom Humerus der Neger bekannt ge-
wordene Stellung der distalen Gelenkenden , so wird in letzleren ein
beim Europäer vorübergehender Zustand zu erkennen sein. Welcker
fand für drei Fälle den betreffenden Winkel zu 26^, 29*' und 40«.
LucAE gibt eine Messung zu IS« an. Ich selbst habe an zwei Ske-
leten gleichfalls Messungen angestellt, und fand an dem einen männ-
lichen Skelete den Winkel zu 39», dagegen an dem andern, weiblichen,
von nur 4". Dadurch stellt sich dieser Humerus weit über das für den
Europäer nachgewiesene Mittel. Das letztere Ergebniss mahnt sehr drin-
lieber die Drehung des Hiimeriis. 61
gend derarti{2;e Unlersucliuni»t'n in möglichst weil ausgedehntem Maass-
stabe auszuführen, oder doch dem vereinzelten Falle nur den geringsten
Werth zuzuschreiben. Aus den drei von Welcher untersuchten Fallen
ergibt sich ein Mittel von iJS*^, rechnet man dazu noch den von Lucae •)
aufgeführten, sowie meine beiden, so stellt sich das Mittel auf 26^, also
tloch noch bedeutend verschieden von den für Europäer gefundenen.
Diese Stellung der beiden Axen an) Negerhumorus stellt Fig. IV. auf
der beigegebenen Tafel dar.
Wenn Lucae anzunehmen scheint, dass die Schwankungen, welche
sowohl bei Negern als bei Europäern in der Winkelstellung des distalen
Gelenkendes des Ilumerus bestehen, nach keiner Seite hin einen Aus-
schlag geben, so wird dies doch nur auf die von ihm angeführte ver-
einzelte Messung sich beziehen müssen. Allein selbst in diesen Schwan-
kungen lässt sich nicht nur ein bestimmter Breitegrad nachweisen, son-
dern auch das aus ihnen hergestellte Mittel erscheint als ein ganz
anderes für den Neger-Humerus als für jenen des Europäers. Würden
die begonnenen Messungen fortgesetzt, so wird sich ohne Zweifel mit
bedeutenderer Sicherheit ein positives Urtheil gewinnen lassen. Auch
wird sich gewiss die Vermuthung Lucae's bestätigen, dass dem Neger
der grössere Winkel keinesfalles allein zuzuschreiben sein möchte.
In dieser Hinsicht ist ilie von demselben Autor gemachte Angabe, dass
der fragliche Winkel beim Ilumerus eines Malayen-Skelets sogar oi ^
betrug, sehr bemerkenswerth. Es wird aller Wahrscheinlichkeit gemäss
nachzuweisen sein, dass, bei aller Schwankung individueller Zustände,
im Ganzen genommen doch die Rassenverschiedenheit auch an jenen
Verhältnissen sich kundgibt, die dadurch an ihrem anscheinend unter-
geordneten Werlhe heraustreten müssen.
Diese Verschiedenheit der Winkelstellung der Gelenkenden, mag
sie sich aus einer Vergleichung verschiedener Rassen der Menschen,
oder aus einer Vergleichung des sich entwickelnden Humerus mit dem
ausgebildeten ergeben, empfängt ihre tiefere Bedeutung erst durch eine
über andere Wiibelthierklassen ausgedehnte Vergleichung, wie sie von
Martins versucht worden ist. Sind auch die bezüglichen Angaben die-
ses Forschers keineswegs genau , w ie schon aus dem oben für den
i) Obgleich Lücae eine andern Messungsweise hat, indem er die untere Quer-
axe durcti das Cubitalgelenk und niclit durcti die Epicondylen legt, so glaube ich
doch seine Messung hier beirechnen zu dürfen , denn einmal sind die Untei schiede
nicht sehr bedeutend, und zweitens handelt es sich doch hier nur um sehr provi-
sorische Ergebnisse.
62 C. Gegenbaur,
menschlichen Humerus /Air Genüge hervorgeht, ^) so ist doch die Haupt-
sache richtig, dass in den untern Abtheilungen der oft beregte Winkel
ein viel grösserer ist. Bei den Reptilien, auch bei den Vögeln, kommt er
nahezu einem rechten gleich. Bei den Säugethieren , wo, dem oben
angeführten zufolge, von Martins noch die Stellung des Golenkkopfes
zur Medianebene des Körpers mit in Betracht gezogen wird, soll er 180"
betragen, allein es soll auch das proximale Ende des Humerus um 90"
gedreht sein , wie aus der Stellung der Tubercula hervorgehen soll.
Gegen diese letztere Auflassung möchte ich Bedenken äussern. Die Dre-
hung bezieht sich nämlich dann nicht mehr auf den Humerus allein,
sondern auf ihn und seine Stellung zum Körper, wodurch die in Be-
tracht zu ziehenden Instanzen ausserordentlich con)plicirt werden. Will
man hierauf eingehen , so niüsste die Stellung der Scapula vor allem
berücksichtigt werden. Bei einer Beschränkung der Untersuchung auf
den Humerus — und diese ist bei einer am Humerus sich vollziehenden
Erscheinung gewiss für's erste gerechtfertigt — ergibt sich für die Mehi-
zahl der Säugethiere auf keinen Fall eine viel grössere Drehung als bei den
Reptilien. Ich linde bei der Hauskatze in einem Falle einen Winkel von
10(1", in einem zweiten von 93". Beim Tieger fand ich 9:i"; beim Bären
94". Ferner beim Rinde 61" (bei einem I Fuss langen Rinderfötus aber
gleichfalls nur G:J"). Von Aften habe ich Cynoccphalus hamadryas unter-
sucht. Der bezügliche Winkel beträgt 51". Vom Orang gibt ihn Lucak
auf io'» an. Eine beiläufige Schätzung vieler anderer Säugethier-Hume-
rus lässt mich annehmen, dass der Winkel seltene!' einen rechten vor-
stellen möchte, dass er also meist geiinger ist als bei Reptilien.^)
1) Audi die Annahme dass am Femur ein Zusammenfallen der durch den Ge-
Icnkkopf und der durcli die Condyien gelegten Axen in eine Ebene bestehe, ist,
wie längst bekannt, nithl richtig. Ich finde den Winkel den beide Axen zu einandir
bilden am Fenuir der Erwaclisenen ia 6 Fällen sehr verschieden : 10", 7", n", i2*,
22", 4". Die untere Axe stellt sicli median h i n le r die obere, somit erscheint ein
dem numerus analoges Verhältniss, das man unter der allerdings hier noch nicht-
erwiescneu Voraussetzung eines anlänglichen Zusamnienlällens beider Axen gleich-
falls als Drehung um die Längsaxo bezeichnen konnte.
2j Bei den Winkclmessungen am Humerus von Säugethieren habe ich dasselbe
Verfahren wie bei den Messungen am menschlichen Humerus eingeschlagen. Dass,
wie nicht anders zu erwarten, auch hier individuellen Schwankungen beslehen,
zeigen die beiden Messiuigen an Katzen. Der Werlh einzelner Maassangaben ist da-
her auch hier ein sehr untergeoidneter , so dass ich i\cn angeführten Zahlen der-
selben kein besonderes (iewichl beilegen kann, und nucli liier wiiiischen möchte,
dass ein reichliches Material in Hcniitzung gezogen werden uiocbte Selbst die An-
gatten eines Mittels für den inenschlicben tluinerus liin ich geneigt für sehr (iru\i-
sorisch anzusehen.
Ueber die Drehiino des Humenis. 63
Eine ähnliche Bewegung wie ich sie oben für den Verlauf der
Entwickelung des menschlichen llunierus gezeigt habe, wird sich also
auch innerhalb der Reihe der mit vei-gleichbnren Vordergliedmassen
ausgeslalleten Wiibelthiere herausstellen. Nehmen wir als Ausgangs-
punct für diese Drehung jene Stellung an , wo der radiale Epicondylus
median, der ulnare lateral gerichtet ist, so dass also die Vorderextremi-
tät zu der hinteren noch vollständig homotyp erscheint, so wird der
radiale E|)icond\lus allmählich nach voi'ne sich richten, dadurch rückt
der ulnare nach hinten. Bei den Reptilien wird dann eine solche Dre-
hung um '.'0" erfolgt sein; ähnlich bei den Vögeln. Vollständiger wird
die Umdrehung bei den Säugethieren ; so beträgt sie, wie aus obiger
^Vinkelmessung hervorgeht, beim Rinde 119"^, bei Cynocephalus
129**, beim Orang 135". Am Malayen-Humerus nur 129"; am Humerus
der Neger (im Mittel) 148". Am fötalen Humerus des Europäers beträgt
sie 139". Im ersten Leiiensjahre lil"; beim Erwachsenen im Mittel
IG8", in einzelnen Fällen sich auf 179" erhebend, aber auch auf 148"
stehen bleibend. Im fötalen Zustande bietet der Humerus des Europäers
eine Stellung seiner Gelenkenden die jener bei niederen Rassen nahe
kommt, und, wenn auch etwas entfernter, an die bei Säugethieren ge-
gebenen bleibenden Zustände sich reihen lässt. Aus dieser Vergleichung
ist die Ivrklärung für die Verschiedenheil der Stellung der Gelenkenden
des lluincrus der Erwachsenen und des Fötus zu entnehmen. Der
fötale Zustiind l)ietel uns hier, wie auch an so vielen anderen Organen,
die tluich Verei'bung überkonmiene Einrichtung dar, aus welcher all-
mählich das erst später erworbene Verhallen sich ausbildet.
Erklärung zur Tafel.
Alle vier Kigurt'u sind nach clor i icAK-\Vi;LCKER'schen Weise gezeichnete. Um-
risse der beiden Geleukenden des Humerus.
A— B stellt die durch den Gelenkkopf gelegte A\e vor,
a — h lepräsentirl die durch das distale Humeruseiide gelegte Axe.
Fig. I. Schema der mittleren Axeiislellung für den Erwachsenen.
(Nachdem suh No. 22 aufgeführten Humerus).
Fig. II. Von einem 3'/^ Monate allen Kinde.
Fig. 111. Von einem 8 monatlichen Fötus.
Fig. iV. Von einem Neger (das aus den bis jetzt bekannten xMessungen
sich erce'ende .Mittel darstellend.)
Monographie der Moneren.
Von
Ernst Häckel.
(Hierzu Taf. II. und III.)
I. Geschichtliche Einleitung.
Moneren!) habe ich in meiner Generellen Morphologie der Orga-
nismen^) diejenigen auf der tiefsten Stufe der Organisation stehenden
Lebewesen genannt, deren ganzer Körper in vollkommen entwickeltem
und frei beweglichem Zustande aus einer gänzlich homogenen und
strugturlosen Masse , aus einem lebendigen , mit Ernährung und Fort-
pflanzung begabten, Eiweissklümpchen besteht. In vielfacher Beziehung
sind diese einfachsten und unvollkommensten aller Organismen^) vom
höchsten Interesse. Denn offenbar tritt uns hier die eiweissarlige orga-
nische Materie als das materielle Substrat aller Lebenserscheinungen
nicht nur unter der einfachsten wirklich beobachteten Form, sondern
unter der einfachsten Form die überhaupt denkbar ist, entgegen. Ein-
fachere, unvollkommenere Organismen, als die Moneren sind, können
nicht gedacht werden.
Der ganze Körper der Moneren stellt in der That , so befren)dend
dies auch klingen mag, weiter Nichts dar, als ein einziges, durch und
durch homogenes, in fest flüssigem Aggregatzustande befindliches
1) fiori'jori^, einfach. Am passendsten dürfte die Bezeicluiung als Neutrum ge-
braucht werden: tö fjorriQtg, das Moner.
2) Ernst Haeckrl, Generelle Morphologie derOrganismen. Berlin, 1866. Erster
Band: .MIgonieine Analomie der Organismen Zweiter Band: Allgemeine Ent-
wickelungsgcsehichte der Organismen.
3) I. c. Vol. I, Cap. V. Organismen und Anorgane, p. 135. Cap. VI: Schöpfung
und Selbstzengiing, p. 18'2. I. c. Vol. II, Systematische Eiideituni.', p. \XII.
MoiioßTaphie der Moiieieii. 65
Kiwtissküipeiclien. Die äussere Form isl gaii/ unbeslininil, in l'orlwali-
reiuloin Wechsel hegrift'en, im Ruhezustand kugelig zusammengezogen.
Von einer inneren Slruotur, von einer Zusaninienselzung aus ungleich-
artigen TheilcluMi, isl auch bei Anwendung unserer schärfsten Unler-
scheidungsmiltel keine Spur wahrzunehmen. Da die gleichartige Ei-
weissmasse des Monerenkörpers noch nicht einmal eine Differenzirung in
einen inneren Kern (Nucleus) und einen ausseien Zellstofl' (Plasma) er-
kennen Uisst, vielmehr der ganze Körper aus homogenem Plasma oder
Protoplasma besteht, so erreicht hier die organisirende Materie noch
nicht einmal den Formwerlh einer einfachsten Zelle. Sie bleibt auf der
denkbar niedrigsten Stufe der organischen Individualität, auf derjenigen
einer einfachsten Gymnocjtode stehen.
Die seit zwanzig Jahren so vielfach behandelte Frage von der Grenze
zwiscIuMi Thier- und Pllanzenreich wird durch die Moneren zur Ent-
scheidung gebracht; oder richtiger, es wird durch sie bewiesen, dass
eine vollkommene Scheidung beidei- Reiche in dem Sinne, wie sie ge-
wöhnlich versucht vNiid, nicht möglich ist. Offenbar sind die Moneren
so indifferente Organismen, dass man sie mit gleichem Rechte, oder
vielmehr mit gleicher Willkür, als Urthiere oder als Urpflanzen be-
trachten könnte. Sie könnten eben so gut als die ersten Anfänge der
thierischen, wie der pflanzlichen Organisation angesehen werden. Da
aber kein einziges entscheidendes Merkmal sie auf diese oder jene Seite
drängt, erscheint es vorläufig das Richtigste, sie alsMittelwesen zwischen
echten Thieren und echten Pflanzen aufzufassen, und nebst den Rhizo-
poden, An)oeben, Diatomeen, Flagellaten etc. injenes Unbestimmte, Thier-
und Pflanzenreich verbindende Zwischenreich zu verweisen, welches
ich das Reich der Urwesen oder Prolisten genannt habe. ^)
Die Moneren sind in der That Protisten. Sie sind weder Thiere
noch Pflanzen. Sie sind Organismen dei' ursprünglichsten Art, bei de-
nen die Sonderung in Thiere und Pflanzen noch nicht eingetreten ist.
Aber selbst die Bezeichnung Organismus scheint auf diese einfachsten
Lebewesen kaum anwendbar. Denn in dem ganzen Begi-itfe des »Orga-
nismus« liegt nolhwendig die Zusammensetzung des Ganzen aus un-
gleichartigen Theilen, aus Organen oder Werkzeugen. Mindestens zwei
verschiedenartige Theile müssen verbunden sein , um in diesem ur-
sprünglichen Sinne die Bezeichnung eines Körpers als Organismus zu
rechtfertigen. Jede e.chte Amoebe, jede echte (d. h. kernhaltige) thie-
rische und pflanzliche Zelle, jedes Thier-Ei isl in diesem Sinne bereits
1 t6 TT nit'jTiaiov, Da.s Allererste, Urspriinj^liche. Generelle Morpliolotsie, Vol. t,
p. 203, 2(5 ; Vol. II, p. XX.
BaDd IV 1. 5
QQ Ernst Häckel,
ein elementarer Organismus , aus zwei verschiedenen Organen , dem
inneren Kern (Nucleus) und dem äusseren Zellstoff (Plasma oder Proto-
plasma) zusammengesetzt. Mit diesen letzteren verglichen sind die
Moneren eigentlich »Organismen ohne Organe.« Nur in physio-
logischem Sinne können wir sie noch Organismen nennen , als indi-
viduelle Theile der organischen Materie, welche die wesentlichen Lebens-
ihiitigkeiten aller Organismen, Ernährung, Wachsthum und Fortpflan-
zung vollziehen. Aber alle diese verschiedenen Functionen sind noch
nicht an differente Theile gebunden. Sie werden alle noch von jedem
Theilchen des Körpers in gleichem Maasse ausgeübt.
Wenn schon aus diesen Gründen die Naturgeschichte der Moneren
sowohl für die Morphologen wie für die Physiologen vom höchsten In-
teresse sein muss, so wird dies doch noch gesteigert durch die ausser-
ordentliche Bedeutung, welche diese einfachsten Organismen für die
wichtige Lehre von der Uizeugung oder Archigonie (Generatio spon-
tanea) besitzen. Dass die Annahme einer einmal oder mehrmal stattge-
fundenen Urzeugung gegenwärtig zu einem logischen Postolat der
philosophischen Naturwissenschaft geworden ist, habe ich in meiner
generellen Morphologie gezeigt. Die meisten Naturforscher, welche diese
Frage verständig behandelten, glaubten als die einfachsten, durch Ur-
zeugung entstandenen Organismen, aus denen alle übrigen sich ent-
wickelten, einfache Zellen annehmen zu müssen. Allein eine jede echte
Zelle zeigt schon die Zusammensetzung aus zwei differenten Theilen,
aus Nucleus und Plasma. Offenbar ist die unmittelbare Entstehung
eines solchen Gebildes durch Urzeugung nur schwer denkbar, viel
leichter dagegen die Entstehung einer ganz homogenen organischen
Substanz, wie es der structurlose Albun)in-Leib der Moneren ist.
Aus diesen und anderen später zu erörternden Gründen scheint es
angemessen, schon jcizt, wo wir erst im Anfang unserer Kenntnisse
von diesen äusserst interessanten Urwesen stehen, Alles darüber Be-
kannte zusammenzufassen. Den unmittelbaren Anstoss zu diesem mo-
nographischen Versuch gab mir eine Reihe von neuen Beobachtungen
über einige bisher unbekannte Moneren, welche ich im Winter 1S()6/67
an dei" Küste der canarischen Insel Lanzarote anzustellen Gelegenheit
halte. Bevor ich diese Beobachtungen mittheile, scheint es mir zweck-
mässig, eine kurze geschichtliche Skizze der bisher veröffentlichten
sicheren Mittheilungen über Moneren zu geben. Ich bemerke dabei,
dass ich mich dabei ganz auf die echten Moneren beschränke, d. h. auf
nackte Plasmaköiper ohne Kerne und sonstige Organe, und dass ich die
durch den Besitz eines oder mehrerer Kerne unterschiedenen Protoplasten
(Amoeben, Arcellen etc.) sowie die durch eine differenzirte Schale oder
' Monographie der Moiicicii. 67
iVIeriibran ausgezeichneten Rhizopoden , Siplionecn etc. dabei niclil be-
rücksichtigen werde.
Das erste Moner, dessen Nalureeschichte vollständig veröffentlicht
wurde, ist Pro to gen es pri ui ord iaii s , welchen ich im Frühling
I8('>i im Mittelmeere bei Nizza beobachtete, i) Frei im Seewasser
schwimmend erschien dieses Moner als ein durchsichtiges, kugeliges
Schleimklümpchen von ungefiihr I Mm. Durchmesser (die kleineren
Exemplare nur von 0,1 Mm. Durchmesser). Nur ungefähr ein Drittel
dieses Durchmessers kam auf die innere Centralmasse des Körpers,
eine homogene, solide Sarcodekugel, während die äusseren zwei Drittel
sich auf eine peripherische Kugelzone vertheilten, die lediglich aus tau-
senden von feinen radialen Schleimfäden bestand. Diese Fäden, die
sogenannten Pseudopodien, welche theils einfach, theils verzweigt und
anaslomosirend nach der Peripherie liefen, strahlten unmittelbar von der
Peripherie des centralen Eiweisskörpers aus. Sie zeigten durchaus
dieselben Lebenserscheinungen, wie die gleichen Sarcode-Fäden der
echten Rhizopoden Acyttarien und Radiolarien). Die festflüssige Ei-
weissmasse des ganzen Körpers war in beständigen Bewegung, einer bald
langsameren, bald rascheren Strömung begriffen, u eiche an der passiven
Wanderung der feinen, gewöhnlich zahlreich in der Eiweissmasse ver-
tl)eilten Körnchen leicht zu verfolgen war. Die Sarcodefäden wechselten
beständig an Zahl, Form und Grösse; sie verästelten sich und anasto-
mosirten, flössen wieder auseinander und wurden in die centrale Haupt-
masse zurückgezogen. Kurz sie zeigten ganz dasselbe Schauspiel, wel-
ches Max ScHi'LTZE an den Polythalamien ^) und ich selbst an den Radio-
larien ■*) so ausführlich und vielfach beschrieben haben. Auch die
Nahrungsaufnahme des Protogenes war dieselbe, wie bei den letzt-
genannten echten Rhizopoden. Kleinere Körper (Diatomeen, einzellige
Algen etc.) blieben an der klebrigen Oberfläche der Eiweissfäden, wenn
sie zufällig mit ihnen in Berührung kamen, hängen, wurden von ihnen
umflossen, und dann langsam in die centrale Eiweissmasse hineinge-
zogen. Grössere Körper, wie z. B. Peridinien (I. c. Fig. 2) wurden zu-
letzt vollständig von dem Pro togen eskörper umflossen ; erst nachdem
dieser den brauchbaren Körperinhalt des Opfers assimilirt, zog er sich
von der unverdaulichen Schale wieder herab. In einem flachen ühr-
1 Ernst Haeckei. , über den Sarcodekörpor der Rhizopoden. Zeitschrift für
wissenscli. Zoologie, 1865. XV. Bd. p. 360. Tat. XX\I. Fis^ 1, 2.
2 Mai Schultze, über den Organismus der Fol\ thaianuen. iLcipzig, 1854. p.
17 ff.).
3 Ernst Haeckel, Die Radiolarien, eine Monographie Berlin, 1862 p. 86 ff.
5*
^.c Ernst Häckel,
DO
oläscben nnt wenig Seevvasser längere Zeil stehen gelassen breitete
sich der Protoeenes auf dessen Boden in Form einer dünnen hyahnen
Schleimplatte aus. Diese Platte erhielt sehr unregelmässige lappige Um-
risse und einen Durchmesser von 3-4 Mm. Das Wichtigste jedoch,
was ich an dem Protogenes constatiren konnte, war seine Fortpflanzung
,lurch Selbsttheilung. Dieselbe erfolgte durch einfachen Zerfall des
kugeligen Schleimkörpers in zwei Hälften, ohne dass ein besonderer
Ruhezustand, eine Encystirung etc. vorhergegangen war.
Meinem Protogenes primordialis sehr nahe verwandt ist
wahrscheinlich die von Max Schultzk im adriatischen Meere beiÄncona
beobachtete Amoeba porrecta.') Dieses Moner ist zwar sehr viel
kleiner, als der Pro togenes primordialis, aber durch die geringe
Consistenz des Sarcodekörpers, sowie durch die lebhafte Körnchenströ-
mung Verästelung und Anastomosenbildung der Pseudopodien dem-
selben sehr ähnlich. Auch fehlen ihm der Kern und die contractile Blase,
welche die echten Amoeben auszeichnen. Es würde daher richtiger als
Proto^enes porrectus zu bezeichnen sein. Da jedoch seme Fort-
pflanzungs- und Entwickelungsgeschichte unbekannt ist, und ohne
deren Kenntniss, wie wir sehen werden, über die systematische Ver-
wandtschaft und Stellung der Moneren nicht sicher geurtheilt werden
kann, so muss die Natur der Amoeba porrecta als eines echten
Protogenes zweifelhaft bleiben.
Von der grössten Wichtigkeit für die Naturgeschichte der Moneren
sind die .Beiträge zur Kenntniss der Monadenu, welche L. Cienkowski
1S65 veröttentlichte.2) Diese interessanten Mittheilungen sind umso
wichtiger, als sie von einem Naturforscher herrühren, der eben so schart
und genau zu beobachten, als vorsichtig und kritisch zu schliessen ver-
steht Cienkowski beschreibt die Lebensgeschichte von fünf verschie-
denen Organismen der einfachsten Art, welche er in zwei verschiedene
Gruppen "^bringt: Mon adinae zoosporeae, welche sich durch
Schwärmsporen fortpflanzen; 1) Monas (amyli), 2) Pseudospora
3) Colpodella; und Monadinae tetraplastae, welche sich durch
Bildung von zwei oder vier actinophrysähnlichen Keimen fortpflanzen:
4)Vampyrellaund5)Nuclearia. In beiden Gruppen geht eine Ency-
stirung und ein Ruhezustand der Fortpflanzung der nackten Plasma-
körper, welche sich den Rhizopoden gleich ernähren, vorher. Die drei
1) Max ScHn,T/,E, Ucl.er den Organismus der Polythalamien , p. 8. Taf. VII.
" 2) L Cienkowski, Beiträae zur Kenntniss der Monaden. Scliultzes Arcluv für
mikrosk-pisctie .\natumie. 1865. Bd. I. p. 203. Taf. Xli-XIV.
Monographie der Moneren. 69
Genera Fseiidospora, CoIj)odeilii und Niiclearia inlerossiren
uns hier nicht weiter, da ilir iMasmakorper bereits einen Kern und
Vacuolen uniscbliesst, mithin den Fornnverth einer Zelle besitzt, üa-
i:egen sind Monas (ainyli) und Vainpyrella echte Moneren, deren
nackter Plasiiiakörper weder Kerne noch contractile Blasen besitzt.
Da der Ausdruck Mona s sehr Nieldeutic; ist, so habe ich die Monas
ainyli, auf u eiche Ciknkgwski diese Gattuns^ beschranken wollte, um
Verwechselungen zu veiinciden , l'rotonionas am\li genannt (Gen.
Morphol. Vol. 11, p. XXIll).
Protomonas amyli x^var bisher das einzige Moner, bei welchem
Schwärmsporenbildung beobachtet worden ist. Der hon)ogene Plasma-
körper derselben lebt in faulenden Nitellen , und gleicht einer kleinen
Actinophrys oder einer kleinen A^noeba porrecla, ohne Kern
und ohne contractile Blasen. Wenn er sich in den Ruhezustand be-
giebt, zieht er sich in einen lundlichen Plasmakörper zusammen,
welcher sich sodann mit einei- Membran umgiebt (encystirt). Dann
zerfallt der Körpei' in eine grosse Anzahl homogener Schwärmsporen,
welche spindelförmig und sehr contractu sind , und sich ähnlich einer
Anguillula schlängelnd mittelst einer oder zweier langer Cilien bewegen.
Oft fliessen mehrere Schwärmer durch Verwachsung) zusammen und
bilden ein Plasmodium, welches nach erfolgter Nahrungsaufnahme wie-
derum in den ruhenden Zustand übergeht (Cienkowski, 1. c. p. 213,
Taf. XII. Fig. 1—5).
Das Genus Va m p y r e 1 1 a pflanzt sich nicht durch Schwärmsporen,
sondern durch zwei oder vier actinophrysartige Keime fort. Der ho-
n)ogene Plasmakörper ist durch ziegelrothe Farbe ausgezeichnet.
Cfenkowski unterscheidet von diesem Genus drei verschiedene Arten.
Vampyrella Spirogyrae (I. c. Fig. i 'i — öG) bildet im Ruhezuslande
kugelige Blasen . deren dünne Membran einen homogenen rothen Plas-
makörper umschliessl. Diesei' zerfallL durch Tlieilung erst in zwei,
dann in vier Keime, welche die Hüllwand durchbrechen und dann
als rothe Amoeben mit spitzen Fortsätzen , in sehr wechselnder
Form sich umherh'ewegen. Mit ihren spitzen l'seudopodien bohren
diese Keime die Zellenwände der Spirogyra an, woiauf sie den
Plasmainhalt dcrsell)en herausziehen und in sich aufnehmen. Der
grüne Inhalt der ersteren erhält bei der Verdauung eine rothe Farbe.
In ähnlicher Weise bohrt Vampyrella pendula (I. c. p. 221, Fig.
37 — 6'} die Zellen anderer Algen ^Oedogonien , Bulbochaeten) an und
saugt deren Plasma heraus. Sie unterscheidet sich durch einen faden-
förmigen Fortsatz, welcher von dem Plasmakörper der birnförmigen Cyste
durch deren zugespitzten Stiel hindurch zui Ansatzslelle derselben geht,
70 Ernst Häckel,
>
und durch Mangel der Körnchenströmung an den aclinophrys-ähnlichen
Pseudopodien. Vampyrella vorax, eine diitte Art, lebt dagegen
von Diatomeen , Euglenen und Desmidiaceen , welche ihr formloser
Plasniakörpor überzieht, um dann Cysten von sehr verschiedener Form
und Grosso zu bilden (1. c. p. 223, Fig. 64 — 73).
Als P r 1 a m o e b a p r i m i t i v a endlich habe ich in meiner gene-
rellen Morphologie (Vol. I. p. I3;5, Anm.) ein kleines amoebenahnliches
Moner beschrieben , welches sich von den voihergehenden Monadinen
CiENKOWSKi's dadurch unterscheidet, dass es sich einfach durch Thei-
lung fortpflanzt, ohne vorher in einen Ruhezustand überzugehen oder
sich zu encystiren. Es gleicht in dieser Beziehung dem Protogenes
p r i mo rdialis, von dem es sich aber durch die kurzen, stumpfen,
nicht confluirenden Pseudopodien unterscheidet. Die nähere Beschrei-
bung dieser Protamoeba wird unten folgen.
Im Jahre 1866 sind mehrere meinem Protogenes primordialis
sehr ahnliche Moneren , gleich diesem von ansehnlicher Grösse , von
Richard Greeff an der Küste von Ostende beobachtet worden. Der-
selbe zeigte mir zahlreiche Abbildungen , aus denen sich die grosse
Formveränderlichkeit derselben , ähnlich den Plasmodien der Myxo-
myceten, ergab. Älittheilungen darüber sind bis jetzt noch nicht
publicirt.
Als ich im Winter I 866 — 67 drei Monate auf der canarischen Insel
Lanzarote verweilte, um daselbst Beobachtungen über niedere Seethiere
anzustellen , war mein Augenmerk neben den Hydromodusen und den
echten Rhizopoden vorzüglich auch auf die Moneren gerichtet , und
meine Hoffnung, auch dort dergleichen aufzufinden, wurde nicht ge-
täuscht. Die auf Taf. I. dargestellte Protomyxa und das auf Taf. II.
abgebildete Myxastrum bereichern die Naturgeschichte dieser einfach-
sten Organismen mit neuen Thatsachen. Es ist wahrscheinlich , dass
Moneren sehr verbreitet vorkommen, und es ist möglich, dass dieselben
noch fortwährend durch Urzeugung entstehen. Das Schwierigste bei
ihrer Untersuchung ist die erste Erkenntniss, da die meisten Beobachter
auf den ersten Anblick nicht geneigt sein werden , in dem kleinen,
formlosen , durch und durch homogenen Schleimklümpchen einen
selbslständigen und ausgebildeten Organismus anzuerkennen. Mögen
daher die Moneren fortan der besonderen Aufmerksamkeit der mikro-
skopirenden Naturforscher warm empfohlen sein.
Monographie der Moneren. * 71
II. Beschreibung neuer Moneren.
II. f. Protoniyxa aurantinca.
(Hierzu Tal'. II, Kiy. « — 12).
An vielen KUslenstrecken der canarischen Inseln finden sich in
grossei' Menge die spiralig aulgewundenen Kalksohalen der Spirula
Peronii vom Meere ausgeworfen. Besonders zahlreich fand ich die-
selben an der Südostküste der Insel Lanzarote angehäuft, z. B. an
den kleinen flachen Inselb.inkcn und Halbinseln, welche vor der Hafen-
stadt Puerto del Arrecife liegen und dcicn Hafenbecken theilvveise uni-
schliessen. Wahrend meines dreimonatlichen Aufenthaltes in Arrecife
hielt ich beständig die Hoffnung aufrecht, lebendige, oder wenigstens
zur anatomischen Untersuchung laugliche Exemplare dieses merkwür-
digen Ccphalopodcn zu erlangen , von dessen weichem Körper man
nur höchst unvollständige Kenntnisse besitzt. Ich setzte den Fischern
von Arrecife eine hohe Belohnung aus, wenn sie mir einen lebenden oder
auch nur einen vollständig erhaltenen todten Spirula-Körper brächten.
Indess war dies ebenso vergeblich, als die vielen Bemühungen, welche
meine drei Reisegefährten und ich selbst bei unsern pelagischen Excur-
sionen und beim Durchsuchen der am Strande ausgeworfenen Massen
um die Spirula uns gaben. Dass die Spirula, wenn überhaupt, so doch
jedenfalls nur sehr selten lebendig nach den canarischen Inseln ge-
langt, geht daraus hervor, dass alle P'ischer uns mit der grössten Be-
stimmtheit einstimmig versicherten, dass die ihnen wohlbekannte
Spirula -Schale stets todt, und niemals von einem lebenden Thiere
bewohnt oder eingeschlossen sei. Das Einzige was ich erlangte, waren
einige unbedeutende weisse Mantelreste, welche an einigen wenigen
Schalen aufsassen , aus denen sich jedoch Nichts auf den Bau des Spi-
iiila -Körpers schliessen Hess. Diese unbedeutenden Reste wurden
wietlerholt an einigen Tagen in das Hafenbecken von Arrecife getrieben,
als gerade ein heftiger Südwind besonders grosse Mengen nackter Spi-
lula- Schalen in (Gesellschaft zahlreicher Physalien und Velellen und
anderer pelagischer Thiere der Insel Lanzarote zugetrieben hatte.
Während so meine Hoffnung auf die Spirula selbst nicht in Er-
füllung ging , fand ich dagegen auf den nackten angetriebenen Kalk-
schalen dieses Cephalopoden im Januar I 867 einen Protisten-Organismus
aus der Monerengruppe, welcher mir von hohem Interesse war, und
dessen Lebensgeschichte ich auf Taf. I. dargestellt habe.
Als ich unter einer grossen Menge von Spirula -Schalen , welche
72 - Er"st Hilckel, ^
an der Oberfläche des Hafenbeckens von Arrecife schwammen, und
welche ich in Gesellschaft von Physalia , Abyla , Hippopodius und an-
deren pelaL:ischen Thieren mit einem Eimer geschöpft hatte, sorgfältig
nach etwa an den Schalen haftenden Mantelresten suchte, bemerkte ich
eine nackte Spiiula-Schale , deren gewöhnliches glänzendes Porcellan-
Weiss an mehreren Stellen durch kleine rothe Flecke getrübt war. iMit
einer starken Loupe betrachtet, löston sich diese Flecke theils in Gruppen
von dichtslehenden , sehr kleinen rothen Pünctchen , theils in äusserst
fein dendritisch verzweigte Figuren auf.
Die rothen Pünctchen Hessen sich unter dem Präparirmikroskop
ziemlich leicht mittelst Nadeln von der Oberfläche der Spirula-Schale
abheben. Bei stärkerer Vergrösserung erschien jeder Punct als eine
ziemlich undurchsichtige orangerothe Kugel, welche von einer dicken,
structurlosen Membran umhüllt war. Der Durchmesser des ganzen
Körpers betrug bei den meisten Kugeln 0,15 Mm., bei den grössten 0,2
Mm. bei den kleinsten 0,12 Mm. ;Taf. II, Fig. 1.)
Die Membran der Kugel erschien vollkomme : structurlos, glas-
artig, farblos und wasserhell. Nur eine Anzahl von ungefähr 5 — 10)
sehr feinen parallelen Streifen waren daran wahrzunehmen , welche
coDcentrisch um das Centrum der Kugel herumliefen, offenbar An-
deutungen einer schichtenweisen Ablagerung der structurlosen Masse.
Radiale Striche, porencanalähnliche Bildungen oder sonstige Oeffnungen
waren an der Kugelmembran nicht wahrzunehmen. Auch die Ansatz-
stelle, an welcher sie der Spirula-Schale (offenbar nur sehr locker) an-
geheftet war , erschien nicht besonders ausgezeichnet. Die Consistenz
der Membran, soweit sie sich durch den Druck des Deckglases ermitteln
Hess, war die einer ziemlich zähen und sehr elastischen GaHerte, etwa
vergleichbar derjenigen der festeren Medusenschirme (z. B. von Tra-
chynema, R h i zoston\a). Gleich der letzteren zeigte sich die Mem-
bran sehr indifferent, durch Carmin wurde dieselbe nicht gefärbt,
ebensowenig durch lod und Schwefelsäure. Bei längerem Liegen in
lod wurde sie schwach gelb uefärbt. Essigsäure sowohl, als Mineral-
säuren brachten keine merkliche Veränderung hervor. In kaustischem
Kali quoll sie auf und löste sich langsam.
Der orangerothe Inhalt der Kugeln erschien bei den unverletzten
Exemplaren innerhalb der geschlossenen kugeligen Membran als eine
vollkommen homogene, festflü^sige, trübkörnige Masse, in welcher sehr
zahlreiche äusserst feine Körnchen und eine geringe Anzahl von grösse-
ren, stark Hchtbrechenden r5then Körnchen zu bemerken waren. Bei
massiger Compression durch das Deckglas Hessen sich die Kugeln ziem-
lich stark sphaeroidal comprimii« ■; un<l nahmen die Gestall rinn- !)i(o:.-
Moiiognipliie der Moneren. 73
vexen Linse von 0,3 Mm. Durcliniossor an. Nach Aufhören des Druckes
dehnten sie sich wieder zu ihrer früheren Kugelücslall aus. Die un-
durchsichtige Mille der Kugeln \Aurde beim Druck durchsichtiger, ohne
jedoch irgend eine Structur erkennen zu hissen.
Mein erster Gedanke, dass die Kugeln Eier seien, wurde mir schon
dadurch unwahrscheinlich, dass durchaus kein Keimbläschen Nucleus;
in dem homogenen Inhalte der structurlosen Kugeln zu erkennen war.
Er wurde bald gänzlich widerlegt durch die verschiedenartigen Ent-
wickelungsstadi(Mi , welche mehrere Kugeln zeigten, sowie durch das
Verhalten des aus den Kugeln austretenden Inhaltes.
Wahrend bei der Mehrzahl der Kugeln die Inhaltsmasse überall
dicht der Innenseiio der Membran anlag, und den Binnenraum der gan-
zen meiiibrannsen llohlkugel vollständig erfüllte, hatte sich bei einigen
Individuen iler Inhalt von derselben ein wenig zurückgezogen und
offenbar verdichtet, während ein heller, mit wasserklarer Flüssigkeit
erfüllter Raum zwischen der Membran und der verdichteten Inhaltsmasse
entstanden war (Fig. 'i. Bei einigen Kugeln war der Umriss der cen-
tralen , verdichteten , orangerothen Masse eine ganz scharfe und regel-
mässige Kreislinie. Bei anderen dagegen erschien derselbe regelmässig
gekerbt. Es waren ungefähr gegen 20 Kerben am Contourrande der
reihen Kugel zu bemerken. Bei Beobachtung der Oberfläche zeigte
sich, dass diese Einkerbung der Ausdruck einer regelmässigen Bildung
von halbkugeligen Höckern auf der gesammten Oberfläche der % er-
dichteten Kugel war. Noch andere Kugeln endlich , welche offenbar
weiter entwickelt waren , zeigten deutlich , dass diese Kerbung nicht
bloss die Oberfläche der verdichteten Inhaltsniasse betraf, sondern
nur der oberflächliche Ausdruck des Zerfalls der ganzen kugeligen
orangerothen Masse in eine grosse Anzahl von kleinen Kugeln war.
Bei den am weitesten entwickelten Individuen war in der That der
gesammle orangerothe Inhalt der Kugeln in lauter kleine Kugeln von
0,017 Mm. zertheilt. Diese lagen hier nicht mehr zusammengepresst.
sondern berührten sich nur locker, etwa wie ein Haufen von Kanonen-
kugeln. Sie hatten sich wiederum derartig von einander entfernt, dass
sie nicht mehr den gesammten Binnenraum der Hohlkugel ausfüllten,
sondern vielmehr durch eine geringe Menge der wasserhellen Flüssig-
keit von einander getrennt wurden , welche vorher zwischen der hya-
linen Mem.bran und dem verdichteten Inhalte sich angesammelt hatte
(Fig. 3). Die Zahl der kleinen orangerothen Kugeln . welche aus dem
Zerfall der ursprünglichen grossen Kugel entstanden waren, betrug,
wie sich nachher beim Sprengen ergab, ungefähr zweihundert.
Zunächst versuchte ich an den ungetheillen Kugeln durch Spren-
74 Krnst Häckel,
gen der Membran zu einer genaueren Kenntniss des orangerothen In-
halts zu gelangen. Diester Versuch gelang ohne Mühe. Sobald der
Druck des Deckgläschens ein gewisses Maass überschritten hatte, barst
die Membran , gewöhnlich an einer , selten an mehreren Stellen zu-
gleich, und der orangerothe Inhalt trat langsam heraus. Die hyaline,
structurlose Membran blieb in vielfach gefaltetem Zustande zurück.
Der festflüssige Inhalt der Kugeln, welcher den mittleren Consi-
stenzgrad des organischen Plasma oder Protoplasma hatte, quoll sehr
langsam und allmählich aus der geborstenen Hülle hervor und breitete
sieh zwischen Objectträger und Deckgläschen aus , wobei die Umrisse
rundliche stumpfe Lappen von ungleicher Grösse bildeten. Durch vor-
sichtiges Verschieben des Deckgläschens gelang es ziemlich leicht, die
glashelle , gefaltete und collabirte Gallerthülle der geborstenen Kugel
ganz bei Seite zu schieben, so dass der orangerothe Inhalt völlig isolirt
unter dem Deckglase lag. Massigem Druck ausgesetzt, zeigte er sich
nur als eine formlose i undliche Masse, deren Umriss in unregel-
mässigen Lappen von verschiedener Grösse da und dort sich verschob;
einzelne Lappen sahen wie gekerbt aus. Schon auf den ersten Blick
war ersichtlich, dass die gesammte Masse structurlos und homogen war.
Nur eine sehr grosse Anzahl von den bereits erwähnten , äusserst
feinen punctförmigen Körnchen und eine geringere Anzahl von
grösseren kugeligen Körnern war in der völlig homogenen Grundsub-
stanz vertheilt. Diese letztere war in ihrer ganzen Masse blass röthlich
gelb gefärbt, auch am Rande, wo sie nur als eine sehr dünne Schicht
sich ausbreitete. Die lebhaft orangerothe Färbung der ganzen Kugeln
kam daher offenbar mehr auf Rechnung der orangerothen und ziemlich
stark glänzenden Körner.
Die chemische Untersuchung der blass röthlich gelben structur-
losen Grundsubstanz ergab bald , dass dieselbe eine Eiweissverbin-
dung war. Sie zeigte dieselben Reactionen , welche das Plasma oder
Protoplasma der Cytoden und der Zellen bei Thieren, Protisten und
Pflanzen in gleicher Weise darbietet. Durch Carmin wurde die ganze
Masse dunkelroth. durch lod dunkelbraun gefärbt. Mineralsäuren be-
wirkten eine körnige Gerinnung. Salpetersäure färbte das Plasma dun-
kelgelbbraun , Schwefelsäure spangrün. Die letztere Reaction erinnert
an die gleiche Färbung des Acanthometra -Pigments durch Schwefel-
säure. Die grösseren sowohl als die kleineren Körnchen in der struc-
turlosen Grundsubstanz wurden durch Kali nicht gelöst, während das
Plasma darin langsam zerfloss. Von irgendwelcher Differenzirung oder
Zusammensetzung war an dem ausgetretenen Plasma nicht das geringste
zu bemerken.
Monographie der Moneren. 75
Auch die weiter entwickelten Kuceln, welche statt der homogenen
grossen Piasniakut;el eine tianze Masse von kleinen orangcrothen Kugeln
enthielten, gelanges ziemlich leicht , /-u sprengen. Doch zeigte deren
structurlose Htillmembian einen höheren Grad von Härte und Consi-
stenz. Die aus der geborstenen Hülle austretende orangerothe Inhalts-
masse löste sich im Wasser in ihre einzelnen Bestandtheile auf, die
sich leicht von einander trennten. Die einzelnen Kugeln \Aaren alle
von gleicher Grösse, von 0,017 Min. Duichmesser. Sie vAaien voll-
ständig nackt und hüllenlos, einzig und allein aus dem röthlich gelben
Plasma gebildet, in welchem eine Menge sehr feiner und kleiner, glän-
zender orangerolher Köinchen suspendirt lagen. Die grösseren roth-
gelben und rothen kugeligen Körner, welche in dem Plasma der un-
getheilten Kugeln zerstreut waren, fehlten hier völlig. Sie fehlten auch
schon in denjenigen Kugeln , bei denen die Fuiihung der Oberfläche
den beginnenden Zerfall des Plasma in kleinere Kugeln andeutete. Weder
von einem Kern, noch von einer contractilen Blase war an den kleinen
Kugeln eine Spur wahrzunehmen, eben so wenig als bei den grossen
ungetheilten Kugeln.
Die kleinen orangerothen Kugeln, die offenbar aus dem Zerfall der
einen grossen Plasmakugel hervorgegangen waren , zeigten während
meiner ersten Beobachtung keinerlei Bewegung. Dagegen traten als-
bald amoebenartige Bewegungen bei einer der grossen ungetheilten
orangerothen Kugeln ein , welche ich in einem Uhrgläschen mit See-
wasser möglichst vorsichtig dadurch von ihrer structurlosen Hülle be-
freit hatte, dass ich die letztere unter dem Mikroskop nicht durch den
Druck des Deckglases gesprengt, sondern mit zwei spitzen Nadeln an-
gestochen und zerrissen hatte. Jedoch waren diese amoebenartigen
Bewegungen nicht besonders lebhaft und hörten bald auf. Sie waren
nicht zu vergleichen mit den lebhaften Bewegungen der zierlichen
sternförmigen und dendritisch verzweigten Figuren , welche ich neben
den oiangerothen Kugeln auf der weissen Spirula-Sehale bemerkt hatte,
und zu deren Beschreibung ich mich jetzt wende.
Bei schwacher Vergrösserung und aun'allendem Lichte betrachtet,
boten diese Gestalten einen äusserst zierlichen Anblick dar. Die un-
durchsichtige, glänzend weisse, porcellanartige Spirula-Sehale sah aus,
als ob sie mit zerstreuten sternförmigen rothgelben Pigmentzellen be-
deckt sei, ähnlich denjenigen, welche in der Haut niederer Wirbel-
thiere (Fische, Anjphibien; so verbreitet sind. Jeder sternähnliche
Fleck bestand aus einer unregelmässig rundlichen centralen Masse, von
ungefähr 0, •> — 0,:i Mm Durchmessei- und aus einer Anzahl von 'meistens
ö — lOj starken Aesten , welche von der centralen Masse ausstrahlten
76 Ernst Häckel,
und sich äusserst fein und zierlich verzweigten. Bei Anwendung
stärkerer Vergrösserung liess sich sowohl in der cenlralon Masse als in
den Aeslen und ihren Zweigen eine Fornneränderung wahrnehmen,
welche auf selbslständige Contractionen des sternförmigen Körpers zu
schliessen gestallele. Man hätte glauben können, Chromatophoren aus
der Haut der Spirula vor Augen zu haben. Da jedoch an der völlig
nackten, offenbar schon lange an der Meeresoberfläche schwimmenden
Spirula -Schale keine Spur eines Mantels mehr wahrzunehmen war,
musste ich alsbald in dem zierlichen Strahlenkörper einen grossen
rhizopodenartigen Organismus erkennen. Um ihn bei durchfallendem
Lichte genauer untersuchen zu können, war es durchaus nothwendig,
ihn von der undurchsichtigen Spirula- Schale zu entfernen. Mehrere
Versuche , ihn vorsichtig mit einei' feinen Staarnadel von der Schale
abzulösen , oder mit dünnen Splilterchen der Schale selbst abzuheben,
missglückten völlig; ich brachte nur kleine formlose Trümmer des
rothgelben Protoplasma unter das Mikrosko]). Ich legte desshalb ein
paar grössere Splitterchen der Schale, welche einen rothgelben Stern
trugen , in ein flaches lihrschälchen mit Seewasser , welches ich mit
einem anderen Uhrschälchen zudeckte, und stellte dasselbe in eine
feuchte Kammer. Meine Absicht, dadurch den Rhizopoden zum Herab-
kriechen zu bewegen , ging bei einem Exemplar schon nach w enigen
Stunden, bei zwei anderen am folgenden Tage in Erfüllung, urd ich
hatte nun das Vergnügen, diese merkwürdigen Organismen , welche
von der Spirula-Schale auf das Uhrgläschen übergesiedelt waren , und
sich hier ausgebreitet hatten , in aller Müsse betrachten zu können.
(Fig. 11, 12).
Jeder sternförmige Körper zeigte nunmehr, bei stärkerer Vergrösse-
rung ohne Deckglas betrachtet, ein prachtvolles Plasma- oder Sarcode-
Nelz, so ausgedehnt uud maschenreich, als man es nur bei Polythala-
mien und Radiolarien, Myxomyceten und Lieberkühnien, finden kann.
Die centrale Plasmamasse bildete eine flache , durchsichtige Scheibe
von unregelmässig rundlichem , jedoch nahezu kreisförmigem Umriss,
und ungefähr 0,2 — 0,"? Mm. Durchmesser. Am Rande zog sich dieselbe in
sechs bis acht starke Protoplasmastämme aus, deren jeder sich zu
einem äusserst zierlichen Baume verästelte. Diese Stämme, am Grunde
von 0,01 — 0,03 Mm. Durchmesser, theilten sich alsbald gabelig in zwei,
selten drei Aeste, die sich nach kurzem Verlauf abermals gabelförmig
spalteten, und so fort. Bei jeder Spaltung nahm der Durchmesser der
Gabeläste stark ab , so dass in der Regel jeder Ast noch nicht halb
so stark war, als der nächststärkere Ast der vorhergehenden Ordnung.
Die Aeste waren fast sammtlich leicht und zierlich gekrümmt, seltener
Monographie der Moneren. 77
last gerade. Schon von der d rillen oder vierten Ordnung an begannen
die benachbarlen Aeste zu verschmelzen, unil die Anastomosen der
Aeste wurden nacli der Peripherie hin immer /ahheicher, so dass die
äussersten Aesle ein fasl zusammenhängendes peripherisches Sarcode-
netz herstellten. Die Foiin der Anastomosen war sehr unregelmässig,
nach dei- Peripherie hin mehr und mehr bogenförmig, am Grunde mehr
unregelmässig polygonal. Im Ganzen war das Plasmanelz sehr ähn-
lich demjenigen, welches CLAPARtDE von seiner Lieber k (ihn ia \Va-
generi abgebildet hat. ')
Die rothgelbe Färbung war am intensivsten in der Mille des Kör-
pers, welche ofl'enbar auch die dicksle Plasmalage bildete, und in
den Hauplstämmen , welche von deren Peripherie abgingen. Gegen
die letzlere hin wurde die Farbe immer blasser, und die feinsten Aeste
erschienen hell rölhlichgelb gefärbt. Nirgends war die Farbe so in-
tensiv Orangeroth , w ie an den vorherbeschriebenen Kugeln. Wie bei
den letzteren, wurde die Färbung auch hier ebensowohl durch ein
diffuses röthliches Gelb der structurlosen Grundsubstanz , als durch
einen lebhufler gelbrolhen Ton der darin suspendirten Körnchen
bedingt.
Sowohl die centrale scheibenförmige Körpermasse, als die davon
ausstrahlenden Aesle und deren Zweige waren vollkommen durchsichtig
und Wessen auch bei der stärksten Vergrösserung mit der grössten
Deutliclikeil die Thalsache erkennen, dass die gesammte Körpermasse
durchaus slructurlos und homogen, ohne jede Zusanunensetzung
aus Zellen oder zellenähnlichen Gebilden sei. Zur Evidenz wurde
diese Thatsache durch die feineren und gröberen rolhen Körnchen be-
wiesen, welche strömend in dem Sarcodenetz hin und herbewegl
wurden, sowie durch die hie und da in das Plasma eingestreuten frem-
den Körpei' und iNahrungsbestandtheile (namentlich Diatomeen). Auch
diese lelzleien wurden gleich den rolhen Körnchen ergriffen und passiv
mit fnrtgefuhit \on iler Strömung, welche durch active Lageverände-
rung der F'.iweissmoleküle des homogenen Plasma bewirkt wurde.
bi seinen chemischen Eigenschaflen war der Eiweissköiper des Plasma
oder der Sarcode nicht verschieden von demjenigen der rolhen Kugeln,
der vorher beschrieben wurde, und zeigte ganz dieselben Reactionen.
Die Strömungserscheinungen der Sarcode oder des freien Plasma
(Protoplasma; , wie sie namentlich bei den echten Rhizopoden (Acylta-
rien und Radiolarien) zu Tage treten, sind seit nunmehr 33 Jahren so
<] Claparedc et Lachmann, Eiudcs sur les IiifusoiifS et los Rhizupodcs, Vol. I,
p. 464, i'l. XXIII.
78 Ernst Häckel,
genau unlersuchl und so allgemein bekannt geworden , dass es über-
flüssig sein würde , dieselben bei dem hier vorliegenden Organismus
nochmals delaillirt zu boschreiben. Dujardin ') und Max Schultze^j
haben dieses äusserst interessante und wichtige Phaenomcn bei den
Fol^thalamien , CLAPARfeDE und Lachmanjv bei Actinophrys , Acan-
thometra und Lieberkühnia"*) , Johannes Müller*) und ich selbst'*)
bei den Radiolarien, de Barv^) und Cienkowski'j bei den Myxomycelen
so übereinstimmend und genau dargestellt, dass über dessen ihatsäch-
liche Existenz und v\eite Verbreitung kein Zweifel mehr aufkommen
kann. Zwar versuchte Reichert seit 1862 in einer Reihe von Aufsätzen
diese Thalsachen als unmöglich und die Beobachtungen und Deutungen
sämmtlicher genannter Forscher als falsch darzustellen , weil diesel-
ben mit seiner dogmatisch-vitalistischen Naturauffassung unvereinbar
waren. Indessen habe ich bereits in meinem Aufsatze über den Sar-
codekörper der Rhizopoden die völlige Grundlosigkeit und Verkehrt-
heit von Reichert's Behauptungen dargethan. Ich würde dieselben hier
gar nicht erw ahnt haben , wenn nicht Reichert in einer soeben er-
schienenen grösseren Abhandlung die von ihm angegriffene Plasma-
theorie der Sarcode selbst acceplirte, und dabei die Sache so zu ver-
drehen suchte, dass er als der eigentliche Entdecker jener von ihm früher
für unmöglich erklärten , in der That aber längst festgestellten Phäno-
mene erscheint. Der folgende (11 1.) Abschnitt meines Aufsatzes wird
diesen Umstand noch näher erörtern.
Der orangefarbene , rhizopodenähnliche Organismus, welchen ich
auf der Spirula- Schale fand, und für welclien ich die Rezeichnung
Protomyxa auranliaca vorschlage, zeigt das Phänomen der Sar-
codeströmung in der ausgezeichnetsten Weise. Die rothgelbe Sarcode
desselben ist in ziemlich hohem Grade dünnflüssig, etwa wie bei Tha-
lassi co Ha unter den Radiolarien, bei Gromia unter den Acyttarien,
<)DiijAKDiN, Observations nouvelles etc. Annales des scienees nat 1835,
II. S6r., Tom lil. p. 112 fT.
2| Max Schultze, Uel^er den Organismus der Polyttialamien (1854) p 16 ff.
3) Claparede et Lachmann, Etudes siir les Infusoires et les Rliizopodes (1858),
Vol. I, p. 416, 464 ff.
4) Johannes Miller, Ueber dieTlialassicollen, Polj cystineu und Acantliometren,
Abtiandl. der Berlin Akad. 1858, p. 3 ff.
5, Ernst Hackel, Die Radiolarien. Eine Monographie 1862) , p. 89 — 126 und
p. 127 -159.
6) DeBahv, DieMycetozoen, ZeilschritI (ür wissenscti. Zoul. 1860, Vol. X, p. 88 IT.
7) CiENKOwsKi , Zur Enlwickelungsgescliiiiite der Myxomycelen, Pringstieims
Jalirhüctier für wissenscli. Bolanik 111. p 325 ff.
Monographie der Moneren. 79
oder bt'i IMiysiuuin uiiUr den Myxorayceten. Die zahlreich zerstreu-
ten rolheii Körnclien, vNelt'he duicli die geeensoilige Lagonveränderung
der sich an einander \erscluebenden Flasnianioloküle in Bewegung
versetzt und passiv von doni aotiven Sarcodesliom mit forlgerissen
werden, erlauben sehr genau die verschiedenen Strömungsbahnen zu
verfolgen. Diese Bahnen sind ohne alle bestinunte Anordnung, in be-
ständigem Wechsel begritlen. An den grosseren Stromfaden bemerkt
man oft deutlich einen centrifugalen neben einem centripetalen Strom.
Schnelligkeit, Richtung und Stärke der Ströme wechseln bestiindig.
üie breiten pohgonalen Sarcodeplatlen, welche sich leicht an den Ana-
stomosen zweier Stromüste bilden, entstehen und vergehen , und hier-
bei lässl sich besonders deutlich der durchaus homogene Charakter der
ganzen contractilen Plasmasubstanz wahrnehmen. Von einer Schei-
dung in eine dichtere Rindenschicht und eine dünner flüssige Mark-
scbicht, wie sie bei vielen Rhizopoden und Myxomycelen vorkommt, ist
Nichts wahrzunehmen.
Nebenden zahlreichen rothen Körnchen werden auch grössere, als
Nahrung aufgenommene fremde Körper von dem Sarcodestrom mit fort-
gerissen, so namentlich pelagische Infusorien und Diatomeen , welche
die Hauptnahrung der Protomyxa bilden. Das in Fig. 11 dargestellte
Individuum hatte zwei Isthmien, und drei Tintinnoiden mit kieseliger
Gitterschale verzehrt (zwei Dictyocy sla elegans und eine D. mitra),
und war trotzdem schon wieder im Begritl, ein Peridiniuui in seinen
Körper hineinzuziehen. Die Nahrungsaufnahme erfolgte in derselben
Weise wie bei den echten Rhizopoden. An frei schwinunend( n Diatomeen
iBacillarien undNaviculen), welche ich in das ührschalchen, das die Pro-
tomyxa enthielt, hineinbrachte, liess sich der Vorgang des Fressens
deutlich verfolgen. Sobald ein ausgestreckter Plasmafaden mit einem
dieser Körper in Berührung kam, erfolgte ein verstärkter Zufluss von
Plasma zu dieser Stelle. Benachbarte Fäden legten sich an und ver-
schmolzen mit dem ersten. In kurzer Zeit war die Kieselzelle der Dia-
lomee von einer Protoplasmaschicht umflossen und wurde nun lang-
sam, durch Relraclioii der betlieiligten Plasmafäden, in die centrale
Körpermasse hineingezogen. Die Verdauung der Beute bestand einfach
in einer Extraction und Assimilation des gelbbraunen Plasmainhalts
der Kieselzellen. Die Kieselmembran derselben schien gar nicht davon
angegriffen zu werden , und die entleerten Schalen wurden durch die
Contraction der weichen Cer\tralmasse wieder ausgestossen.
Kerne oder kernähnliche Bildungen waren in dem ganzen Plasma-
körper der Protomyxa durchaus nicht wahrzunehmen, ebenso wenig
contraclile Blasen, falls man darunter bleibende Organe versteht, welche,
gO Ernst Häckel, ^
wenngleich noch ohne differenzirle Wand , doch eine beslimmte Stelle
im Körper einnehmen. Dagegen waren Vacuolen in grosser Anzahl
im Koiper zerstreut, und zwar sowohl in der Cenlralniasse , als in den
Stärkeron Aesten. Dieselben traten auf in Gestalt heller kreisrunder
Flecke (Fig. II, W v.) von verschiedener Grösse, die grössten von 0,03
Mm. Durchmesser. Fixirte man eine und dieselbe Vacuole längere Zeit,
so konnte man die Dilatation und Contraclion derselben, ihr Entstehen
und Vergehen deutlich wahrnehmen. Ersteres sowohl wie letzteres er-
folgte sehr langsam, und nahm bei den grössten ungefähr 2 — 3 Minuten
in Anspruch. Bei der Conlraction wurde der Umfang der Vacuole kleiner
und kleiner. Endlich verschwand der helle Fleck ganz; es sah aus,
als ob das gelbrotbe Plasma über demselben zusammengeflossen wäre.
Fixirte man die Stelle, an der die Blase \erschwunden vsar, fortdau-
ernd, so sah man sie bisweilen an demselben Puncte wieder langsam
auftauchen. Es erschien ein heller Punct, welcher langsam grösser und
srösser wurde; oft überschritt er den frühern Umfang: andere Male
blieb er hinter demselben zurück Sehr oft aber war und blieb die
Vacuole verschwunden, und statt ihrer traten ein oder mehrere neue
Vacuolen an anderen Stellen auf, bald in der Nähe, bald weit davon
entfernt. Bisweilen traten an Stelle einer grossen verschwundenen
Vacuole eine Anzahl (10—20) kleiner Vacuolen in deren Umge-
bung auf, entweder unregelmässig zerstreut oder ringförmig um den
Platz der ver.«chwundenen Blase gruppirt. Aus diesem Allen geht her-
vor, dass die contractilen Hohlräume im Leibe der Protomyxa wirk-
liche Vacu o len sind, d. h. wandungslose, mit wässriger Flüssigkeit
gefüllte Hohlräume inmitten des homogenen Sarcodeparenchyms , wie
solche auch bei vielen Rhizopoden, Myxomyceten etc. vorkommen. Es
sind also keine echten contractilen Blasen, \Aie sie bei den echten
Infusorien, 'Ciliatenj und bei einigen Amoeben (z.B. Amoeba qua-
drilineata) vorkommen. Diese letzteren sind distincte und perma-
nente Organe, gleichviel ob man eine eigene differenzirte Wand an
ihnen unterscheiden kann oder nicht. Die echten contractilen Blasen
nehmen stets eine und dieselbe Stelle im Körper ein , während die Va-
cuolen bald hier bald dort mitten in der festflüssigen Eiweissmasse des
Plasmaparenchyms auftreten und verschwinden. Durch diese be-
stimmte Unterscheidung der Vacuolen von den contrac-
tilen Blasen soll natürlich keineswegs geleugnet werden, dass ver-
mittelnde Uebergangsformen zwischen beiden Bildungen vorkommen.
Im Gegentheil halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die contrac-
tilen Blasen aus einfachen Vacuolen phylogenetisch (durch
natürliche Züchlunc) entstanden sind.
Monoeraplüp der Moiipri-n. 81
Die Vaouolon sowohl, nls dio i'ollu n Kornclien , welche in dem
homogenen Phisma der Prolomyxa zerstreut umherliegen und umher
wondet'n. sind Krscheinungen , welche zu dem Stoffwechsel dieses
Moneres in der engsten Beziehung stehen. Ich versuchte die Prolo-
myxa in llachen Uhrschalchen mit Seewasser längere Zeit zu cultiviren,
und es gelang dies mit dem besten Erfolge. Ich stellte die Uhrgläschen,
deren jedes eine einzige Protomyxa enthielt, in ein grösseres, mit
Wasser gefülltes Schiilchen und stülpte ein grosses Glas darüber, so
dass eine sehr geräumige feuchte Kammer hergestellt war, und so ge-
lang es mir, die Protomyxa über drei Wochen am Leben zu erhalten,
und die Erscheinungen ihrer Ernährung und Fortpflanzung im voll-
ständigem Zusammenhange zu beobachten.
Das Nächste, was ich bei fortgesetzter täglicher Beobachtung wahr-
nahm, war die Thatsache, dass die Anzahl der Vacuolen und der rothen
Körnchen in geradem Yerhältniss zu der aufgenommenen Nahrungs-
menge steht. Ich hielt einige Protomyxen in reinem Seew^asser, ohne
Nahrung, während ich anderen Diatomeen in reichlicher Menge als Nah-
rung zuführte. Bei den ersleren nahm die Menge der rothen Körnchen
sowohl, als der Vacuolen schon nach einigen Tagen sichtlich ab , w äh-
rend bei den letzteren sie sich fortdauernd erhielt und bei verstärkter
Fütterung sogar zunahm. Die am reichlichsten mit Diatomeen gefütter-
ten Individuen waien mit rothen Körnchen ganz vollgestopft, so dass
die Sarcode stark getrübt, und namentlich der mittlere Theil des Kör-
pers ganz undurchsichtig erschien. Zugleich traten kleinere und grössere
Vacuolen in grosser Anzahl an allen Ecken und Enden auf. Die hun-
gernden Individuen dagegen wurden blass, mehr gelb als rolh gefärbt;
die Zahl der rothen Körnchen nahm auffällig ab, ebenso auch die Zahl
der Vacuolen, und schliesslich verschwanden dieselben gänzlich. (Vergl.
Fig. li und 12).
Es geht hieraus deutlich hervor, dass die in der Sarcode zerstreuten
Körnchen P ro d u et e des S toff wech sei s sind. Am wahrschein-
lichsten dürfte wohl die Vcrmuthung sein, dass dieselben a ss im i 1 i rte
Substanzen sind, welche durch die chemische Thätigkeit der ver-
dauenden Sarcoile aus den aufgenommenen Nahrungsbestandtheilen
gebildet und späterhin selbst wieder in Sarcode umgebildet werden.
In meinem Aufsatz »über den Sarcodekörper der Rhizopoden« habe ich
diese Hypothese auch für die Körnchen wahrscheinlich zu machen ge-
sucht, welche sich im Protoplasma der echten Rhizopoden (Acyttarien
und Radiolarieni finden, und deren Quantität gleichfalls der Menge der
aufgenommenen und verdaueten Nahrung entspricht. Bei den Radio-
larien wird diese Vermuthung noch dadurch besonders wahrscheinlich
Band IV. I. g
82 Ernst Häckel,
gemacht, dass die Körnchen bei mehreren Arten roth gefärbt sind (bei
Acanthostaurus purpurascens, Acanthochiasma rubes-
cens und Actinelius piirpureusJ)
Nicht bloss die Menge der Körnchen und der Vacuolen, sondern
auch die Stärke und Schnelligkeit der Sarcode-Ströinung scheint bei
Protomyxa von der Quantitiit der aufgenommenen Nahrung abhän-
gig zu sein. Obgleich diese Thatsache viel schwieriger als die vorher
genannte zu erkennen und festzustellen ist, und obgleich auch vielfach
äussere Anpassungsbedingungen , wie Licht, Temperatur etc. auf die
Stärke und Schnelligkeit der Plasma-Strömung Einfluss zu haben schei-
nen, glaube ich mich doch durch anhaltende Beobachtungen und durch
Vergleichung der Extreme von der Richtigkeit derselben überzeugt zu
haben. Bei den hungernden Individuen, bei denen Körnchen und Va-
cuolen an Zahl abnahmen , wurde auch die Strömung in den ver-
zweigten Schleimfäden zusehends schwächer und langsamer (Fig. 12).
Zugleich nahmen die Anastomosen der Stiomzweige in auffallender
Weise ab und statt deren wurde an der Peripherie des Sarcodenetzes
eine grössere Anzahl von äusserst feinen, divergenten, aber nicht ana-
stomosirenden Schleimfäden vorgestreckt. Bei den reichlich gefütterten
Individuen dagegen waren die bogenförmigen Anastomosen äusserst
zahlreich und die peripherischen Büschel von haarfeinen und nicht ana-
slomosirenden Schleimfäden fehlten (Fig. 11). Jedoch muss schon hier
bemerkt werden, dass einige von diesen gutgenährten Individuen nach
einiger Zeit in einen Ruhezustand übergingen, indem sie ihre Pseudo-
podien einzogen und sich schliesslich in einen kugeligen Schleim-
klumpen zusammenzogen, der sich mit einer Hülle umgab. Bevor ich
auf diese encystirten Ruhezustände und die damit zusammenhängenden
Fortpflanzungs-Erscheinungen der Protomyxa eingehe , will ich noch
Einiges über die Reizbarkeit dieses Moneres bemerken.
Dass man die echten Rhizopoden (Acyttarien , Heliozoen , Radio-
larien) sowie manche Rhizopoden ähnliche Organismen (Amoeben,
Arcellen, Actinophryen) früher allgemein und unbedenklich als echte
Thiere betrachtete, hatte nächst der thierähnlichen Gestalt mancher
Schalenbildungen (molluskenähnliche Polythalamien) und nächst der
mehr thierischen als pflanzlichen Nahrungsaufnahme seinen Grund vor-
züglich in den Erscheinungen der Beweglichkeit und Reizbarkeit dieser
Organismen. Ebenso wie einzelne Bewegungserscheinungen einen
bestimmten Willen, so schienen andere das Vermögen einer distincten
Empfindung zu verrathen; und man konnte schliesslich diesen be-
1; Zeitsclir für wissenscli. Zool. i865 Vol. XV, p. 359, Taf. XXVf, Fig. 4
Monograjiliit' iIit MoinTfii. 88
lebten Scliloimklünipchen eben so gut »'ine wirkliche Seele öder einen
sogennnnten Geist zuschreiben, als den Menschen und anderen echten
riiiereu. Auch in diesen Beziehungen schliesst sich unsere Frotomyxa
den echten Hhizoj>odcn an, und zeigt namentlich dieselben Erscheinun-
gen von I{ ei z ba ikoit , welche ich cinestheils bei den Radiolarien
(I. c. p. \iS) anderntheils bei dem Prologenes pri niord ialis (1. c.
p. 362] beschrieben habe.
Zunächst und hauptsächlich äussert sich diese »organische Be-
seelung'i der Protomyxa darin, dass jeder fremde Körper, der ihre
Oberfläche berührt, vorzüglich ein bewegter oder sich bewegender
Körper, einen vermehrten Zufluss \on Sarcode zu der berührten und
>> gereizten« Körperstellc veranlasst. Bei der Nahrungsaufnahme war
dies deutlich zu sehen. Aber auch wenn ich unter dem Präparirmi-
kroskop mit einer sehr spitzen Nadel vorsichtig die Frotomyxa be-
rührte, hatte dieser Reiz augenblicklich einen heftigen Zufluss von Sar-
code zur Folge, und die Nadelspitze wurde förmlich davon umflossen.
Sobald ich jedoch versuchte, mit der Nadel in das Innere des Sarcode-
körpers einzudringen und denselben gewaltsam hin und her schob, so
wurden sämmtlicheFseudopodien eingezogen und der ganze Sarcodeleib
zog sich in einen zusammenhängenden unförmlichen Klumpen zusam-
men. Da eine ähnliche oder gleiche «Reizbarkeit« gegenwärtig als all-
gemeine Eigenschaft des gesamniten organischen Frotoplasma, in gleicher
Weise bei Thieren, Protisten und Pflanzen anerkannt ist, so beweist sie
natürlich ebensowenig für die thierische Natur bei der Frotomyxa , als
bei den echten Rhizopoden und anderen Protisten. Die Frotomyxa
ist wegen dieser Reizbarkeit ebenso wenig ein Thier, als die empfind-
liche Mimosa.
Gelegentlich dieser Reizversuche zerzupfte ich mehrere Individuen
von Frotomyxa in Stücke, eins in zwei ziemlich gleichgrosse Hälften,
ein zweites in drei und ein drittes Individuum in fünf ziemlich ungleich
grosse Stücke. Jedes dieser Theilstücke zog sich alsbald zu einem un-
regelmässig rundlichen Sarcodeklumpen zusammen , der zuerst eine
Zeitlang bewegungslos dalag. Bald aber begann derselbe sich wie-
deruu) zu einer flachen Scheibe auszudehnen und hier und da an der
Peripherie kleine stumpfe Fortsätze auszustrecken. Langsam wurden
diese länger und länger, fingen an sich dichotomisch zu verästeln und
mit ihren Zweigen Anastomosen zu bilden, und bald war das ganze
lebendige Plasmanetz wieder so hergestellt, als ob Nichts vorgefallen
wäre. Jedes der künstlich erzeugten Theilstücke bewegte sich so selbst-
sländig und lebendig, wie die ungetheilte Frotomyxa. Die künst-
liche Theil barkeit der Frotomyxa ist durch diese Versuche fest-
6*
§4 Ernst Häckel,
ceslellt. Diese an sich merkwürdige Erscheinung, welche sowohl für
die Indi vidualitätsl-ehre (Tectologie) überhaupt, als besonders
für die Naturgeschichte der Protisten von hohem Interesse ist, verliert
neuerdings viel von ihrem Wunderbaren, da sich die Vermehrbarkeit
durch künstliche Theilung immer allgemeiner als eine sehr \erbreitete
Eigenschaft der niedrigen Organismen, namentlich der Protisten , aber
selbst vieler höher organisirten und stärker differenzirten Thiere und
Pflanzen herausstellt. Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken , dass
ich während meiner Anwesenheit auf Lanzarote zahlreiche Versuche
über die künstliche Theilbarkeit der Hydroraedusen angestellt habe,
welche vom überra>ci]endsten Erfolge begleitet waren. Bei der Hydra
des süssen Wassers ist die ausserordentliche Theilbarkeit und Repro-
ductionsfähigkeit seil Trembley's Zeiten allbekannt, und auch bei denHy-
droiden des Meeres durch Dalyell's Versuche festgestellt. Dagegen war
die künstliche Theilbarkeit der Medusen selbst (Schirmquallen oder
Discophoren] bisher noch nicht bekannt. Meine Versuche ergaben, dass
dieselbe bei manchen Medusen, namentlich aus der Familie der Thau-
mantiaden von Gegenbaur (Laodiceiden von Agassiz) einen er-
staunlichen Grad erreicht. Bei mehreren Arten dieser Familie konnte
ich den Medusenschirm in mehr als hundert Stücke zertheilen, und aus
jedem Stück, sobald es nur einen Theil des Schirmrandes enthielt,
erwuchs in wenigen (ä — i) Tagen eine vollständige kleine Meduse.
Selbst ein einziger losgelöster Randtentakel, an welchem die Basis, das
ansitzende Stück des Schirmrandes erhalten war, bildete in wenigen
Tagen eine Meduse. Noch überi'aschender war mir das Resultat, das
ich bei anderen Hydromedusen erhielt. Hier konnte ich den kugeligen
nicht difTerenzirten Zellenhaufen (oder die wimpernde kugelige Larve)
welcher aus der Eifurchung hervorgegangen war, in mehrere Stücke
zerschneiden, und aus jedem Stück entwickeile sich eine selbstständige
Larve. Da ich diese Theilungsversuche an einem anderen Orte aus-
führlicher miltheilen werde, seien sie hier nur beiläufig erwähnt.
Sobald ich die selbstsländige Natur der auf den Spirula-Schalen
befindlichen orangerothen sternförmigen Flecke als rhizopodenarliger
Protisten erkannt hatte, musste sich natürlich die Vermuthung aufdrän-
gen, dass die benachbarten, vorher beschriebenen lolhen Kugeln Ruhe-
zustände oder encystirte Individuen derselben Art seien, und dass die-
jenigen Kugeln , bei denen der zusammengezogene orangerothe Inhalt
in zahlreiche kleine Kugeln zeifallen war, auf monogene Fortpflanzung
zu beziehen seien.
Die rothen Kugeln, welche ich sorgfällig von den Spirula-Schalen
abgelöst und in flachen ührschälchen mit Seewasser in eine grosse
i
Monographie der Moneren. 85
feuclite Kammer gebracht hatte, Hessen zum Theil schon nach einigen
(I — 6) Tagen die individuelle EnlwickehingsgeschichlederProtomyxa
weiter verfolgen. In sänuntlichen Kugeln zerfiel der orangerolhe Plas-
mainhalt , nachdem er sich von der hyalinen Kapselwand zurückge-
zogen hatte, in eine grosse Anzahl (einige hundert) kleine, runde, durch-
aus structurlose und nackte Kugeln. Dieser Zerfall beruhte nicht auf
o'\ncr wiederholten Zweitheilung des encystirten Plasmakörpers, son-
dern daiauf, dass gleichzeitig eine grosse Anzahl von individuellen
Attiactionscentren in der homogenen Plasmamasse sich differenzirten,
und dass gleiche Plasmapoi'tionen rings um diese Mittelpuncte sich
anhäuften. Der Process wiire ilemnach wohl richtiger als Keimplastiden-
bildung (Monosporogonia), denn als Spaltung (Theilung oder Knospen-
bildung! aufzufassen.')
Die kleinen rothen Kugeln (von 0,017 Mm. Durchmesser] verharr-
ten nun noch mehrere Tage ruhig in der dickwandigen Cyste, deren
ganzen Binnenraum sie ausfüllten, ohne dass eine weitere Veränderung
an ihnen zu bemerken war. Als ich sie nach Verlauf von ungefähr einer
Woche wieder unter das Mikroskop brachte, bemerkte ich bei einigen
eine langsame Bewegung der Kugeln innerhalb der Cyste. Die Bewe-
gung bestand in keiner regelmässigen Rotation derselben, sondern in
einer langsamen Ortsveränderung der Kugeln, bei der sie sich ohne be-
stimmte Regel in allen Richtungen durch einander drängten.
Einige Stunden später war die Bewegung lebhafter geworden und
die rothen Kugeln hatten eine biinförmige Gestalt angenommen, indem
das eine Ende derselben in eine feine Spitze ausgezogen war. Beim
Durcheinamlerwinden innerhalb der Cyste änderten sie mehifach die
Gestalt ihres weichen birnförmigen Leibes, indem sie bald länger, bald
kürzer keulenförmig ausgezogen wurden , und zuweilen dabei sich
krümmten.
Am folgenden Tage fand ich eine der Cysten zerplatzt: die leere
coUabirte Wand lag gefaltet auf dem Boden des Uhrgläschens und eine
grosse Menge von keulen- oder birnförmigen rothen Körperchen be-
wegte sich frei in dem Seewasser umher. Es zeigte sich nun, dass
die rothen Kugeln die Schwärmsporen der Protomyxa waren, und
dass dieselben nach dem Austritt aus der Cyste sich nach Art von Fla- *
gellaten <>der von Algen-Schwärmsporen frei umher tummelten. Ich
sprengte nun durch leichten Druck des Deckgläschens eine andere Cyste,
bei w elcher bereits die Bewegung der Keimpiastiden im Innern zu sehen
war, und sah alsbald die rothen birnförmigen Körperchen in dichtem
1) Vergl, Generelle Morphologie, Vol. II, p. 70.
^Q Ernst Häckd,
Gewimmel aus der geborstenen Membran austreten (Fig. 4). Unmittel-
bar nach dem Austritt wurde die Form derselben schlanker, indem sich
das vordere Ende in eine längere Geissei auszog, und die Bewegung
wurde bedeutend beschleunigt (Fig. o).
Die Gestalt der freien Schwärmsporen (Fig. 5) oder der
"eisseUragenden Keimpiastiden (genauer Keimcytoden) war schlank
birnförmig, von der abgerundeten Basis bis zu der haarfein ausgezoge-
nen Spitze ungefähr 0,06 Mm. lang, an der breitesten Stelle (kurz vor
dem hinteren abgerundeten Ende) 0,012 Mm. breit. Der hintere Theil
des Sporenkörpers war bald mehr kugelig, bald mehr eiförmig abge-
rundet und spftzte sich nach vorn sehr allmählich in einen kegelför-
migen schlanken Hals zu, der sich dann dünner werdend in eine haar-
feine Geissei auszog. Die Bewegung dieser Geissei (Flagellum) war
mehr pendelnd oder einen Kegelmantel beschreibend, als schlängelnd.
Die Geissei schleppte durch diese ununterbrochenen sehr lebhaften
Bewegungen den ganzen Sporenkörper mit sich fort. Dieser war in
seiner ganzen Masse durchaus einfach und homogen, ohne Spur von Kern
(Nucleus) oder contractiler Vacuole , ebenso ohne Spur von Membran,
und lediglich aus der rothgelblichen Grundsubstanz des Plasma beste-
hend, in welche sehr feine rothe Körnchen eingebettet waren. Durch
Zusatz von lodlösung wurden die Schwärmsporen augenblicklich zum
Stillstand gebracht und tief gelbbraun gefärbt. Man sah nun ganz deut-
lich, dass der ganze Sporenkörper durchaus structurlos war, und dem-
nach den morphologischen Werth des denkbar einfachsten organischen
Individuums, der nackten Cytodo oder Gy m nocytode besass. Ausser
den äusserst feinen rothen Körnchen waren durchaus keine differenten
Bestandlheile in der homogenen Plasmamassr wahrzunehmen. Die
Geissei war weiter Nichts, als ein haarförmig ausgezogener Fortsatz des
Plasma oder der Sarcode selbst.
Verfolgt man die Bewegungen der Schwärmsporen (oder
der schwärmenden Gymnocytoden) von.Pro tom yxa genauer, so findet
man sie äusserst ähnlich denjenigen der Schwärmsporen der Myxomy-
ceten. Die Beschreibung De Bary's passt so gut auf diese, wie auf jene.
»Die Bewegungen der Schwärmer bestehen zunächst in einer mit Vor-
schreiten nach der Bichtung des Vorderendes verbundenen Rotation des
ganzen Körpers um seine Längsaxe, wobei derselbe, wenn er gerade
ausgestre(;kt ist, sich in dem Mantel eines Kegels dreht, dessen Basis
von dem Vorderende umschrieben , dessen Spitze vom Hinterende ge-
bildet wird. .Tenes beschreibt also den grössten , jeder andere Punct
der Körperoberfläche einen um so kleineren Kreis, je näher er dem Hin-
terende liesit. Dabei wird die Cilic beständis wie eine reitschcnschnur
Monographie der Moneren. 87
undulirend nach zwei Seiten geschwungen, was der Drehung des Kör-
pers ein ruckweises Hin- und Herwackeln oder Schaukeln hinzufügt.
Oft fehlt die Rotation, letztere Form der Bewegung ist allein vorhanden,
oder es wechseln beide Arten mit einander ab. Gleichzeitig mit diesen
Drehungen und Ortsveränderungen zeigt der Körper beständige Aende-
rungen seines Umrisses : wurn)förmige Krüumiungen abwechselnd nach
verschiedenen Seiten hin, Zusanunenziehung zu mehr kugligei" Gestalt
und Wiederausstreckung, peristaltische Contractionen, endlich Austrei-
ben kurzer spitzer Fortsiitze , welche amoebenaitig in stetem Wechsel
wieder eingezogen und durch neue ersetzt werden, und welche beson-
ders zahh'eich um das abgerundete Hinterende zu entstehen pflegen.«
Wie in den Bewegungen, so gleichen die Schwärmer der Proto-
myxa denjenigen der Myxomyceten auch in der Gestalt, nur mit dem
Unlersciiiede. dass den ersteren, so lange sie schwärmen, jede Vacu-
olenbildung fehlt. Auch die nächsten Schicksale der beiderlei Schwär-
mer sind ganz ähnlich. Beide kommen nach einiger Zeit zur Ruhe,
gehen in amoebennrtige Zustände über und bilden dann (wenigstens
theilvveise) durch Verschmelzung Plasmodien.
Die Schwärmzeit der Proto m yxa- Sporen scheint mindestens
einen Tag zu dauern. Wenigstens sah ich dieselben niemals an dem-
selben Tage, an welchem sie aus der Cyste geschlüpft waren, zur Ruhe
konjincn. Am folgenden Tage fand ich sie meistens ruhig auf dem Bo-
den des Uhrschälchens liegen : die Geissei der Schwärmer war einge-
zogen und die birnförmige Körper^gestalt in diejenige einer unr-egel-
mässig rundlichen Scheibe übergegangen , deren Umfang sternförmig
in mehrei'e Fortsätze ausgezogen war. Die rothgelben Plasmakörper
glichen nun im Umriss vollständig den zur Ruhe gekommenen Myxomy-
ceten-Schwärmern oder auch der Amoeba radiosa von Ehrenberg.
Nur hatten die ringsum ausgestreckten Fortsätze (5 — 20 gewöhnlich an
Zahlj bald mehr eine schlank kegelförmige , bald mehr eine kolbenför-
mige Gestalt (Fig. 6). Die meisten Fortsätze waren einfach, die grös-
seren fingen jedoch schon in dieser Zeit an dei' Spitze an sich gabel-
förmig zu theilen oder selbst mehrfach zu verästeln. Das Ausstrecken
und Einziehen der formwechselnden Fortsätze geschah durchaus in der--
selben Weise, wie bei den lebhafter beweglichen Amoebenai'ten.
Schon kurze Zeit nachdem die Schwärmsporen der Protom yxa
zur Ruhe gekommen und in den Amoebenzustand übergegangen sind,
beginnen dieselben Nahrung aufzunehmen. Mit einem Wassertropfen
brachte ich eine Anzahl von kleinen Diatomeen in das Uhrschälchen und
alsbald begannen diejeni.i.'en Amoeben , welche mit den Diatomeen in
Berührung kamen, ihre Fortsätze an dieselben anzulegen und sie in der
88 Erust Häckel,
bekannten Weise zu umfliessen. Bald waren die Naviculen ganz von
einzelnen Anioeben umflossen, deren ganzer Körper gleichsam nur einen
dünnen Sclileiinüberzug über den ersteren darstellte (Fig. 8,9). Der
gelbbraune Plasniainhall der kieselschaligen Diatomeen wurde von den
Amoeben assimilirt und dann zogen sie sich wieder von den entleerten
Kieselhüllen zurück, und begannen vom Neuem die charakteristischen
Amoebenbewegungen, das bestandige Ausstrecken und Einziehen der
form wechselnden fingerartigen Forlsätze. Das Volum der kleinen Amoe-
ben wuchs durch die Verdauung einer Navicula wohl um das Zwei- bis
Dreifache, und nun begannen auch die Fortsätze sich länger auszuzie-
hen, reichlicher zu verästeln, und selbst hier und da bereits eine Ana-
stomose zu bilden.
Erst nach erfolgter Nahrungsaufnahme begannen in den Amoeben
Vacuolen aufzutreten, welche sowohl in den ruhenden als in den
schwärmenden Sporen vollständig vermisst wurden. Gewöhnlich trat
zuerst eine einzige, seltener gleichzeitig 2 — 3 kleine Vacuolen als helle,
langsam pulsirende kreisrunde Flecke in dem rölhlitl; gelben Amoeben-
körper auf. Aber schon jetzt Hess sieh durch andauernde Beobachtung
feststellen, dass die Vacuolen keine constanten contractilen Blasen, son-
dern Ansammlungen von Flüssigkeit innerhalb des contractilen homo-
genen Plasmaparenchyms waren. Bald entstanden sie an dieser, bald
an jener Stelle, ohne nach ihrem Verschwinden wiederzukehren.
Mehrfach konnte ich bei den Schwärmern der Protom yxa unter
meinen Augen die Bildung von Plasmodien durch Verwach-
sung (Concrescenzj von zwei oder mehreren Amoeben
unmittelbar verfolgen. Bisweilen geschah es, dass zwei Amoeben,
w-elche eine Navicula an entgegengesetzten Enden eriasst hatten und sich
über dieselbe herüberzogen , bei der Begegnung in der Mitte in eine
einzige zusammenflössen (Fig. 8, 9). Nach erfolgler Verdauung zog
sich die vereinigte Plasmamasse als ein einziges amoebenartiges Indi-
viduum von der entleerten Kieselschale zuiück. Aber auch an freien
Amoeben, welche sich auf dem Glase begegneten und mit ihren aus-
gestreckten Pseudopodien berührten , konnte der Verschmelzungspro-
cess unmittelbar wahrgenommen werden. Da, wo die Amoeben in
dichten Gruppen auf dem Boden des Gläschens neben und durch ein-
ander krochen, sah ich oft drei bis vier derselben gleichzeitig mit ein-
ander verschmelzen (Fig. 7;. So entstanden grössere Plasmodien, die
durch die grössere Anzahl der Vacuolen und durch die reichlichere Ver-
ästelung und Anastomosenbildung der ausgestreckten Fortsätze bereits
den Uebergang zu den oben beschriebenen erwachsenen Protomyxen
bildeten 'Fig. tO).
Monographie der Moneren 80
Ob die Plasniodienbildung , d. h. die Entstehung grösserer Sar-
codekörper durch Concrescen/ mehrerer Anioeben , für die Entwicke-
lung der erwachsenen Protoniyxa ein nolhwendiger und unent-
behrlicher oder ein mehr zufälliger und gleirhgülliger Process ist,
vermag ich nicht zu entscheiden. Doch ist mir das lelzicre wahrschein-
licher, ich isolirte mehrere einfache Amoeben einzeln auf kleinen Glas-
clien und führte ihnen reichlich Diatomeen -Nahrung zu. Innerhalb
weniger Tage nahmen dieselben an Grösse beträchtlich zu und erreich -
ten das Vier- bis Sechsfache des ursprünglichen Volumens. Die Pseu-
dopodien wurden längei' und bildeten zahlreichere Aeste und Anasto-
mosen. Es ist kein Grund für die Annahme vorhanden, dass nicht
einfach durch solches fortgesetztes Wachsthum jede einzelne aus einer
Schwarmspore hervorgegangene Amoebe die volle Grösse der reifen
Protomyxa erreichen, und sich dann eben so gut und in gleicher
Weise durch Sporogonie fortpflanzen könne, wie die Plasmodien.
Diese letzteren, als Complexe mehrerer verschmolzener Amoeben, wer-
den nur den Vorzug haben , rascher zu wachsen und den Ruhezustand
eher zu erreichen, als die einzelnen Amoeben.
üni die Naturgeschichte der Protomyxa vollständig herzustellen,
war es nur noch erforderlich, die Encystirung der reifen Form zu be-
obachten , den Cebergang der frei beweglichen Plasmodien in den
Ruhezustand der rothen Kugeln , welche neben den letzteren sich auf
den Spirula- Schalen angeheftet hatten. Auch diesen Uebergang ge-
lang mir festzustellen.
Zwei der grössten von den reichlich gefütterten Plasmodien, welche
sehr zahlreiche Vacuolen enthielten und ein sehi- ausgedehntes Sarcode-
netz mit vielen Aesten und Anastomosen gebildet hatten, begannen
nach einiger Zeit ihre auffallend raschen Strömungsbewegungen zu
verlangsamen und ihr Stromnetz zu vereinfachen. Die Kieselschalen
der reichlich aufgenommenen Diatomeen wurden ausgestossen, und die
Aeste und Zweige der Pseudopodien einer nach dem andern eingezogen.
Endlich zogen sich auch die immer einfacher gewordenen Hauptstämme
in den centralen Plasmakörper zurück , und der gesammte homogene
Sarcodeleib nahm die Form eines unregelmässigen Klumpens an , der
sich schliesslich in eine reguläre Kugel abrundete.
Nun begann die Ausscheidung der Cystenhülle, indem
zunächst der haarscharfe einfache Rreiscontour der orangerothen Plasma-
kugel in einen zwar feinen, aber deutlichen Doppel-Conlour überging.
Diesem folgte bald eine zweite, dann eine dritte concentrische Kreis-
linie, und '. entstand ziemlich rasch (im Verlaufe eines Tages, die
concentrisch geschichtete hyaline Cystenhülle, deren Schichtstreifen
90 Ernst Häckel,
dem periodischen Absatz der ausgeschiedenen Gallerthäute entsprachen.
Anfanglich waren in dem Plasma während des Encystirungsprocesses
noch eine Menge von Vacuolen sichtbar, die bald hier, bald dort auf-
tauchten und w ieder verschwanden ; jedoch nahm ihre Anzahl zu-
sehends ab , und nach voUendelei Bildung der CystenhüUe war keine
Vacuole in dem orangerothen , von zahlreichen Körnchen durchsetzten
Plasma mehr wahrzunehmen. Die encystirte Plasmakugel war nun
nicht mehr von denjenigen rothen Kugeln zu unterscheiden , deren
Uebergang in die Schwärmsporenmasse ich oben beschrieben habe.
Somit war denn der Generationscyclus der Protomyxa erschöpft
und der Kreislauf ihrer einfachen und merkwürdigen Lebenserschei-
nungen festgestellt. Protomyxa aurantiaca ist ein Moner, welches
gleich den Vampyrellen und Protomonaden in zwei verschiedenen Zu-
ständen während seines individuellen Lebenslaufes erscheint. Im frei
beweglichen Zustande tritt die Protomyxa als ein nacktes Gymno-
moner auf, von dem morphologischen Werth einer denkbar einfach-
sten Plastide (Cytodej, welches nach einander drei verschiedene Form-
zustände annimmt: I, denschwärmendenFlagella ten-Zustan d, eine
frei schwimmende, nackte, mit einer Geissei versehene, birnförmige
Schwärmspore (Fig. 5), 11, den kriechenden Amoeben-Zustand,
eine Amoebe einfachster Art (Protamoeba) , ohne Kern und ohne
contractile Blase, ohne Verästelung und Netzbildung der Pseudopodien,
und ohne Vacuolenbildung (Fig. 6), III, den netzförmigen Rhizopo-
den-Zustand, ein colossales nacktes Plasmodium mit Verästelung
und Netzbildung der Pseudopodien und mit Vacuolenbildung (Fig.
10 — 12). Im unbeweglichen Ruhezustande dagegen erscheint die Pro-
tomyxa als ein beschal tes Lepomoner, als eine von einer aus-
geschiedenen Membran umgebene Lepocytode, bestehend aus einem
völlig homogenen kugeligen Plasmakörper und einer von demselben
ausgeschiedenen structurlosen Hiillmembran (Fig. 1j. Der Plasma-
körper zerfällt durch Monosporogonie in zahlreiche kleine Kugeln (Fig.
2, 3) , welche nach ihrem Austritt aus der geborstenen Cystenmem-
bran (Fig. 4) als Flagellaten umherschwärmen (Fig. 5). Hiermit ist
der einfache Generationscyclus der Protomyxa aurantiaca voll-
endet. M
1) Meiner P rot omyxa möglicherweisp sehr nahe verwandt sind die weissen
eiähnhchen Knsielri , weiche Ecker in abgestorbenen Eiern von Lymnaeus
statin aus auffand. (Zeitschr. für wiss. Zool. 1851, Vol. III , p. 412, Taf XIII,
Kig. 1 - 4). Die l<ut;e|iu;en Cysten, aus denen Schwärmer mit 2 Geissein (»Cerco-
nionaden«) hervorkamen, erinnern nach Ecker's Darstellung auffallend an die Cy-
sten der Protomyxa. Leider wurde die weitere Eiitwickelung nicht beobachtet.
Monographie der Moneren. 91
II. 2. Myxastrum radians.
[Hierzu Tat UL, Fig. U -24 )
An dem Quai von Puerto del Arrecife, dor Hafenstadt der canari-
sehen Insel Lanzarote, wachsen auf den flachen Stellen des Hafen-
beckens, welche bei liefer Ebbe vom Wasser entblösst werden, in
grosser Menge verschiedene Actinien, namentlich eine braungrüne
A n e in on i a , ferner dichte Büsche von C o d i u m to m en tos u m und
andere Algen. Der feine braune Schlamm , welcher den steinigen Bo-
den dieser flachen Stellen bedeckt, enthalt unter Anderem zahlreiche
Diatomeen und Polythalamien. Um letztere zu studiren und womöglich
Etwas über ihre Fortpflanzung zu ermitteln, sanunelte ich ein wenig
von diesem Schlanmi und Hess denselben in flachen bedeckten Glas-
schalchen einige Zeit stehen.
Als ich nach mehreren Tagen in einem dieser Glaschen , das ich
gegen das Licht hielt, den Schlamm mit einem Glasstabchen umrührte,
gewahrte ich inmitten der aufgerührten und im Wasser umherwirbeln-
den dunklen Partikelchen (Diatomeen, Steinfragmente etc.) einzelne
kleine, mit blossem Auge eben sichtbare durchscheinende hellgraue
Pünctchen , welche mich lebhaft an das unter gleichen Verhältnissen
wahrnehmbare Actin osphaeri u m Eichhornii Stein (Actinophrys
Eichhornii Ehrenberu) unserer süssen Gewässer eiinnerte. Unter das
Mikroskop gebracht, ergab sich sogleich, dass diese Körper allerdings
nicht dem bezeichneten Rhizopoden, wohl aber einem diesen sehr
ähnlichen Organismus einfachster Art angehörten.
Unter starker Vergrössei-ung (Fig. 2i) stellten sich diese Körper-
chen als kugelige Schlein)klümpchen dar, deren centraler Plasma-
körper an der ganzen Peripherie eine sehr grosse Menge von feinen
radialen Schleimfäden (Pseudopodien) ausstrahlte. Diese peripherische
Fadeuzone war ungefähr ebenso breit oder nur wenig breiler , höch-
stens doppelt so breit, als der Durchmesser der centralen Sarcode-
masse, von welcher dieselben ausstrahlten. Dieser betrug ungefähr
0,1 Mm., so dass der gesammte Körperdurchmesser der grösslen Indi-
viduen 0,.'{ Mm. , im längsten Ausdehnungszustande der Strahlen aber
0,.') Mn). erreichte. Die Fäden , welche mit ziemlich breiter conischer
Basis sich von der Oberfläche der Schleimkugel erhoben, verschmälerten
sich sehr rasch und liefen in eine haarfeine Spitze aus. Verästelungen
der Fäden waren sehr späilich , nur hie und da als einfache, selten
wiederholte Habeltheilungen wahrzunehmen, welche unter sehr spitzem
Winkel' theils von der Basis, theils mehr von dem äusseren Theile der
92 Ernst Häckel,
Faden abgingen. Anaslumosen waren ebenfalls sehr spärlich vorhanden,
mit Ausnahme derjenigen Stellen, an denen gerade Nahrung aufgenom-
men wurde (Fig. 23) .
Die gesammte Körpermasse dieses zierlichen , strahlenreichen
Schleimsterns war durchaus structurlos und homogen. Die gleichartige
Sarcodemasse der centralen Kugel ging ununterbrochen auf die aus-
strahlenden Fäden ihrer Peripherie über. Die einzigen Köi'perchen,
welche in der structurlosen , blassgelblichen oder fast farblosen Grund-
substanz sich wahrnehmen Messen , waren zahlreiche und äusserst
kleine darin zerstreute hellglänzende Körnchen und eine geringe An-
zahl von grösseren, ebenfalls stark, lichtbrechenden Körnern. Verfolgte
man anhaltend diese im Plasma des Schleimsterns suspendirten Kör-
perchen, so konnte man eine sehr langsame und träge Ortsveriinderung
an denselben bemerken, offenbar der Ausdruck einer langsamen Strö-
mung der Sarcode, welche auf eine sehr bedeutende Consistenz der
Masse schliessen Hess. Diese letztere ergab sich in der That beim Auf-
legen eines Deckgläschens , durch welches der kugelige Körper bei
massigem Drucke nur wenig abgeplattet wurde. Die zunächst be-
troffenen Fadenbüschel brachen dabei ab, und ihre abgebrochenen
Spitzen, theilweise mehrmals geknickt, schwammen im Wasser umher.
Bei längerer Dauer des Druckes löste sich noch eine grössere Anzahl
von ausgestreckten Pseudopodien ab ; andere wurden sehr langsam
eingezogen. Bei verstärktem Druck gestaltete sich der ganze Körper zu
einer unförmlichen Masse, welche sich jedoch nicht flach auf dem Ob-
jectträger ausbreitete , sondern in viele unregelmässige Stücke zer-
brach. Offenbar zeigte sich in allen diesen Erscheinungen eine un-
gewöhnliche Consistenz und Zähigkeit des dickflüssigen Plasma , in
ähnlicher Weise , wie sie auch verschiedene Acanthometriden und
unser Actinosphaerium Eichhornii gegenüber den meisten an-
deren Rhizopoden zeigen.
Wie in der gesammten Körperform und Grösse, in der Consistenz
der zähen und starren Plasmafäden , ihrer geringen Neigung zur Ver-
ästelung und Anastomosenbildung, ihrer trägen Körnchenströmung, so
glich unser Moner dem bekannten Actinosphaerium Eichhornii
auch in der Nahrungsaufnahme. Diese war leicht zu beobachten,
sobald man die kleinen Köiperchen verfolgte, welche im Wasser um
unsere Schleimkugel heruinschwaunnen , und in deren Strahlenbezirk
geriethen. Es waren dies vorzüglich Diatomeen, Peridinien, Nauplius-
Formen verschiedener Crustaceen und verschiedene Infusorien. (Fig. i'l .
Sobald eines dieser seh wärmenden Körperchen zwischendie Strahlen
des Moneres hinein gerieth, blieb es an denselben haften, wie es schien
Monoeiiiphip dpr Moiipren. 93
in Folge der klebrigen Beschaffen heil ilirer Olteifliiclie. Bei dem Ver-
suche, sich lus zu nuiclien, reizte es durch seine unriiiiigen Stusse die
benachbarten Pseudopodien., und nun legten sich diese langsam von
allen Seiten über die gefangene Beute herüber-, ganz ähnlich, wie es
bei Act inosphaerium bekannt ist. In <ier Regel \\aren einzelne
Fäden hierbei zu beobachten, welche bei längerer fesler Berührung eine
wahre Anastomose bildeten. Doch schienen dieselben nicht immer über
der Beute zusammenzufliessen und sie mit einer continuirlichen Sar-
codehülle zu umgeben , wie es bei den meisten echten Rhizopoden der
Fall ist. Vielmehr schienen die starren Pseudopodien, welche sich dichter
und dichter um die gefangene Beute zusammendrängten, diese oft nur
der 0})erfUiche der centralen Plasmakugel zuzuschieben und endlich
in die zähflüssige Schleimmasse derselben hineinzudrücken. (Fig. 23).
An der Oberfläche bildete sich eine flache Grube zur Aufnahme des
fremden Körpers, welche tiefer und tiefer wurde und endlich sich
wieder über demselben schloss. Bisweilen wurde dabei zugleich eine
geringe Quantität Seewasser mit verschluckt, so dass der Bissen in
einer Vacuole von kreisrundem Umriss zu liegen schien. Langsam wurde
nun allmählich die verschluckte Beute, deren Bewegungen gewöhnlich
schon vor der Aufnahme in den centralen Körper aufgehört hatten , in
das Innerste des letzleren hineingedrängt und hier verdaut. Die un-
verdaulichen Ueberreste wanderten in gleicher Weise langsam wieder
nach aussen, gewöhnlich noch von einer kleinen Flüssigkeitsmenge, wie
\on einer kugeligen Alveole umschlossen. Die Oberflache der cen-
tralen Schleimkugel öfl"nete sich an einer beliebigen Stelle und zwischen
den Basen der Pseudopodien traten die Excremente nach aussen.
Während in allen diesen Beziehungen unser Moner sich dem be-
kannten Actinospha e rium Eichhornii sehr ähnlich verhielt, so
zeigten sich dagegen bei genauerer Betrachtung sofort Unterschiede,
welche ersteres als ein ganz verschiedenes Prolist nachwiesen. Acti-
nosphaerium ist leicht von allen übrigen bekannten ähnlichen Pro-
tisten durch zweierlei anatomische Eigenlhümlichkeiten zu unterschei-
den : erstens durch die deutliche DilTerenzirung des Körpers in eine
centrale (Mark-) und eine peripherische (Rinden-) Schicht, und zwei-
tens durch die eigenthümliche Slructur der Pseudopodien. Die centrale
oder Markmasse desselben besteht aus einem Sarcodekörper, welcher
zahlreiche echte ikernhallige) Zellen enthält. Die Sarcode der Rinden-
masse dagegen umschlicsst zahlreiche dichtgediängte Vacuolen, welche
der ganzen Rinde ein alveoh'res Aussehen verleihen. Jedes Pseudo-
podium besteht aus einer festeren hyalinen Axensubstanz , welche von
der Maikmasse ausgeht, und aus; einer dünnflüssigeren, körnchenfüh-
94 Ernst H.ickel,
renden Rindensubstanz, welche erstere überzieht.*) Durch diese histo-
logische DifiFerenzirung schliesst sich Actinosphaerium bereits an
die Radiolarien an, von denen es sich jedoch dadurch wesentlich unter-
scheidet . dass die zellenhaltige Markmasse nicht durch eine besondere
Membran iCentralkapsel von der peripherischen Sarcode getrennt ist.
Zugleich unterscheidet sich dasselbe durch diese Differenzirung wesent-
lich von der echten Äctinophrys (sol , welche sich durch ihren ho-
mogenen Sarcodekörper eng an die Moneren anschliesst. Jedenfalls ist
es ganz ungerechtfertigt, diese beiden ganz verschiedenen Protisten als
zwei verschiedene Species des einen Genus A c t i n o p h r \ s zu betrach-
ten. Die von Stein eingeführte Trennung der echten Äctinophrys
fsol von dem viel höher difl'erenzirten Actinosphaerium lEich-
hornii ist auf alle Falle nothwendig. Actinosphaerium ist ein
echtes Rhizopod. welcl)es zwischen den Acyttarien und Radiolarien in
der Mitte steht, und welches ich daher in meiner gen; rellen Morphologie
iTol. II. p. XXVIIIi als Repräsentanten einer besonderen ^dritten)
Hauptabtheilung der echten Rhizopoden zwischen jene beiden gestellt
habe Heliozoa .
Das in Fig. 23, 2i abgebildete Schleimsternchen enthält in seinem
ganz homogenen Sarcodekörper weder die kernhaltigen Zellen . noch
die blasenförmigen Vacuolen 'des Actinosphaerium. Ebenso fehlt
gänzlich die Differenz einer Axen- und Rindenschicht in den durchaus
homogenen Pseudopodien. Eher würde man unser Moner mit der ech-
ten Äctinophrys sol zusammenstellen können. Jedoch besitzt es
nicht die charakteristische Vacuolenbildung die grosse contractile
Rlase an der Oberfläche des letzleren , und zeichnet sich ausserdem
durch seine eigenthümliche Fortpflanzung so sehr aus, dass es als Re-
präsentant eines neuen Genus zu betrachten ist, für welches ich den
Namen Myxastrum vorschlage. Die abgebildete Art von Arrecife
nenne ich My xa st rum radians
Die Körnchen, welche in dem Sarcodekörper des Myxastrum
zerstreut sind, finden sich in sehr verschiedener Menge, je nach der
Quantität der aufgenommenen Nahrung. Myxastrum verhält sich in
dieser Beziehung ebenso wie Protom yxa und wie die echten Rhizo-
poden. Nach reichlicher Füllung erscheint eine grosse Menge von
Körnchen , welche sehr deutlich die langsame und wechselvolle Circu-
lationsströmung im Parenchym des soliden Plnsmakörpers und seiner
Pseudopodien . und scheinbar auch auf deren Oberfläche verfolgen
< Mai ScHULTZE , Das Protoplasma der Rhiznpoilen und der Pflanzenzellen.
4863. p. 35 ff.
Monographie der Moneren. 95
lassen. Sie ist ganz wie bei den A ca n t Itoinet ren , ihre Richtung
beständig wechselnd. Veriistelunu, Anastomose und Platlenbildung
der starren Pseudopodien ist selten. Bei liincere Zeit hungernden In-
dividuen nimmt die Quantität der Sareodekörnchen bedeutend ab.
Zuletzt scheinen dieselben ganz zu verschwinden.
Durch künstliche Theilung Hess sich Myxaslrum ebenso wie
Protomyxa vermehren. Bei zwei Individuen, von denen ich unter
dem Präparirmikroskop das eine in zwei, das andere in drei Stücke
mit scharfen Nadeln zerrissen hatte, rundete- sich jedes Theilstück lang-
sam zu einer selbstständigen Schleimkugel ab, welche allmählich anfing,
die eingezogenen Pseudopodien w ieder vorzustrecken . und nun gleich
ilen ungetheilten Individuen sich zu ernähren und weiter zu leben.
Die gleiche künstliche Theilbarkeit habe ich bei dem ähnlichen Acti-
nosphaerium E ichhornii bereits 1862 nachgewiesen.
Die activen Bewegungen des ganzen Körpers waren bei Myia-
str u m eben so schwach und langsam , wie bei Actin osphaeri um.
Jedoch vermochte es sich auf deniObjectträger sehr langsam, wankend,
von der Stelle zu bewegen , scheinbar rotirend oder wälzend, oder auf
den stachelarligen Pseudopodien sich wie ein Seeigel fortbewegend.
Der glückliche Erfolg, den meine Untersuchungen über die Ent-
wickelungsgeschichte von Protomyxa gehabt hatten, Hess mich
lioffen , auch bei Myxastrum einen gleich vollständigen Entwicke-
lung>cyclus zu beobachten. Mehrere der grössten und reichlich gefütter-
ten Myxastrum isolirte ich in einzelnen Uhrgläschen mit Seewasser.
Diese bewahrte ich in einer geräumigen feuchten Kammer mehrere
Wochen auf, ohne dass die Myxastren abstarben.
In den ersten Tagen zeigten die isolirten Myxastren keine Verän-
derung. Dann aber bemerkte ich zuerst an einem, bald darauf auch
an einem zweiten Individuum, dass das Schleimsternchen seine Strahlen
eingezogen und sich zu einer ganz einfachen Schleimkugel mit glatter
Obertläche zusammengezogen hatte. Alle Reste der früher aufgenom-
menen Nahrung waren entfernt, undausserden feinen zahlreichen Körn-
chen keinerlei Formelemente in dem ganz homogenen Sarcodekörper
wahrzunehmen. Einige Tage später wurde ein doppelter scharfer Con-
touran Stelle des bisherigen einfachen sichtbar, und nun zeigte es sich,
dass das Myxastrum sich ebenso wie die Protomyxa encystirt hatte.
Die anfangs sehr dünne Cystenmembran wurde langsam dicker und
dicker, indem schichtenweise neue Lagen abgeschieden wurden , und
endlich erreichte ihre Dicke Vg von dem Durchmesser der eingeschlos-
senen Plasmakugel. [F\^. 13^.
Das encystirte Myxastrum stellte ebenso wie die encystirte
96 Efnst Häckel,
Protom yxa, eine ganz einfache kiisielige Lepocylode dar, eine
vollkommen striicturlose und homogene Plasmakugel von 0,08 Mm.
Durchmesser. Auch in chemischer Beziehung zeigte es die gleichen
Reaciionen, wie die encystirte Protomyxa. Die Membran war eben
so structurlos, jedoch derber, dicker und consistenter.
Meine Ilofl'nung, die weitere Entwicklung des encyslirten Myxa-
st rum ebenso wie bei Protomyxa weiter verfolgen zukönnen, schien
zunächst nicht in Erfüllung zu gehen. Um dieselbe zu verfolgen, betrach-
tete ich fast Tag für Tag die eingekapselten Plasmakugeln, welche ich
sorgfältig in kleinen Uhrschälchen in der feuchten Kammer isolirt hielt.
Endlich nach /weiwöchentlichem vergeblichen Warion wurde eine Ver-
änderung bemerkbar. Es begann nämlich die homogene Plasmakugel
eine grosse Anzahl von radialen Streifen zu zeigen, und in der Rich-
tung dieser Streifen sich zu zei'klüften, etwa wie bei der Dotlerfurchung
\on Sagi tta. Nach drei bis vier Tagen war der ganze kugelige Plasma-
körper in ungefähr 50 verdichtete kegelförmige Inhaltspartieen zer-
fallen, welche im Centrum der Kugel sich mit ihren Spitzen berührten,
während die abgerundete Basis der schlanken Kegel die Innenseite der
Cystenwand berührte (Fig. U). Zwischen den einzelnen conischen,
radial gestellten Plasmaportionen , deren Substanz sich offenbar lang-
sam verdichtete, sammelte sich eine geringe Quantität von einer hellen
wässrigen Flüssigkeit an. Nun trat auch langsam eine Formverän(ie-
rung dei" radialen Piasmastücke ein, indem ihi-e ursprüngliche Ke-
gelgestalt mchi' und mehr in Spindelform überging. Zugleich zogen
sich die inneren Spitzen der beiderseits zugespitzten Spindeln aus dem
Centrum zurück, in welchem sich Flüssigkeil ansdmmelle. Fig. 15, \Q>].
Jedes einzelne von den gestreckten spindelföi'nn'gen Plasmakör-
perchen, welche durch die radiale Theilung der einfachen Plasmakugel
entstanden waren, begann nun eine dünne Hülle/fluszuscheiden, welche
als ein deutlicher doppelter Contour zwischen den einzelnen Spindeln
sichtbar wurde Fig. 15, 16). Die Länge des spindelförmigen Körper-
chens betrug nur 0,03 Mm. , seine grösste Breite (der in Mitte) 0,015
Mm. , die Dicke seiner Hüllmembran 0,0012 Mm. Diese Hülle bestand,
wie sich alsbald durch die chemischen Reaciionen ergab, aus Kiesel-
erde. Isolirt hätte man jedes einzelne Spindelchen für eine kleine Dia-
tomee, etwa eine Na vicu la , halten können (Fig. 17). Jedoch fehlte
dem gänzlich structurlosen Plasniakörper der Kern , welchen die Dia-
tomeen besitzen. Es war jede Spindel mithin eine einfache Cytode,
keine echte (kernhaltige) Zelle.
In diesem Zustande, geschützt von der festen Kieselhülle und
ausserdem noch von der genieinschnltlichen Cvstenhülle des elterlichen
MüiiouTiiidiiP der Moiicrcii. 97
Küipers, verJuinen die sj)in{lc'll'oiiiiii;on Ktimc des M y x ast i'U üi wahi-
sclieinlic'h unlci- ihren nalüriiihen Exislenzbedingunj^en längere Zeil,
ehe sie sich weiter enlwickehi. Da selbst nach Verlauf von einer
Woche keine aiilTallige Veiänderiing an denselben zu bemerken war,
und da tue Zeil meines Aufenlhalls auf Lanzarote zu Ende ging, be-
schloss ich, die beiden einzigen Cyslen, welche noch übrig waren, zu
sprengen, und zu sehen, ob dann eine Weiterenlwickelung der Keime
einträte. Dies geschah in der Thal.
Nachdem ich die beiden kugeligen Cyslen gesprengt hatte , (was
bei der Festigkeit der hyalinen Cystenmembran einen ziemlich bedeuten-
den Druck erforderte) traten die spindelförmigen Kieselsporen ausein-
ander und zerstreuten sich im Wasser. In den ersten beiden Tagen
war keine Veränderung und keine Bewegung an denselben zu bemer-
ken. Sic lagen regungslos und scheinbar unverändert am Boden des
l'hrschälchens. Endlich am dritten Tage bemerkte ich, dass aus dem
einen Ende mehrerer Kieselspindeln ein hyaliner fingerförmiger, abge-
rundeter Fortsatz heivorsah, etwa ^j,^ oder Yg so lang als die Spindel.
Am entgegengesetzten Ende hatte sich der Plasmainhalt von der Kie-
selhülle abgehoben, und hier war eine helle Lücke bemerkbar (Fig. 18).
Langsam wurde diese Lücke grösser, während entsprechend das Plasma
am anderen Ende mehr und mehr vorquoll (Fig. 19). So schlüpfte
schliesslich der gesammte homogene Plasmakörper der spindellörmi-
gen Spore aus seiner Kieselhülle heraus, zog sich kugelig zusammen
und blieb regungslos vor der entleerten Hülle liegen (Fig. 17, 20). Die
herausgeschlüpfte Plasmakugel war vollkommen homogen und structur-
los, nur von äusserst feinen (bei 500 maliger Vergrösserung noch nicht
messbarenj Körnchen durchsetzt. Von einem Kerne und ebenso von
einer Vacuole war auch bei Anwendung verschiedener Reagentien keine
Spur wahrzunehmen. Die nackte Spore war in der That eine gänz-
lich structurlose Sarcodekugel. Auch an der entleerten Kieselmem-
bran war keinerlei Structur wahrzunehmen. Sowohl in Flüssigkeit als
getrocknet bei stärkster Vergrösserung und schiefer Beleuchtung be-
trachtet, zeigte die dünne Kieselhülle keinerlei Oberflächenzeichnung
oder sonstige Ditferenzirung. Ob das enge Loch, durch welches die
nackte Spore oder Keimcytode aus ihrer Kieselhülle heivortritt, prae-
exislirt , oder erst vor dem Durchbruch von dem Plasma (durch Auf-
lösung der Kieselhülle an der Spitze, gebildet wird, ob dieses Loch an
beiden Enden dei' spindelförmigen Spoienmembran oder nur an einem
Ende, und ob es in letzterem Falle an inneren (centralen) oder äusseren
(peripherischen) Ende der radial gestellten Kieselspindel sich findet,
vermochte ich nicht zu entscheiden.
Baaü IV. 1. 7
9S Ernst Häekel,
Ein paar Stunden, nachdem der Plasmakörper des Myxastrum
aus seiner spindelförmitzen Kieselhülle hervorgeschlüpfl ist, bleibt er
regungslos als nackte Plasmakugel vor der leeren Hülle liegen. Dann
wird seine gesannnte, bisher glatte Oberfläche feinstachelig (Fig. 21).
Diese Stacheln sind weiter Nichts, als radiale Forlsätze des Plasma,
welche sich allmählich länger ausziehen und schliesslich den Durchmesser
der centralen Plasmakugel erreichen und selbst übertreffen (Fig. 22).
Bald bemerkt man nun auch, dass die Körnchen der centralen Sarcode-
masse in diese strahligen Pseudopodien übergehen , und dass dasselbe
Spiel der Körnchencircuhition beginnt, wie ich es oben an dem er-
wachsenen M\ .Kastrum beschrieben habe. Auch bleiben nun schon
kleine fremde Körperchen, welche zufällig mit den Pseudopodien in Be-
rührung kamen, an diesen hängen, und werden langsam in die centrale
Leibesmasse hineingezogen, um dort assimilirt zu werden. Offenbar
liegt nun in diesen kleinen Strahlenkugeln von 0,08 Mm. Durchmesser
bereits die Form des 30 — 50 mal grösseren ausgebildeten Myxastrum
vor, und letztere kann sich durch einfaches Wachsthum aus der ersteren
entwickeln. Besondere Differenzirungsprocesse oder überhaupt andere
Veränderungen als das einfachste Wachsthum sind dazu nicht mehr
nöthig. An einzelnen der kleinen actinophrysähnlichen Keime, welche
Nahrung aufgenommen hatten, waren auch bereits hier und da spär-
liche Verästelungen und Anastomosen der radialen Pseudopodien wahr-
zunehmen. Dagegen kamen ebenso wie bei dem erwachsenen Myxa-
strum weder Vacuolenbildung noch Differenzirung von Kernen in dem
durchaus homogenen Plasmakörper vor.
Unter natürlichen Verhältnissen bleibt das encystirte Myxastrum
wahrscheinlich lange Zeit liegen , ehe seine Gystenmembran aufgelöst
oder gesprengt, und damit der erste Anlass zur weiteren Entwickelung
der spindelförmigen Kieselspore i gegeben wird. Offenbar wäre auch
bei den beobachteten Cysten diese Entwickelung noch nicht eingetreten,
wenn ich nicht künstlich die Cystenhülle gesprengt hätte.
Myxastrum radians ist, wie aus der vorhergehenden vollstän-
digen Schilderung seines Generationscyclus oder seines individuellen
(biontischeu; Entwickelungskreises hervorgeht, ein Moner, welches
gleich den Protomyxen, Protomonaden und Vampyrellen während seines
individuellen Lebenslaufes in zwei ganz verschiedenen Zuständen er-
scheint, einem ruhenden und einem freibeweglichen Zustande. Im
f rei bew eglichen Zustande, während dessen die Ernährung
geschieht, gleicht Myxastrum sehr einer echten Actinophrys (sol)
und unterscheidet sich wesentlich nur durch Mangel jeder Vacuolen-
bildung. Im ruhenden Zustande dagegen, während dessen die
Moiiogniphio di'i- Mdiicrcn. 99
Foit plla nz ung slaUliiidet, stellt M^xa.slruiii eine kugelige Cyste
dar, deren homogener Plasmainlialt durch S trahltheilun g (Dira-
tlialioj'j in eine Anzahl von spindelförmigen ruhenden Sporen zerfallt.
Jede Spore scheidet eine Kieselhülle aus und gleicht dann einer Navi-
eula (ohne Kern!). Wenn der Ruhezustand wieder in den freiheweg-
lichen Zustand übergeht, berstet die Cystenhülle; die Sporen schlüpfen
aus ihrer Kieselmembran heraus und gestalten sich sofort wieder zu
einem kugeligen strahlenden actinophrysähnlichen Plasmakörper, wel-
cher durch einfaches Wachsthum in die Form des erwachsenen Myxa-
s t r u m übergeht.
11. 3. Myxodictyuni sociale.
(Hierzu Taf III, Fig. 3i-33 .
Wahrend meiner Rückreise von den canarischen Inseln verweilte
ich in der zweiten Hälfte des März 1867 zehn Tage in der kleinen
spanischen Stadt Algesiras, welche Gibraltar gegenüber an dem west-
lichen Ufer der reizenden Bai von Algesiras liegt. Ich hoffte hier einige
von den reichen pelagischen Thierschwärmen anzutreffen, welche zu
verschiedenen Zeiten in der Meerenge von Gibraltar beobachtet worden
sind. Jedoch zeigte sich von der erwarteten Fülle von Seethieren
Nichts, ausser einigen Physalien, Velellen und anderen pelagischen Hy-
dromedusen, trotzdem ich täglich mit meiner Barke die Bai nach allen
Richtungen durchsuchte. Auch die Ergebnisse der pelagischen Fischerei
mit dem feinen Netz waren sehr dürftig. Der dadurch aufgebrachte
Mulder bestand wesentlich aus kleinen Medusen (Eucopiden) , und aus
grossen Mengen von Noctiluca, von Acanthometren und von polycytta-
rien Radiolarien (Collozoum, Sphaerozoum, Collosphaera und Siphono-
sphaera.'']
Um die Acanthometren , welche an einigen Tagen ziemlich häufig
waren, in ganz unverletztem Zustande zu untersuchen und die Bewe-
gungserscheinungen an ihren Pseudopodien zu verfolgen, schöpfte ich
mehrfach unmittelbar mit Gläsern Wasser von der Oberfläche des Mee-
res, und nachdem dasselbe einige Zeit ruhig gestanden hatte , schöpfte
ich wiederum die Oberfläche des im Glase stehenden Wassers n)it einem
1) Genereile Morphologie, Vol. II, p. 42, 70.
2) Das merkwürdigste unter den dort gefundenen Polycyttarien war eine Si-
phonosph ae ra mit verästelten Kieselröhren auf der Oberfläche der kugeligen
•Gitterschale, welche desshalb S. cladophora heissen kann Eine ähnliche Form
hatte ich schon auf den canarischen Inseln beobachtet. Ich werde diese und die
übrigen dort beobachteten Radiolarien an einem anderen Orte ausführlich be-
schreiben.
\ 00 V'Twsi Häckel,
flachen, ganz untergetauchten Uhrglüschen ab. Diese Methode, welche
allerdings einige Geduld und Vorsicht erfordert, ist sehr zu empfehlen,
wenn man die Sarcodebeu egung an den Pseudopodien kleiner Radio-
larien und die wirkliche Körnchenbewegung in den Sarcodeströmen
an ganz unberührten, unverletzten und frischen Objeeten beobachten
will. Neben mehreren Acanthometren und Onmiatiden , welche ich auf
diese Weise erhielt, führte mir ein günstiger Zufall auch das merkwür-
dige rhizopodenartige Moner zu, welches ich im Folgenden als Myxo-
diclyum sociale beschreiben will.
Als ich bei massiger Vergrösserung den Focus des Mikroskops auf
die Oberfläche des Wasserspiegels einstellte , auf welcher die Acantho-
metren flottirten, bemerkte ich eine Gruppe von kleinen dicht beisam-
men liegenden rundlichen strahlenden Körperchen, deren jedes wie eine
kleine Actinophrys aussah. Bei 400 maliger Vergrösserung zeigte diese
Gruppe das Bild, welches in Fig. 31 dargestellt ist.
Auf einem Stück des Wasserspiegels, der ungefähr einem Kreise
von 0,35 Mm. Durchmesser entsprach, zeigte sich eine Gruppe von
siebzehn durchsichtigen feinpunclirten strahlenden Körperchen, deren
jedes ungefähr das Aussehen einer flach ausgebreiteten Actinophrys
sol oder eines Trichodiscus hatte. Jedes Körperchen strahlte zahl-
reiche feine verästelte und anastomosirende Fäden aus, welche mit de-
nen der benachbarten Körperchen sich vereinigten. An den Fäden war
die charakteristische Körnchenströmung, das Entstehen und Vergehen
von Aesten und Anastomosen zu beobachten, welche die Pseudopodien
der echten Rhizopoden auszeichnen , und die Körnchenströmung ging
von einem Körperchen auf die anderen über (Fig. 31).
Jedes einzelne von den siebzehn auf diese Weise verbundenen
actinophrysähnlichen Körperchen stellte eine vollkommen structurlose
Scheibe von 0,03 — 0,04 Mm. Durchmesser dar, und war von den be-
nachbarten durch einen ebenso grossen oder höchstens zwei bis drei
mal so grossen Zwischenraum getrennt. Jedes Körperchen erschien in
seiner ganzen Masse aus einer durch und durch homogenen Substanz ge-
bildet, einem festflüssigen Plasma, welches sich ganz wie die Sarcode der
Protomyxa oder der Radiolarien verhielt. Von irgend welcher Structur
oder Differenzirung war in diesem schleimigen Eiweisskörper so wenig
als bei Protom yxa eine Spur wahrzunehmen ; namentlich fehlte völlig
ein Unterschied zwischen einer festeren Rindenschicht und einem wei-
cheren Markplasma ; Vacuölen schienen ganz zu fehlen. Die sehr feinen,
grösslentheilsunmessbarfeinenKörnchen, welche Inder vollkommen ho-
mogenen Grundsubstanz zerstreut waren, befanden sich fast beständig in
langsamer Bewegung. Einige eingestreute grössere Körnchen Hessen sich
Monographie der Moneren. 101
sehr schön auf ihrer Wanderung durch die Masse des Körpers hindurch,
auf den Pseudopodien, ihren Z\veic;en und Anastomosen, und von
einem Körperchen zum anderen verfolgen. Die Strömung der Sarcode
war ziemlich langsam, bei weitem nicht so rasch, als bei Protomyxa
und bei Protogenes, aber auch nicht so langsam, als bei Myxa-
strum. Man konnte ganz deutlich sehen, wie die grösseren Körnchen
auf einzelnen Pseudopodien der in der Peripherie gelegenen Körperchen
von der Plasmaströmung bis zur Spitze dei' äusserst feinen Fäden ge-
führt wurden, hier umkehrten und w ieder zurückliefen oder durch eine
plattenförmige Anastomose auf einen anderen benachbarten Faden über-
traten. Führte dieser Faden durch Anastomose mit dem Faden eines
benachbarten Körperchens in die Substanz des letzteren hinüber, so
konnte man das Körnchen in diese übertreten sehen. Von hier konnte
dasselbe wieder auf ein anderes Körperchen übergehen und so fort.
Kurz es stellte sich bei andauernder Beobachtung als unzweifelhaft
heraus, dass der ganze zusammenhangende Plasmakörper aus einem
einzigen grossen, völlig homogenen Sarcodenelz bestand, und dass
die siebzehn einzelnen strahlenden Plasmakörperchen gewissermassen
nur stärkere Anhaufungen von Sarcodemasse in den Knotenpuncten
dieses Netzes waren. Die Maschen des Netzes waren polygonal, meistens
fünf- oder sechicckig, von 0,01 — 0,02 Mm. mittlerem Durchmesser,
übrigens ganz formunbeständig. Während einzelne Pseudopodien neue
Aestchen aussendeten und diese durch Verschmelzung mit benachbartep
Fäden wahre Anastomosen bildeten , wurden an anderen Stellen grös-
sere Maschen dadurch hergestellt, dass der Sarcodezufluss von einzel-
nen Fäden her aufhörte, und nun mitten im Verlaufe eines Stromes eine
Unterbrechung entstand. Der centrale Theil eines solchen unterbroche-
nen, gleichsam durchschnittenen Fadens wurde in die sich verdickende
Basis desselben zurückgezogen, wogegen der peripherische Theil in das
Stromgebiet des benachbarten Fadens hinüber gezogen wurde. Neben
den feinen Körnchen circulirten entlang der Fäden auch kleine fremde
Körpercheri, welche zufällig an die Oberfläche der Fäden gcrielhen, hier
haflen blieben und nun von der Sarcodeströnuing ergriffen und mit
fortgeführt wurden. Dass die Sarcode thatsächlich eine festflüssige
Substanz ist, und dass die in derselben suspendirten Körnchen und
fremden Körperchen wirklich von dem flüssigen und ewig wechselnden
Plasmastrome mit fortgeführt werden , Hess sich bei Myxodiclyum
ebenso sicher als bei Protogenes und bei den echten Rhizopoden
(Acyttarien und Radiolarien) beobachten.
Aller Wahrscheinlichkeil nach geschieht auch die Nahrungsauf-
nahme bei M yxodicty u m ganz ebenso wie bei den letztgenannten
t02 Ernst Häckfl,
Protisten. Allerdings waren bei dem einzigen Exemplare, welches ich
in Algesira? beobachtete, und welches ich nur einige Stunden verfolgen
konnte, keine grösseren fremden Körperchen, wie etwa pelagische Dia-
tomeen, Peridinien etc. innerhalb der Plasmasubstanz wahrzunehmen.
Allein auch hei echten Rhizopoden. sowie bei Protogenes und Myxa-
strum fehlen bisweilen, selbst wenn kurz vorher reichliche Nahrungs-
aufnahme stattgefunden , alle fremden Körperchen, sobald nämlich die
unverdaulichen Bestandtheile bereits wieder ausgestossen sind. Die
grosse Anzahl der circulirenden Körnchen in dem Plasmaleibe von
Myxodictyum schien auf reichliche, kurz zuvor stattgehabte Nah-
rungsaufnahme hinzudeuten, und es ist kein Grund vorhanden, die
genannten Phänomene hier anders, als bei Myxastrum. bei Proto-
mysa und den echten Rhizopoden zu deuten.
Das Bild, welches der merkwürdige netzförmige Sarcodeleib von
Myxodictyum sociale bei starker (iOOmaliger. Vergrösserung
gewährt fFig. 31), erinnert auffallend an das ganz ähnliche Bild, wel-
ches ein Polycyttar oder sociales Radiolar z. B. C oilozoum , Collo-
sphaera; bei schwächerer Vergrösserung darbietet, i Die siebzehn
einzelnen strahlenden Sarcodescheiben, welche in den Maschen des
Netzes liegen . entsprechen den einzelnen Centralkapsel» (morpholo-
gischen Individuen der Polycyttarien-Colonie. Man denke sich aus
einem Collozo um -Stocke die Centralkapseln , die Alveolen , welche
das Sarcodenelz tragen , und die gelben Zellen , welche darin zerstreut
sind, entfernt, und man hat vollständig das Bild des Myxodictyum
vor sich.
Für die morphologische Deutung des Myxodictyum ist diese
Vergleichung von Wichtigkeit Denn oflFenbar entspricht der ganze
Körper nicht einem einzigen einfachsten Indi\iduum , sondern einer
Moneren-Colon ie. Die siebzehn einzelnen, sternförmigen und
strahlenden actinophrysähnlichen Plasmakörperchen sind ebenso viele
morphologische Individuen erster Ordnung , und das ganze Plasmanetz
ist trotz seiner absoluten Einfachheit bereits eine Individualität höherer
(zweiter, Ordnung. Es ist gewissermassen eine coloniebildende Acti-
nophrys oder Protogenes. Strenger morphologisch ausgedrückt
ist jeder der siebzehn nackten homogenen Plasmasterne eine Gymno-
cytode, und der ganze Körper ein einfachstes Individuum zweiter Ord-
1) Vergleiche die Abbildungen von Sphaerozounn italicum (Taf. XXXJII,
Fig. 4) und von Co llozo um iner me Taf. XXXV, Fig. iS, in meiner Monographie
der Radiolarien.
Monographie der Moüeren. 1 03
nung oder ein Organ diesen Ausdruck rein morphologisch genom-
men, wie ich ihn in meiner Teclologie angewandt habei.
Da ähnliche Moneren-Colonieen bisher noch nicht bekannt
geworden sind, so wäre es von hohem Interesse gewesen das Myxo-
dictyum längere Zeit hindurch zu beobachten und namentlich die
Fortpflanzungsweise, sowie einen etwaigen üebergang in einen
Ruhezustand, oder möglicherweise auch in einen anderen Organismus
festzustellen. Leider war es mir nicht möglich, hierüber in wünschens-
werther Weise sichere Aufschlüsse zu erlangen. Doch beobachtete ich
wahrend der wenigen Stunden, in denen sich das Myxodictyum in
meinem Glase befand, wenigstens eine Veränderung.
Nachdem ich die in Fig. 31 abgebildete Zeichnung von Myxo-
dictyum entworfen und die Bewegungsphänomene der Sarcode hin-
reichend beobachtet hatte, um ihre Identität mit derjenigen der Rhizo-
podcn festzustellen, setzte ich das Gläschen bei Seite, um einige Acan-
thometren. die ich gleichzeitig gefangen hatte, zu zeichnen. Drei Stunden
später bnichte ich das Uhr^chälchen mit dem Myxodictyum wieder
unter das Mikroskop. Immer noch lag das Schleimnetz in der vorhin
beschriebenen Form an der Oberfläche des Wasserspiegels, und die
laugsame Strömung der Sarcode dauerte ununterbrochen fort. Nur
hatten sich die einzelnen actinophrysartigen Körper etwas weiter von
einander entfernt, etwa um das Dreifache bis Vierfache ihres Durch-
messers : die Maschen des Netzes eischienen grösser und der Umriss
der ganzen Gruppe, welcher vorher nahezu kreisrund gewesen war,
mehr unregelmässig fünfeckig, zugleich in einer Richtung etwas ver-
längert. Bei genauerem Zusehen bemerkte ich, dass nur noch fünfzehn
Individuen in dem Netze vorhanden waren. Zuerst vermuthete ich,
dass vielleicht die zwei fehlenden Individuen mit zweien von den
übrigen zusammengeflossen und verschmolzen seien. Jedoch stellte sich
bei Durchmusterung des ganzen Schälchens bald heraus, dass dieselben
sich einzeln von der Colonie abgelöst hatten , und isolirt am Rande des
Uhrgläschens auf dem Wasserspiegel schwammen. Jedes der beiden
Körperchen hatte einen fast kreisrunden Umriss , strahlte rings einen
leichen Kranz von verästelten und anastomosirenden Pseudopodien aus,
und glich einer Actinophrys sol ohne contractile Blase Fig. 33 .
Möglicherw eise giebl diese Beobachtung einen Fingerzeig über die
Fortpflanzung des Mn xodictyum. Es ist denkbar, dass diese Mone-
ren-Stöcke sich einfach dadurch fortpflanzen, dass von Zeit zu Zeit sich
einzelne Individuen von der Peripherie der Moneren-Gemeinde ablösen.
Diese können dann eine neue Colonie entweder dadurch bilden, dass
das einfache Individuum durch Theilung in mehrere zerfällt, welche
] 04 '^'■nst Häckel,
mittelst ihrer Pseudopodien-Anastomosen vereinigt bleiben ; oder da-
durch, dass an einzelnen Stellen (Knotenpunclen) des peripherischen
Netzes ein stärkerer Zufluss und eine Anhäufung von Sarcode erfolgt,
und dass diese peripherischen Plasmaklümpchen sich allmählich cen-
tralisiren und den individuellen Formwerth des centralen Mutterkörpers
erlangen. So kann die Fortpflanzung dieser Myxodictyen in der ein-
fachsten Weise erfolgen, ohne dass Ruhezustände einzutreten brauchen,
und dann würde sich diese Monerenform unmittelbar an Protogenes
anschliessen.
Andererseits ist es jedoch auch leicht möglich , dass die Ablösung
der beiden Individuen von dem beobachteten Netze mehr zufällig ge-
schah und nicht die Bedeutung eines Fortpflanzungsactes hatte. Leider
konnte ich das merkwürdige Moner nicht weiter verfolgen. Denn bei
dem Versuche, dasselbe aus dem flachen Uhrschälchen , in welchem es
sehr unbequem mit stärkerer Vergrösserung zu beoljachten war, auf
einen passenderen Objectträger zu übertragen, floss unglücklicherweise
ein grosser Theil des Wassers sammt dem Myxodi "tyum am Rande
ab, und dasUnicum verunglückte. Es muss daher künftigen Beobachtern
vorbehalten bleiben, die Naturgeschichte dieses wunderbaren Organis-
mus vollständiger zu ergründen.
II. 4. Protamoeba primitiva.
(Hierzu Taf. III, Fig 25—301.
Von den echten Amoeben (den Autamoeben) welche stets einen
Kern und meistens auch eine Vacuole oder selbst eine constante con-
traclile Blase besitzen, sind diejenigen amoebenartigen Organismen
wohl zu unterscheiden, bei denen sowohl Kern als contractile Blase
fehlen, und bei denen der ganze Körper aus einer vollkommen homo-
genen und structurlosen Masse besteht. Solche absoluleinfache Amoeben,
die einfachsten, die überhaupt denkbar sind, treten z. B. als vorüber-
gehende Jugendzustände im Entwickelungskreise der Gregarinen auf,
in deren Navicula-ähnlichen Keimkörnern , den sogenannten Pseudo-
navicellen sie sich entwickeln. Aber auch als selbslständige, in dieser
einfachsten Form verharrende und sich fortpflanzende Organismen, —
wenn man will, als »gute Species« — treten solche ganz einfache An)oe-
ben auf, und ich habe in meiner generellen Morphologie vorgeschlagen,
dieselben als »P rota m oeba« ganz von den echten, off"enbar schon
viel höher difTerenzirten Amoeben zu trennen (Vol. I, p. 133). Da ich
an letzterem Orte diese Protamoeba nur beiläufig erwähnt und aus-
serdem noch Nichts über dicM Ibe \oiöflVntlicht habe, so will ich hier.
Moiiograpliie der Moneren. 105
im Anschluss fin die vorher beschriebenen Moneren, eine kurze Dai-
stellung derselben folgen lassen.
Die in Fig. 25 — 30 abgebildete ProtatDoeba primitiva be-
obachtete ich zum ersten Male in Jena im Sommer IMtj3, in Wasser,
welches ich aus einen» kleinen Tümpel im Tautenburger Forste (Dorn-
burg gegenüber auf dem rechten Saalufer) geholt hatte. Der Boden
dieses flachen kleinen Tümpels ist dicht mit abgefallenem vermodern-
den Buchenlaub bedeckt und indem feinen braunen Schlamme, zwischen
den vermodernden Blättern, fand ich die kleine Protamoeba, das erste
Moner, welches mir überhaupt zu Gesicht kam.
Wenn man Prot a m o e b a p r i m i l i v a unmittelbar aus dem feinen
Schlanun , in welchem sie un)herkiiecht , unter das Mikroskop bringt
und somit energischer Lichteinwirkung aussetzt, so erscheint sie ge-
wöhnlich als eine vollkommen homogene Plasiiiakugel von 0,03 — ^0,0 5
Mm. Durchmesser. Nach einiger Zeit beginnt sich diese Kugel langsam
abzuflachen ; ihr Durchmesser nimmt zu (bis zu 0,06 Mm.] und gleich-
zeitig wird ihr kreisrunder Umriss unregelmässig. Bald beginnt dann
an einer, bald gleichzeitig an mehreren^ Stellen ein stumpfer, kegel-
oder warzenförmiger Fortsatz vorzutreten. Indem dieser sich verlän-
gert, streckt, und einen Theil der übrigen Leibesmasse nach sich zieht,
geht der unregelmässig rundliche Umriss in einen birnförmigen über,
oder, wenn mehrere Pseudopodien zugleich vortreten , in einen stern-
förmigen. Selten waren mehr als fünf oder sechs warzenförmige Fort-
sätze im Umkreise des scheibenförmig abgeplatteten Körpers zu sehen.
Die Fortsätze oder Pseudopodien bleiben immer kurz und einfach.
Höchstens erreicht ihre Länge ungefähr den Durchmesser des übrigen
Körpers. Niemals verästeln sie sich; niemals verschmelzen zwei be-
nachbarte Pseudopodien mit einander (Fig. 2o, 26j. Die Bewegungen
der Protamoeba primitiva, das Ausstrecken und Einziehen der
an Zahl, Form und Grösse beständig wechselnden, obwohl immer ein-
fachen Fortsätze geschieht sehr langsam. Sie unterscheidet sich da-
durch wesentlich von dei', von Auerbach *i beschriebenen Amoeba
limax, welche ihr im Uebrigen von allen bekannten Amoebenformen
am ähnlichsten ist, i^abgesehen uatüilich vom Mangel des Kerns und
der contractilen Blase;.
Der ganze Körper der P rotamoeba priniitiva ist absolut struc-
lurlos und homogen. Namentlich ist eine Differenzirung in eine dich-
tere äussere und eine weichere innere Sarcodeniasse nicht vorhanden.
1) Auerbach, Ueber die Einzellrgkeit der Amoelicn. Zeifschr fiir wiss. Zool.
IS.Se, Vol. VII, p. 412, Taf. XXII, Fig. 11-16
j 06 Ernst HSckel.
Bei den meisten, vielleicht bei allen echten Amoeben ist eine solche
Differenzirung wahrnehnihar. Man kann gewöhnlich leicht die festere,
äussere, homogene, nicht körnige Rindenschicht (Ectosark) von dem
dünner flüssigen, körnchenreichen Innenparenchym (Endosark)
unterscheiden. Bald gehen diese beiden Schichten unmerklich in ein-
ander über, indem das Ectosark schichlenweise nach innen inuner
weicher und flüssiger wird ; bald erscheinen beide ziemlich scharf ge-
schieden, so dass man selbst die äussere als Membran bezeichnen kann
(Auerbach). Bei den Protamoeben ist von dieser Sonderung des Plasma
in Ectosark und Endosark durchaus Nichts wahrzunehmen , auch nicht
bei der Behandlung mit chemischen Reagentien. Der ganze Leib ist
vielmehr aus einer und derselben gleichartigen Substanz gebildet, welche
ziemlich zähflüssig und dicht ist, und die gewöhnlichen mikrochemischen
Reactionen des Eiweisses (Plasma) liefert.
Bei einigen Protamoeben ist die Sarcodemasse des Körpers ganz
klar und hyalin, bei anderen dagegen durch eine grössere oder gerin-
gere Anzahl von farblosen, dunkeln, fettglänzenden Körnchen getrübt,
welche in Essigsäure unlöslich sind. Die meisten dieser Körnchen sind
sehr fein , wenige gröber und von messbarer Dicke. Die wechselnde
Zahl und Grösse der Körnchen , der völlige Mangel bei den einen, der
Ueberfluss daran bei den andern Individuen ist wahrscheinlich, wie bei
den übrigen Moneren und bei den Rhizopoden , von dem Stoffwechsel,
von der grösseren oder geringeren Menge der aufgenommenen Nahrung
und der assimilirten Bestandtheile abhängig.
Die Nahrungsaufnahme unmittelbar durch die Pseudopodien zu be-
obachten , gelang mir bei Protamoeba nicht. Dagegen konnte ich
experimentell das Eindringen fester Körperchen in ihren homogenen
Sarcodeleib nach\A eisen, indem ich ein wenig sehr fein zertheilten Indigo
dem umgebenden Wasser zusetzte. Einige Stunden später hatten zahl-
reiche Protamoeben einzelne oder mehrere Indigokörnchen in ihr Inne-
res aufgenommen. Wahrscheinlich waren auch die oben erwähnten
feinen Körnchen, wenigstens zum Theil, ebenso aus dem umgebenden
feinen Schlamm in das Innere des Körpers eingedrungen. Jedenfalls
erfolgt die Aufnahme dieser festen Körperchen ebenso wie bei den ech-
ten Amoeben und wie bei den amoebenartigcn Blulzellen der Thiere,
vermittelst der eigenthümlichen Bewegung der Pseudopodien, ohne dass
irgend eine bleibende Oeffnung oder Höhlung in der soliden Schleim-
masse des Körpers vorhanden wäre.
Schon als ich 1863 die Protamoeba zum ersten Male beobach-
tete, schloss ich auf eine einfache Vermehrung derselben durch Thei-
lung, da die Zahl der in einem kleinen Gläschen gehaltenen Individuen
Moiioffrnphic der MniiPrPii. 107
innerhalb wonicier Tage sieli aiifl'allend vermehite. oline dass iigend
welche Verändeiungen oder der IJehergang in einen Ruhezustand an
diesen einfaehslen Organismen wiire zu beobachten gewesen. Als ich
zwei Jahre spiiter in demselben Gewässer bei Jena die Prola moeba
nochmals fand, versuchte ich durch anhaltende Beobachtung einzelner
Individuen die Art und Weise der Vermehiung unujitlelbar festzustel-
len, und dies gelang in der That. Mehrere Piotamoeben zeigten in
der Mitte ihres Körpers eine flachere oder tiefere Einschnürung, so dass
derselbe mehr oder weniger biscuitförmig winde (Fig. 271 . Die Einschnü-
rung blieb dauernd, unbeschadet der Formveränderungen, welche jede
der beiden Körperhälflen ausführte; sie wurde zusehends tiefer (Fig.
28, 29). Endlich gelang es mir bei zwei Individuen, wel(;he ich lange
Zeil andauernd verfolgt hatte , den wirklichen Duichbruch dei- einge-
schnürten Stelle und die völlige Ti-ennung der beiden Theilungshiilften
unmiltelbai- zu constatiren (Fig. 30 A, Bj. Jede Hülfle rundete sich als-
bald ab und setzte dann die früheren langsamen Bewegungen ununter-
brochen fort. Es war also nun hier bei der Prola moeba die einfachste
Form der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, die durch Theilung, consta-
tirt, und zwar ohne dass ein Ruhezustand eingetreten wäre. Offenbar
dürften gleiche Moneren , wie die Prola moeba primitiva, bei der
Hypothese der Archigonie oder Urzeugung in erster Linie in Betracht zu
ziehen sein.
III. Bemerkungen zur Protoplasma-Theorie.
Die so eben beschriebenen Moneren, Prolomyxa , Myxaslrum,
Myxodictyum, Prolamoeba, ebenso der früher (1. c.) von mir be-
schriebene Protogenes, und die von Cienkowski beobachteten Pro-
lomonas und Vampyrella stimmen sammtlich darin überein, dass
ihr gesammter Körper im vollkommen ausgebildeten und frei beweg-
lichen Zustande aus einer vollkommen slructurlosen , durch und durch
homogenen Substanz besteht. Diese Substanz zeigt in jeder chemischen
und physikalischen Beziehung die Eigenschaften einer feslflüssigen
Koblensloffverbindung aus der Gruppe der Albumine oder Eiweiss-
körper ;Proteinej. Sie ist identisch milder Substanz, welche als Plasma
oder Protoplasma den conlractilen lebendigen Körper aller organischen
Piastiden, aller Zellen und Cytoden von Thieren, Protisten und Pflanzen
bildet. Zum Unterschiede von dem eingekapselten , in Zellmembranen
oder Cjtodenschläuche eingeschlossenen Protoplasma kann man das
freie, ohne ; ; hützende Hülle mit der umgebenden Aussenwelt in Be-
rührung stehende Plasma mit dem von Dujardin dafür gebrauchten
IQg Ernst lläckel,
Naraen Sarcode beleihen. Nur darf man dann nicht vergessen , dass
die nackte Sarcode wesentlich dieselben Eigenschaften besitzt, wie das
umhüllte Protoplasma, und dass zum Beispiel bei den oben beschrie-
benen Protomyxen und Myxastren, und ebenso bei den Protomonaden
und Vampyrellen die Sarcode in Protoplasma umgetauft werden muss,
sobald sich jene Moneren encystiren und mit einer Hüllmembran um-
geben, sobald die Gynmoplastiden in Lepoplastiden übergehen.
In der unbestreitbaren Thatsache , dass bei den oben erwähnten
Organismen wirklich der ganze Körper (in vollkommen ausgebil-
detem Zustande !) einzig und allein aus festflüssigen) struc-
turlosem Protoplasma besteht, und dass diese einzige homo-
gene Materie, als das active Substrat aller Lebensbewegung, ohne Mit-
wirkung anderer Theile, alle wesentlichen Lebensthatigkeiten : Ernäh-
rung und Fortpflanzung, Bewegung und Reizbarkeit, vollzieht, erbhcke
ich Grund genug zu dem in meiner generellen Morphologie gethanen
Schritt, diese Organismen als Moneren allen übrigen entgegenzustellen.
Denn offenbar stehen dieselben unter allen Organismen auf der tiefsten
Stufe, und stellen nicht nur den thatsachlich einfachsten, sundern auch
den denkbar einfachsten Zustand der selbstständig lebenden Materie
dar. Wie nun aber einerseits diese merkwürdigen Moneren an sich
vom höchsten hiteresse sind, so verdienen sie andrerseits die allge-
meinste Theilnahme durch die unschätzbare Bedeutung , welche sie für
eine mechanische Erklärung der Lebenserscheinungen, und für eine
monistische Erklärung der gesammten organischen Natur überhaupt
besitzen.
Als eine der grössten und folgenreichsten Errungenschaften der
neueren Biologie darf svohl die Protopla s ma theorie oder Sar-
codetheorie bezeichnet werden, die Lehre, dass der eiweissartige
Inhalt der thierischen und pflanzlichen Zellen, (oder richtiger ihr »Zell-
stoff«) und die frei bewegliche Sarcode der Rhizopoden, Myxomyceten,
Protoplasten etc. identisch sind, und dass hier wie dort diese Albumin-
materie das ursprüngliche active Substrat aller Lebenserscheinungen ist.
Nachdem diese Lehre in ihren Grundzügen schon I 850 von Coe\i)
und I ^"50 von Unger'^) imgedeutet wurde, ist sie von Max Schultze
1 858 weiter ausgeführt und endlich 1 860 vollständig begründet worden.^)
1) F. CoHN, Nachträse zur Naturgeschichte des Pr o tococcu s pl u vi ali s.
Nova Acta Ac. Leop Carol. Vol. XXII, pars 2, p. 605. 1850.
2 Ungek, Anatomie und Physiologie der Pflanzen 1855. (p. 280, *82).
3 Max Schultze, «üeber innere Bewegungs-Erscheinungen bei i^iatoffieen,«
in Müller's Archiv, 1858, p. 330.
Monographie der Moiicicn. 1 09
Icli selbsl war seil (Miier Reihe von Jahren hcniUhl, durch zahlreiche
Beobachtungen diese Theorie zu stützen iiiul zu erweitern.') Durch
keine Erscheinungen wird die Richtigkeit (lieser Theorie in so liohem
Maasse und zugleicl» auf eine so einfache und unwiderlegliche Art be-
wiesen, als durch die Lebenserscheinungen der Moneren, durch die
Vorgiinge ihrer Ernährung und Foi'tpflanzung , Reizbarkeit und Bewe-
gung, welche siinnntlich \on einer und deiselben einfaclisten Substanz,
einem wahren »Uhrschleinie« ausgehen.
Die Protoplasniatheorie dürfte heutzutage beinahe als allgemein
anerkannt angesehen werden , wenn nicht seit sechs Jahren von
einer Seite her beständig energischer Widerspruch gegen diese «Irr-
lehre« erhoben worden wäre. Da keinerlei irgend beweiskräftige
Gründe gegen dieselbe jenen Widerspruch rechtfertigen, so würden
wir denselben hier auf sich beruhen lassen, wenn nicht die äusserliche
Autorität seines Trägers ihm (>ine scheinbare Bedeutung beilegte, und
wenn nicht zufällig, gerade während ich dieses schreibe, eine ausführ-
liche Abhandlung zur vollständigen Widerlegung der «Irrlehre von der
Sarcode« veröffentlicht würde.
Der Berliner Professor der menschlichen Anatomie, Reichert, wel-
cher 1858 durch einen wunderlichen Zufall zum Nachfolger des
unsterblichen Johannes Mueller berufen wurde, versuc|ite seit 1 862 in
einer Reihe von Aufsätzen nicht allein die Protoplasmatheorie umzu-
stürzen, sondern auch alle dieselbe stützenden bisherigen Beobachtungen
über die Sarcodebewegung der Rhizopoden als grobe Irrthümer nach-
zuweisen. Die Strömungen der Protoplasmafädeu sollten Contractions-
wellen solider Fasern und die von der Strömung fortgeführten Körn-
chen sollten »hüpfende Schlingen « jener Fasern sein. Verästelung und
Anastomosenbildung der Pseudopodien sollten niemals voikommen,
sondern nur als »wunderbar mikroskopische Trugbilder die Phantasie
der Beobachter ergötzt u haben u. s. w.
Diese seltsamen Behauptungen wurden von Reichekt mit der gröss-
ten Bestimmtheit aufgestellt . nachdem derselbe kaum einige Wochen
Max Schl'ltze, lieber Co r n u s pi ra Archiv für Naturgesch. 1860, p. iSl).
Derselbe, Ueber Muskelkör|jeichen und das was man eine Zelle zu nennen
liabe. Reichert und Du Bois-Keymond's Archiv, 1861. p 1
Derselbe, Das Protoplasma der Rhizopoden und der Ptlanzenzellen Leipzig,
1863
1 ÜRNST Haeckel, Monographie der Radiolaiien. Berlin, 186:2. p. 89 — 116.
Derselbe, Leber den Sarcodekorper der Rhizopoden, in Zeiischr. für wissen-
schaltl. Zool XV. Bd., 1865. p. 342, Tal. X.WI.
Derselbe. Generelle Morphologie der Organismen, Vol I, p. 269 — 289.
1 1 Ernst Häckel,
hindurch in Triesl »eine nicht näher bestimmte Species von Miliola
und Rotalia« untersucht hatte. Und darauf hin erklärte derselbe,
dass alle bisherigen Beobachter der Rhizopoden sich betreffs deren
Organisation im gröbsten Irrthum befunden hätten! Unter diesen Beob-
achtern befinden sich in erster Linie Dujardin, Max Schlltze, Huxley,
CLAPARfeDE, Krohn, JOHANNES MÜLLER , Naturforschcr vou anerkanntem
Ruf, welche sich mit der Beobachtung der Khizopoden monatelang,
zum Theil jahielang beschäftigt hatten. Und diese alle sollen also
"durch ein wunderbares Naturspiel« auf das Gröbste getäuscht sein«!
In meinem Aufsatze »über den Sarcodekörper der Rhizopoden«
habe ich die vollständige Nichtigkeit von Reichert's Behauptungen und die
Verkehrtheit seiner Darstellungen klar dargelegt und zugleich die hi-
storischen Verhältnisse dieses seltsamen Conflictes auseinander gesetzt.')
Indessen hat sich dadurch Reichert nicht abschrecken lassen, seine
Publicationen über diesen Gegenstand fortzusetzen, und in einem Auf-
satze »über die contractile Substanz« in eigenthümlicher Weise zu
metamorphosiren. ^j Durch welche Verstösse und Verdrehungen sich
diese angebliche Rechtfertigung (in der That aber Umgestaltung) seiner
früheren Ansichten auszeichnet, hat bereits Max Schultze in seinem
Aufsatze »Reichert und die Gromien« gezeigt.^)
Soeben erscheint nun eine umfangreiche Abhandlung von Rei-
chert ȟber die contractile Substanz (Sarcode, Protoplasma)
und ihre Be w egun gS7Erschei n u ngen« ,*) welche die letzter-
wähnte Publication weiter ausführt, undwelche zu den erstaunlichsten Er-
zeugnissen der neueren zoologischen Literatur gehört. Man glaubt sich
beim Lesen derselben ungefähr um ein halbes Jahrhundert zurückver-
setzt. Unter Anderen werden den Cdclenteralen die Epithelialzellen
abgesprochen und die beiden epithelialen Bildungshäute (Ecloderm und
Entoderm) aus denen nach den übereinstimmenden Beobachtungen
aller neueren Naturforscher die Coelenteraten sich entwickeln, rund-
weg geleugnet! Sodann wird noch immer mit der grössten Hartnäckig-
keit die Existenz von nackten, membranlosen Zellen geleugnet, obwohl
nun schon seit vielen Jahren so zahlreiche Beobachtungen jene be-
strittene Existenz bezeugen , dass der nackte (kernhaltige) Plasma-
klumpen als der ursprüngliche Zustand der allermeisten Zellen ange-
sehen werden kann und die Membran immer erst als secundäre Bildung
1) Zeitscliiift für wissenscli. Zool. Bd. XV, 1865, p. 342.
2) Monatsl)erictite der Berlin. Akad. 1865, p. 491.
3) Max Schultze, Arctüv liir iiiikrosk. Aiiat Vol. 11, 18fi6, p. 140.
4) Ahtiandl. der Berlin Akad. 1867, p. 151—293.
Moiiogniplüe der Moneren. \ ] ]
erscheint. Ferner ist (Inzwischen von »kieselförniigen Geschöpfen«
(wahrscheinlich Diatomeen ?j die Rede') u. s. w. Alle diese Ungeheu-
erlichkeiten bcriiliren uns hi(M' nicht, wohl alter die Art und Weise, in
welcher lUicutKi das IlaupUhenia behandeil und die Sarcodetheoiie
verdreht; diese n erlangt hier nolhwendig eine entschiedene Abferti-
gung. Ich will mich dabei rnüglichst kui/ fassen und die Ilauptpuncle
des Streites in den Vordergrund stellen.
In seinen oben erwähnten Aufsalzen, welche »die Irrlehie \on der
SaiTode klar und un/weiileulig an den Tag legen« sollten, concenlrirte
RErcHERT unter den inannichfaUigslen Wendungen seinen vernichten-
den Angriff in folgenden Behauptungen: l)die Pseudopodien sind so-
lide contractile Fäden, welche sich niemals verästeln , '2) diese Fäden
verschmelzen niemals mit einander durch wahre Anastomosen , 3)
<iaher können auch niemals die Fäden durch häutige Platten verbunden
werden, 4 die Körnchen auf den Pseudopodien sind »Schlingen, vs eiche
unter dem Bilde eines Korns auf der Oberfläche der Fäden hinhüpfen.«
Vergleichen wir nun diese einzelnen Behauptungen mit seiner neuesten
ausführlichen Arbeit, welche jene in allen Puncten bestätigen soll.
1 ) Die Verästelung d e r P s e u d o p o d i e n . Nach Rkichert's
früheren Behauptungen kommt diese niemals vor und die schein-
bare Verästelung soll »durch Auf- und Ablösung eines Bündels von Pseu-
dopodien« entstehen. Jetzt behauptet derselbe das G e gen t heil, dass
nämlich wirkliche Verästelung der Pseudopodien vorkommt,
welche durch eine Contractionsbewegung bewirkt werde! !
2i Die Verschmelzung der Pseudopodien. Nach Rei-
chert's früheren Behauptungen kommt diese niemals vor, und die
schei nbare Verschn)elzung soll durch Aneinanderlagerung frei ge-
wordener Fäden oder scheinbarer Aeste entstehen. Jetzt behauptet
derselbe das Gegen ih eil, dass nämlich wirkliche Verschmelzung
der Pseudopodien vorkommt, indem die Pseudopodien »selbst in kür-
zerer Zeit mit gleichartigen Theilen unter dem Scheine des Zusammen-
fliessens verwachsen«' '
ii) Die Plattenbildung der Pseudopodien. Nach Rei-
chert's früheren Behauptungen kommt diese niemals vor, und die
scheinbare Bildung der schwimmhautähnlichen Sarcodeplatten an
den anastomosirenden Pseudopodien soll dadurch entstehen, »dass bei
den unter einem spitzen ^Vinkel gekreuzten und einander genäherten
I Ebensogut als von »kiesel fö rm igen Gescti öp fen» könnte man auch
von einem »seil \ve fe 1 fö rm i gen Reichert« reden! Beide Ausdiiicke wären
gleich sinnvoll und fiir den klaren Geis! des Berliner Anatomen bezeichnend.
112 bMlBakcL
Pscadopodien . oder richtiser Pseudopodien -Bündeln einzelne in ihnen
entb-thene Fäden aus ihrer Lage gerückt und in dem Winkel zur Bil-
dung einer scheinbaren Platte zusammengeschoben werden.« Jetzt
behauptet derselbe das Gegentheil. dass nämlich wirkliche Plat-
tenbildung der Pseudopodien vorkommt, und dass die * häutigen Platten
der conlractilen Substanz in das Sarcodenetz dadurch eingeschobcD
werden . dass eine Portion contractiler Substanz, aus welcher Pseudo-
podien entwickelt sind, die VerbinduDg mit dem fibrisen Theile der
contractilen Rindenschicht nur durch einen feinen pseudopodienartigen
Faden unterhält. <i '. !
I Die Körnchenströmnng der Pseudopodien. Nach
Reicbeäts früheren Behauptungen existiren gar keine Kömchen in der
Sarcode, und die scheinbaren Körnchen sollen »hüpfende Schlingen
der Fäden sein< ! Jetzt behauptet derselbe das Gegentheil. dass
nämlich w irkliche Kömchen neben den scheinbaren vorkommen,
und dass diese letzteren » kleinste w arzenartige Erhebungen der con-
tractilen Substanz sind.* Wie >Iax Schuitze schon 1 866 voraussagte.
hat also nun wirklich die von Reichert in Aussicht gesteUte Entdeckung
der wirklichen Kömchen . die allen Beobachtern der Rhizopoden seit
mehr als dreissig Jahren bekannt sind, stattgefunden ! !
Wie man siebt, sind Reichirts neueste Darstellungen in
allen Hauplpuncten genau das Gegentheil seiner frühe-
ren Behaupt ungen. Diess hindert ihn jedoch nicht, ganz naiv gleich
im Eingange seiner Abhandlung zu behaupten, dass er jetzt für jene die
ausführlichen Bew ei. >e bringe, und dass er damit die Sarcodetheorie,
j» we^cbe 'v^ ie ein Alpdrücken jahrelang nuf >ielen und namhaften Natur-
forschem gelastet hat«, vollständig vernichtet habe In der That. man
weiss nicht, worüber man in dieser Abhandlung mehr erstaunen soll.
über die unglaubliche Cnkenntniss einer Masse von längst bekannten
und allgemein anerkannten Thatsachen. oder über die absichtliche Miss-
deotiiDg and Verdrehung der klarsten Verhältnisse, oder über die
dreiste Sophistik. mit welcher die Sachlage des Streites geradezu auf
den K<^f gestellt wird , und mit der der Verfasser sich den Anschein
giebl, endliefa die Thatsachen entdeckt zu haben, welche er früher
allen übrigen Beobachtern gegenüber auf das Hartnäckigste leugnete '
Für das inducti\e logische Schluss verfahren Reichert's ist vielleicht
Nichts bezeichnender, als dass seine sammtlichen neuen Beobachtungen,
durch die er angeblich die Sarcodetheorie vernichten will in
der That aber sie adoptirt' auf eine einzige Monothalamie
[Gromia oviformis sich beziehen, und dass er dadurch allein die
eleicbe Beschaffenheit für sämmtliche Polvthalamien nacbsewiesen
StMgnfkir irr HMfret. 113
haben will ! Es wäre ganz elften so logisch, wenn Bnoremr behaoptele.
tlass sämmtliche Polythalamien eine einkammerige 'nicht viel—
kammerige Schale besitzen: dennGromia eine Monothalaroiej
besitzt offenbar eine einkammerige Schale ! Man könnte auch eben
so gut und mit dem gleichen Rechte behaupten . dass allen placentalen
Säugethieren die Placenta fehlt. Denn die Beotelthiere haben keine
Placenta. und sind doch auch Süugelhiere !
Es würde nicht der Mühe lohnen, Reichiets neuestem Machwerke
hier so viele Zeilen zu \\idmen, wenn nicht zwei Umstände diese ener-
gische Verwahrung dringend erheischten. Die Meisten werden geneigt
sein, die verworrene Darstellung und die offenbaren Widerspräche der
REicHERTScben Publicationen einfach einer intellectueUen Rückbildung
desselben zuzuschreiben. Wenn bloss senile Degeneration seines Ge-
hirns die wirkende Ursache wäre, würde man Mitleid und Schonung
mit ihm haben müssen. Diess ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr
geht durch die ganze Schrift die dreisteste sophistische Verdrehung
der Thatsachen. und die sichtlichste Unw^ahrhaft igkeit hin-
durch. Nachdem Reiche«! eingesehen . in welchen Sumpf er durch
seine ersten Mittheilungen über die Sarcode-Bewegung etc. gerathen.
sucht er sich dadurch herauszuziehen, dass er den von .\nderen längst
darcestellten wahren Sachverhalt in neuen möglichst dunkeln Wen-
dungen und schwer fasslichen Ausdrücken wiedergiebt . und ihn als
seine neue Entdeckung preist. Dabei scheut er sich z. B. nicht, gleich
in einem der ersten Sätze scheinbar JoEAjefEs MClleb als Zeugen für
seine Darstellung aufzurufen p. 151 . obgleich bekannterroassen die
Beobachtungen und .Anschauungen Johax^es Müllees über den Sarcode-
körper der Polythalamien und Radiolarien vollkommen mit denjenigen
aller übrigen .Autoren seit Dtjardcs übereinstimmen !
Der zweite Punct. gegen welchen von vornherein entschiedener
Protest eingelegt werden muss. ist Reichehs Darstellung von dem
Sarcodekörper« der Hydromedusen. insbesc*ndere der Hydroidpo-
ijpen. Nachdem Reicbekt mit seinen Untersuchungen auf dem Gebiet der
Rhizopoden so kläglich Schiffbruch gelitten, flüchtet er sich auf das
Gebiet der Hydromedusen hinüber, und versucht hier gleiche Verwir-
rung anzurichten. Es klingt fast unglaublich, dass Reichest hier
nicht einmal im Stande ist . die einfachsten . längst bekannten und
jederzeit augenblicklich ru demonstrirenden Stnicturverhältnisse
wahrzunehmen, wie z. B. die beiden epithelialen Bildunsshänte Lcto-
derm und Entoderm . oder die Entwickelung der Nesselkapseln in Epi-
thelialzellen. Dies hindert ihn jedoch nichx, gleich auf der zw eiten Seite
seiner Untersuchungen über «Campanularien. Sertularienund Hydriden c
Riud IV. 1. S
] 1 4 Kriist Häckd,
die ganze bisherige anatomische Erkenntniss des Hydroiden-Organis-
mus für einen grossen Irrthum zu erklären und auf Grund seiner un-
glaublich oberflächlichen Untersuchung einiger Hydroid-Polypen folgen-
den Salz auszusi)rcchen : »Weder die Uebereinsliuunung im einfachen
Uohlkörperbau tles Organismus und wohl noch weniger der gleichartige
äussere Habitus und eine gleichartige Bildung der Individuenstöcke
dürften unter solchen Umständen die von Leückart aufgestellte Thier-
klasse der C o eleu ter ata in ihrer gegenwärtigen Fassung zu halten
im Stantle sein»! ! Sehr weise setzt Reichert dann gleich den Salz
hinzu: »Ich muss mich des Versuchs enthalten, die Grenzen auch nur
anzudeuten , innerhalb welcher voraussichtlich die Sonderung dieser
Thierklasse sich vollziehen werde«! !
Der weitere Verlauf von Reichert's Goelenteraten-Studien lässt sich
nach diesem hübschen Anfange und nach Analogie der Polythalamien-
Studien bereits im Voraus bezeichnen. Die Monatsberichte und Ab-
handlungen der Berliner Akademie werden eine Reihe von Aufsätzen
bringen, in denen zunächst alle bisherigen Beobachter der Coelente-
raten als unfähige und im gröbsten Irrthum begriffene Beobachter dar-
gestellt werden , deren »Phantasie durch ein wunderbar mikroskopi-
sches Trugbild irre geleitet ist.« Dann zeigt Reichert, wie sich Alles
ganz Anders veihält, als man bisher annahm, nähert sich jedoch all-
mählich unter dunkeln und versteckten Wendungen und Windungen
den von ihm geradezu bestrittenen Darstellungen und reproducirt
schliesslich dieselben im neuen Gewände seiner glücklicherweise einzig
dastehenden individuellen Ausdrucksweise. Da Reichert bei den Poly-
thalamien sechs Jahre zu diesem Kreislauf der Vorstellungen brauchte,
wird er vermuthlich bei den Goelenteraten , deren wirkliche Structur
viel allgemeiner anerkannt ist, mindestens zwölf Jahre nölhig haben,
um die »Irrthumer« der anderen Naturforscher schliesslich als seine
Entdeckungen auf den Markt zu bringen. Sollte Reichert also zum
Heil der Wissenschaft noch bis zum Jahre 1 880 leben , so würde er
dann wahrscheinlich zu der heute bereits allgemein anerkannten Vor-
stellung vom Bau der Goelenteraten gelangt sein ! Zufällig habe ich
mich in den letzten Jahren anhaltend mit der Untersuchung der feineren
Structur der Ilydromedusen beschäftigt, und bin daher zu dem Aus-
spruch berechtigt, dass fast sämratlichc neuen Angaben Reichert's über
den Bau der Hydroiden ebenso verkehrt, falsch und werthlos sind, wie
seine früheren Angaben über den Bau der Polythalamien.
Man verzeihe die Bitterkeit dieser Polemik und entschuldige sie
durch den gerechten Ingrimm, den ich als dankbarer Schüler und
wju-mer Verehrer des grossen Johannes Müller empfinden muss, wenn
Moiioiirapliio der Mniicroii. ]]^
ich an dioso inlollecliiollon und nioralisclioii Fnnclionon soinos unmiltol-
haron Naclilolizors (liMiko. Wenn dui-cli Joiianmcs Mi i.f.kk innci-lialh
cinrs Vierleljalirliundcrts der anatoinisclio Lelirsdilil dei- IkMÜner l'ni-
versitiit ül)(>r alle iil)ii|j;en erhoben wui'de, ist es nun S{Mneni Naclifolger
gelungen, innerhalb eines Decenniunis ihn in gleichem xMaassc zu ernie-
drigen. Da Müller die lange Reihe seiner glänzenden Arbeiten mit den
Uhizojioden geschlossen halte, dachte RiaeiiEUT ^vahrscheinlich, er
müsse da wieder anfangen, wo sein grosser Vorganger aufgehört halte,
uiul wurde dabei oflenbar von der Hoflnung getragen , ihn baldigst zu
id)ernügeln! Mit welchem Erfolge dies geschah, liegt vor den Augen
Aller, welche die einschlagende Literatur kennen und die Objecte selbst
in der Natur beobachtet haben !
Die Protoplasmatheorie, welche ich für eine der ersten und
wichligslen Grundlagen einer wahrhaft monistischen, d. h. mechanisch-
causalen Erkennlniss der organischen Natur halle, darf seit dieser
letzten Wendung ihrer Geschichte als neu befestigt und gekräftigt an-
gesehen werden. Die Vernichtung drohenden Angrille ihres Gegners
sintl durch denselben allmählich zu Verdrehungen und zuletzt zu Be-
stätigungen ge^^orden. Für die wahre Natur der Sarcode aber, als
eines wirklich einfachen und sliucturlosen «Lebeiissloücs«, dürfte die
Naturgeschichte der vorstehend beschriebenen Moneren weitere direcle
Beweise liefern.
IV. Begrenzung des Prolistenreiches.
Seitdem Charles Darwin die von Jean Lamarck und Wolfgaxg
Goethe begründete Des cendenz -Theorie von dem Scheintode oder
richtiger von dem Todlschweigen eines halben Jahrhunderts zu neuem
Leben erweckt und durch seine Selections-Theor ie auf ein uner-
schüüei-liches causal-mechanisches Fundament gestellt hat, ist die Auf-
gabe der oitlnenden Systematik eine ganz andere und eine unendlich
höhere geworden. Bisher war in den Händen der meisten Zoologen und
Botaniker die Systematik eine wissenscliaflliche Spielerei, welche sich
an der Formenverwandlschaft der ähnlichen Nalurkörper ergötzte, ohne
an ihre wirkliche, dieser zu Grunde liegende Blutsverwandtschaft zu
denken. Die Hauptbeschäftigung der meisten systemalisirenden Natur-
forscher bildeten endlose und höchst unnütze Sireiligkeiten über die
Frage, ob diese oder jene Thier- oder Pllanzenform eine »gute« oder
«schlechte Art«, eine Subspecies oder Varietät, ein Subgenus oder Ge-
nus sei, ohne dass es den grübelnden Gelehrten dabei eingefallen wäre,
sich vorher den Umfang und den Inhalt dieser Begrill'e klar zu machen.
8*
1 1 6 Ernst Hfickel.
Jetzt dagegen, wo die Unhaltbarkeit derselben als absoluter, ihr eigent-
licher Werth als relativer Begriffe erkannt, wo die > wirkende Ursache«
der Formenverwandtschaft in der >> Blutsverwandtschaft« entdeckt ist,
tritt an die Systematik die ungleich höhere, schwierigere und interes-
santere Aufgabe, durch die Aufstellung des »natürlichen Systems« den
Stammbaum, die Abstammungsverhältnisse der verwandten Gruppen
h\'pothetisch möglichst annähernd festzustellen.
Nirgends stösst diese Aufgabe auf grössere Schwierigkeiten , als
bei den niedrigsten und tiefststehenden Organismen. Es ist verhält-
nissmässig leicht, den Stammbaum der W'irbelthiere mit annähernder
Sicherheit festzustellen, wenn man damit die ausserordentlichen Schwie-
rigkeiten vergleicht . die dem Stammbaum der sogenannten Protozoen
sich entgegenstellen. Während dort überall bestimmte, hoch und viel-
seitig differenzirte Organsysteme feste Handhaben darbieten, ist hier
Nichts von solchen Organsystemen vorhanden. Während dort längst
eine Anzahl von Klassen und Ordnungen als wirkliche natürliche Grup-
pen anerkannt sind, kann man dies hier von wenigen Gruppen behaup-
ten. Dort ist ein zusammenhängendes und reiches Material durch die
Erfahrung von Jahrhunderten angesammelt: hier sind kaum seit ein
paar Jahrzehnten lockere Sammlungen von vereinzelten Thatsachen be-
kannt geworden. Kein Wunder daher, wenn in der Systematik jener
niedrigsten Organismen noch heute die grauenhafteste Verwirrung
herrscht, und Jeder sich sein eigenes Svstem macht.
Ich habe in meiner generellen Morphologie den Versuch gemacht,
in dieses systematische Chaos dadurch einiges Licht zu bringen, dass
ich als eine besondere Abtheilung zwischen echte Thiere und echte
Pflanzen alle jene zweideutigen Organismen niedrigsten Ranges stellte,
welche weder zu jenen noch zu diesen unzw eifelhafte nähere Beziehungen
zeigen, oder thierische und pflanzliche Charaktere in der Weise verei-
nigt und gemischt besitzen, dass seit ihrem Bekanntwerden ein endloser
Streit über ihre Stellung im Thier- oder im Pflanzenreich geführt wird.
Offenbar wird dieser Streit am einfachsten dadurch geschlichtet , dass
man die streitigen und zweifelhaften Zwischenformen vorläufig wenn
auch nur provisorisch) sow ohl von den echten Thieren , als von den
echten Pflanzen abtrennt und in einem besonderen organischen »Reiche« i
vereinigt. Man gewinnt dadurch den Vortheil, sowohl echte Thiere als
echte Pflanzen durch eine klare und scharfe Definition bezeichnen zu
können ; und andererseits w ird die Aufmerksamkeit den bisher so ver-
nachlässigten und doch so äusserst wichtigen niedersten Organismen in
besonderem Maasse zugew endet. Ich habe jenes zw ischen Thierreich und
Pflanzenreich mitten inne stehende und zwischen beiden vermittelnde
Moiiosirapliip der Moueren. 117
Grenzgebiet das Prolistenreich genannt. (Gen. Morphol. Vol. I.
p. 203; Vol. II, p. XX, p. 403].
Natürlich habe ich durch diese Trennung der Protisten einerseits
von den Pflanzen, andererseits von den Tbieren, keineswegs eine ab-
solute und dauernde Scheidewand zwischen diesen drei organischen
Reichen aufrichten wollen. Vieiraehr halte ich es für sehr wahrschein-
lich , dass sowohl die Thiere als die Pflanzen aus den Protisten , und
zwar ursprünglich aus einfachsten Prolisten, aus Moneren, ihren Ur-
sprung genommen haben. 1. c. Vol. II, p. XX. p. 403, Taf. I . Vor-
läufig halte ich es jedoch aus praktischen Gründen für zweckmässig, die
Prolisten sowohl von den Pflanzen als von den Thieren im Systeme
ganz zu trennen.
Inder systematischen Einleitung zu meiner ■ allgemeinen Entw ick e-
lungsgeschichle« habe ich folgende acht natürliche Haupteruppen
oder »Stämme« (Phylen' von Protisten unterschieden:
I. lonera. Moneren.
1. Gymnomonera (Pro logen es, P rolamoeba etc.)
2. Lepomonera (Protomonas, Vampyrella etc.
II. Protoplasta. Protoplasten.
{. G^Tunamoebae (Autamoeba, Petalopus. Xuclearia etc.)
2. Lepamoebae Arcella, Difflugia, Euglypha etc.)
3. Gregarinae M o n o c y s t i d e a et P o 1 y c y s l i d e a, .
III. Diatomea. Kieselzellen.
IV. Flasellata. Geisseischwärmer.
i. Nudiflagellata ^Eugiena, Spondylomorum etc.)
2. Cilioflagellata (Peridinium. C eralium etc.)
V. iTiömycetes. Schleimpilze.
VI. >octiIacae. Meerleuchten.
VII. Rhiiopoda. Wurzelfüsser.
\. Acytlaria Monothalamia et Polythalamia).
2. Heliozoa Aclinosphaerium Eichhornii;.
3. Radiolaria Monocyttaria et Poly cy ttaria).
VIII. Spongiae. Schwämme.
< . Autospongiae.
2. Petrospongiae.
\ J3 F.riist Ilrickcl,
Seil der Unterscheidung dieser acht Prolislcngruppcn ist eine neue
Gruppe von Organismen niedersten Ranges bekannt geworden, welche
in keine von diesen acht Äbtheilungen sich ohne Zwang einreihen lassen,
und welche gleich den letzteren eine derartige Mischung von thierischen
und pflanzlichen Charakteren zeigen , dass sie ebenso wenig als echte
Pflanzen, wie als echte Thiere angesehen werden können. Es sind dies
die merkwürdigen Laby rin thuleen (Labyrinthula vitellina,
L. macrocy stis), welche von dem um die Naturgeschichte der Pro-
tisten hochverdienten Cienkowski im Hafen von Odessa entdeckt worden
sind. 1) Jedenfalls müssen dieselben vorläufig als eine ganz besondere
Protistengruppe betrachtet werden.
Während so einerseits das Reich der Protisten durch die Labyrin-
thuleen um eine besondere Klasse vermehrt wird, so dürfte es anderer-
seits jetzt hinreichend begründet sein, eine andere Gruppe von Protisten
aus diesem Reiche zu entfernen , und als entschiedene Thiere in das
Thierreich zu verweisen. Dies sind die S ch w ä m m e o d e r S p o n —
gien, für deren Ihierische Natur in neuester Zeit sehr entschiedene
morphologische Indicien entdeckt worden sind. Bereits seit 1 854 hat
Leuckart, der verdienstvolle BegriUider des Coelenteratenstammes , in
seinem Jahresbericht über die Fortschritte der Zoologie (im Archiv für
Naturgeschichte) die Spongien oder Poriferen mit den Coelenteraten
vereinigt, indem er das Canalsystem der Schwämme mit dem coelen-
terischen Gastrovascularapparat der echten Coelenteraten verglich.
Im vorigen Winter hat mein Schüler und Assistent, Herr Stud.
Mikluciig-Maclay aus Petersburg, während unseres Aufenthaltes auf der
canarischen Insel Lanzarote die ausserordentlich reiche Schwammfauna
dieser Küste eingehend untersucht, und wie ich mich durch eigenen
Augenschein überzeugt habe, dabei neue Schwammformen gefunden,
deren Anatomie für die nahe Verwandtschaft der Spongien mit den Coe-
lenteraten weit kräftigere Beweisgründe liefert, als wir bisher besassen.
So hat namentlich Herr Miklucho einen Kalkschwamm (Guancha
blanca) entdeckt, welcher Sycon und Ute nahe steht, dessen ganzes
Gefässsystem aber aus einer einfachen cylindrischen Leibeshöhle, einer
verdauenden Cavität, wie bei den einfachsten Hydroiden besteht. Die
sogenannten Schornsteine (Camini) der Spongien sind nicht blos Aus-
strömungsöfi'nungen, wie man bisher annahm, sondern sie dienen auch
zur Aufnahme von Wasser und Nahrung. Ihre OeflTnung nach Aussen
1) L. CiENKOwsKi , lieber den Bau und die EntwickcUing der Lal)yrinthulcen.
-Mav Schultze's Archiv für uiiiirosli. Anat. Vol. Ilt. 1867. p. !274. Tat. XV, XVI,
XVII.
Mniiniii'a|)lii(' der MoiHicii. 119
ist zuijU'ich Mund und Aflor. Mit cMncni Wort, dio Schornsteine sind
den 3[a|^enhi)hlen der Coelenteralen und zunächst der Polypen nnalog
und aUer Wahrscheinlichkeil nach zugleich homolog. Die von den
Schornsteinen ausgehenden Caniile entsprechen den Canälen , welche
sich im Parenchym vieler Anlhozoen vcrzNveigen. Was mir aber von
der grössten Wichtigkeit erscheint, diese Magen höhle zerfällt bei meh-
reren Sclnvänmien (Axinella und Anderen) durch radiale Schei-
dewände in Fächer (von verschiedener oder constanter Zahl, nament-
lich acht ! ) , und dadurch erscheint der ganze Leib des Seh w am m-
individuums aus einer bestimmten An zahl vonAntimeren
zusammengesetzt. Den Mangel der Antimerenbildung hatte ich aber
bisher für einen der wichtigsten moi-phologischen Unterschiede zwischen
Spongien und Coelenteraten gehalten. Auch durch die ähnliche Art
der Stockbildung u. s. w. wird die nahe Verwandtschaft der Spongien
und Anthozoen noch wahrscheinlicher. Kurz, ich halte es jetzt für das
Richtigste, nach Leuckart's Vorgang die Spongien mit den Coelenteraten
im System zu vereinigen, und halte daher auch einen gemeinsamen Ur-
sprung beider Gruppen für sehr wahrscheinlich. Das Phylum der Coe-
lente raten würde demnach in zwei Subphylen zerfallen: I. Spon-
giae (Coelenteraten ohne Nesselorgane) \. Petrospongiae.
2. Autospongiae. II. Acalephae^) (Coelenteraten mit Nessel-
organen) 1. Anthozoa. 2. Archydrae. 3. Hydromedusae. 4. Cteno-
phora.
Da Herr MiKLUcno seine schönen Beobachtungen über Schwämme
demnächst veröffentlichen und die Stammverwandtschaft der Spongien
und Acalephen ausführlich entwickeln wird, so beschränke ich mich hier
auf diese kurze Mittheilung. ^) Ich habe dieselbe desshalb hier angeführt,
weil mir durch die Entfernung der Spongien von den übrigen Protisten
und durch ihre Vereinigung mit den echten Thieren ein grosser Gewinn
1) Die von Aristoteles hcnütireridc Bezeichnung Acalcphae oder Knidae
durfte für die ecliten Coelenteraten (nacli Aussciiiuss der Spongien] die passendste
sein, einerseits weil sie bereits deren wichtigsten Charakter, den Besitz von Nes-
selorganen, ausspricht, und sodann, weil bereits Aristoteles unter dieser Be-
zeichnung die beiden verschiedenen Typen der Coelenteraten, die festsitzenden
P et r acalephen fAclinien) und die frei schwimmenden Nectacalephen (Medusen)
zusammenfassle [cd uy.ctXfi(fat, alxviöfu).
2) Ein eigentliümiichcs Licht wird durch diese Stammverwandtschaft auch auf
das neuerdings so viel besprochene Ilyaloncma geworfen. Sollte vielleicht doch
am Ende Schwaramkörper und Polypenüberzug zusammengehören , und Hyalo-
n e m a ein gerader Ausläufer von der gemeinsamen Stammgruppe der Spongien und
Acalephen sein ?
120 '-'■nst lläckel,
für die Systcmalik erzielt scheint. E s wi rd nämlichjetzt möglich ,
mein P r o t i s t e n r e i c h d ii r c h einen bestimmten u n d nv i c h -
tigcn Charakter zu bezeichnen, und von den echten Thieren
und echten Pflanzen zu trennen : Dieser Charakter ist der gänz-
liche Mangel der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei fast
allen unzweifelhaften Pflanzen und ebenso bei allen unzweifelhaften
Thieren findet sich geschlechtliche Zeugung (Amphigonie) vor. Alle
echten Protisten dagegen (alle oben genannten Gruppen mit Aus-
nahme der Spongien) pflanzen sich ausschliesslich durch
ungeschlechtliche Zeugung (Monogonie) fort. Wenn man
diese Definition auf die genealogische Individualität erster Ordnung, auf
den Zeugungskreis (Cyclus generalionis) aller drei organischen Reiche
überträgt, so ist der Zeugungskreis der Thiere und der
Pflanzen die Amphigenesis , dagegen der Genera tionscy-
clus der Protisten die Monogenesis (Vergl. hierüber generelle
Morphologie, Yol. II. p. 70, p. 83).
Wenn man auf Grund dieses Kriteriums die Trennung der drei
Reiche scharf durchführen w ill , so w ird man einige Gruppen der nied-
rigsten Organismen, die bisher bei den echten Pflanzen standen, die
aber der geschlechtlichen Zeugung entbehrten , zu den Prolisten ziehen
müssen. Es wird dies um so eher geschehen können, als ohnehin die
übrigen entscheidenden Pflanzencharaktere sich bei ihnen verwischen
und als sich anstatt dessen nahe Beziehungen zu verschiedenen Pro-
tistengruppen einstellen. Vor allen wird man berechtigt sein, die grosse
und formenreiche Klasse der Pilze (Fungi) aus dem Pflanzenreiche zu
entfernen und in die Nähe der Myxomyceten unter die Prolisten zu stel-
len. Die ganze Ernährungsweise und der Stoff"svechsel der Pilze, und
damit im Zusammenhang viele andere Eigenschaften (insbesondere der
gänzliche Chlorophyll-Mangel) entfernen dieselben so sehr von den
echten Pflanzen, dass bereits ältere Botaniker aus den Pilzen ein beson-
deres Orcanismen-Reich errichten wollten.
Aus ähnlichen Gründen wird man ferner die Phycochroma-
ceen (Chroococcaceen und Oscillarineen) als einen Prolistenstamm
betrachten können , ebenso auch vielleicht die Codiolaceen (Codiolum
etc.). Andererseits wird man die durch geschlechtliche Zeugung aus-
gezeichneten Yolvocinen von den Flagellaten trennen und den echten
Algen zurechnen müssen. Derartige Versetzungen werden in der näch-
sten Zeit noch viele vorkommen, je nachdem unsere Kenntniss der einen
oder anderen Gruppe voraussichtlich vollständiger wird. Keinenfalls
aber werden wir, wie ich glaube, jemals dazu gelangen, eine absolute
Grenzscheidewand zwischen Thier- und Pflanzenreich aufzurichten,
Monographie der Moneren. 1 2 1
und den einen Tlieil der Protisten mit voller Sicherheit zu den Pflanzen,
don .'imlein zu den Thieren rechnen können. Auch soll ja durch die
von mir vorgeschlagene systematische Trennung der drei Reiche ledig-
lich der praktische Zweck einer differentiellen Diagnostik erleichtert,
und keinesAvegs eine absolute Scheidung der Thiere. Protisten und
Pflanzen, als dreier fundamental verschiedener Organisraengruppen be-
hauptet werden. Vielmehr beharre ich bei der in meiner generellen
Morphologie ausgesprochenen Vermuthung, dass sowohl das Thierreich
als das Pflanzenreich ihre erste Wurzel in je einem oder mehreren Pro-
tislenstämmen haben , während andere Protistenstämme z. B. Diato-
meen , Myxomyceten, Rhizopoden) sich unabhängig von jenen selbst-
ständig entwickelt haben (1. c. Vol. 11, p. i06). Dass schliesslich aUe
organischen Stämme an ihrer ältesten Wurzel zusammengehangen
haben mögen, ist auch, wohl denkbar. Der Streit, wie viele ursprüng-
liche protistische Phylen oder Stammformen den Thierstämmen, den
Pflanzenstämmen und den noch heute existirenden Protistenstämmen
den Ursprung gegeben haben mögen, verliert aber sehr dadurch an sei-
ner scheinbaren Wichtigkeit, dass oöenbar die ältesten Ursprungsformen
aller Organismen Moneren der einfachsten und indifl"erentesten Art,
structurlose und homogene, formlose Sarcodeklumpen gewesen sein
müssen, durch Archigonie oder Generatio aequivoca entstanden.
Wie die von Ciexkowski und von mir beschriebenen Moneren zei-
gen, ist es ganz unmöglich, dieselben mit irgend welcher Sicherheit an
eine bestimmte andere Prolistengruppe anzuschliessen, oder gar sie mit
Bestimmtheit entweder den Thieren oder den Pflanzen zuzurechnen.
Im Ruhezustande und während der Fortpflanzung sind dieselben mehr
pflanzlicher, im Bewegungszustande und während der Ernährung mehr
thicrischer Natur. Im Ganzen aber sind sie ihrer einfachsten Natur nach
so indifferente Organismen, dass man sie als erste Anfänge jedes belie-
bigen organischen Stammes (Phylum) betrachten könnte. Wie sehr die-
selben in dieser Beziehung Anklänge an die verschiedensten Protisten-
gruppen zeigen, wird am Besten aus der nachfolgenden morphologischen
Vergleichung der Moneren mit den verschiedenen Protistengruppen her-
vorgehen. Bevor wir uns zu dieser wenden, erscheint es passend, die
verschiedenen organischen Stämme nochmals aufzuzählen , w eiche das
Protistenreich in dem soeben erläuterten Umfange zusammensetzen.
Ich wiederhole dabei nochmals, dass ich dieses «System der Protisten«
in jeder Hinsicht nur als einen ganz provisorischen Versuch und als eine
Anregunc; zu weiterer Bearbeitung betrachte.
122 •''•"ist Iliickel,
R e i c h (1 c r P r 1 i s t e n d c r d e r m n g e n e t i s c h e n r g a 11 i s m e n '
(Organismen, welche sich ausschliesslich auf ungeschlechtlichem
Wege, durch Monogonie, fortpflanzen) ,
I. Gruppe : lonera.
1. Gyranomonera (Protogenes, Protamoeba etc.).
2. Lcpomonera (Protomonas, VampyrcUa, Protomyxa etc.).
II. Gruppe : Flagellata.
1 . Nudiflagellata ( E u g 1 e n a , S p o n d y I o m o r u m etc. ) .
2. Cilioflagellala (Peridinium, Ceratium etc.).
III. Gruppe : Labyrinthulca (Labyrinthulae).
IV. Gruppe: Diatomea (Bacillaria).
V. Gruppe: Phycochroiuacea (Myxophycea).
1. Cliroococcacea (Gloeocapsa, Merismopoedia etc.).
2. Oscillarinea (Nostochacea, Rivulariacea etc.).
VI. Gruppe: Fuugi (Mycetes).
1. Phycomycetes (Saprolegnieae, Mucorinae etc.).
2. Hypodermiae (Uredineae, Ustilagineae etc.).
3. Basidiomycetes (Hymenomy cet es, Gastrom ycet es etc.).
4. Ascomycetes (Protomycetes, Discomytes etc.)
VII. Gruppe: lyxomycetes (Mycetozoa).
VIII. Gruppe: Protoplasta (Araoeboida).
1. Gymnamoebae (Autamocba, Nuclearia etc.).
2. Lepamoebae (Aredia, Difflugia etc.).
3. Gregarinae (Monocyslida et Poly cysti da).
IX. Gruppe: ISoctilucae (Myxocystoda).
X. Gruppe : Rhizopoila.
1. Acyttaria (Monothaiamia et Poly thalamia).
2. Ileliozoa ( Actinosphaerium Eichhornii).
3. Radiolaria (Monocy ttaria et Polycy ttaria).
Monograpliic der Moiiweii. 123
V. V(M-iil eicluMulo Morphologie der Moneren.
Um die ve^^^^ckelten Beziehtinc;en der Moneren 7ai den übrigen
Protisten und überliaupt zu den Organismen niedersten Ranges richtig
zu ^^iu•digen, erscheint es zunächst nolhwendig, sich über den mor-
phologisclien , oder genauer leclologischen Werth derselben zu
verständigen, und ihre Individualitäts-Stufe zu bestimmen. Ich lege
hierbei die Anscliauungen zu Grunde, welche ich in meiner gene-
rellen Tectologie oder Individualitätslehre (Structurlehre) der Or-
ganismen entwickelt und begründet habe, i)
Als den allgemeinen und einzig unentbehrlichen materiellen Be-
standtheil aller Organismen haben wir das Plasma oder Protoplasma
(Sarcode) , eine festflüssige stickstofflialtige Kohlenstoffverbindung
aus der Gruppe der Eiweisskörper nachgewiesen. Dieses Plasma bildet
bei den Moneren, als den tiefststehenden unter allen Organismen, ein-
zig und allein für sich, ohne Betheiligung anderer Körper, den ganzen
structurlosen Leib des vollkommen ausgebildeten Organismus. Seinem
Formwerthe nach repräsenlirt derselbe also ein einfachstes morpho-
logisches Individuum erster Ordnung, ein Plasmastück oder
eine Plastide.
Der vieldeutige Begriff der orga ni sehen Zelle ist nach dem ge-
^^öhnlichen Sprachgebrauch auf diese einfachsten individualisirlen
Plasmastückchen nicht mehr verwendbar. Um daher die Zelle nthe-
orie, diese unentbehrliche Grundlage unserer gesammten Tectologie
auch auf die Moneren und die verwandten Protisten anwendbar zu
machen, habe ich das Verhältniss dieser Plasmastückchen zu wirklichen
Zellen in meiner Tectologie möglichst scharf zu entwickeln versucht.
Nach meiner Ansicht sind die echten Zellen, für deren Begriff ich die
Sonderung von innerem Kern und äusserem Plasma für nothwendig er-
achte , aus den Moneren durch innere Differenzirung hervorgegangen.
Andererseits sind aus den Moneren durch äussere Differenzirung von
Plasma und umhüllender Membran oder Schale die zellenähnlichen,
aber kernlosen Piastiden, die membranösen Cytoden hervorgegangen.
Durch diese systematische Unterscheidung erhalten wir folgende
vier wesentlich dilTeienzirte Grundformen von Plastidcn, oder von mor-
phologischen Individuen erster Ordnung :
<) Generelle Morphologie. Vol. ]. Drilles Buch. IX. Capitel. p. 209.
124 Ernst Häckel,
Plastideii-Arten.
I. Cytojiae (s. Cellinae), Cytoden. Plasmastücke ohne Kern.
1. Gymnocytodae (s. Gytodae nudae), Nacktoytoden.
Nackte Plasmastücke ohne Kern, ohne Membran oder Schale, z. B.
die frei sich bewegenden Moneren, die kernlosen Plasmodien der Myxo-
myceten und mancher anderen Protisten, die aus den Pseudonavicellen
geschlüpften amoeboiden Keime derGregarinen etc.
2. Lepocylodae (s. Gytodae membranosae), Hautcytoden.
Umhüllte Plasmastücke ohne Kern, von einer (ganzen oder unvoll-
ständigen) Membran oder Schale umschlossen, z. B. die eingekapselten
Ruhezustände der Lepomoneren, viele Siphoneen und zahlreiche andere
niedere Pflanzen, die sogenannten »kernlosen Zellen« vieler höheren
Pflanzen und vieler thierischen Gewebe.
II. Cellulac (s. Cyta), Zellen. Plasmastücke mit Kern.
1. Gymnocyta (s. Cellulae nudae), Nacktzellen.
Nackte Plasmastücke mit Kern, ohne Membran oder Schale, z. B.
die echten Amoeben (Autamoeben), die nackten Schwärmsporen der
Algen, die Eier der Siphonophoren und anderer Thiere , die farblosen
Blutzellen , viele Nervenzellen und überhaupt sehr viele andere Zellen
der Thiere etc.
2. Lepocyta (s. Cellulae membranosae), Hautzellen.
Umhüllte Plasmastücke mit Kern, von einer (ganzen oder unvoll-
ständigen) Membran oder Schale umschlossen, z. B. die Diatomeen, die
meisten jugendlichen Pflanzenzellen (so lange sie noch einen Kern be-
sitzen), die Eier der meisten Thiere, und überhaupt sehr viele thie-
rische Zellen etc.
Offenbar beruht das hohe Interesse der Moneren vorzugsweise
darauf, dass sie Gy mnocy toden, d. h. Piastiden der allercinfachsten
Art sind, und dass also sämmtliche übrige Piastidenarten , wie sie den
Körper aller Organismen bilden, auf sie zurückzuführen sind. Die Phy-
logenie , die palaeontologische Entvvickelungsgeschichte der organischen
Stämme • (Phylen) ist nothwendig zuletzt gezwungen , auf archigone
(durch Generatio aequivoca entstandene) Moneren als auf die erste Wur-
zel aller verschiedenen Organismengruppen zurückzugehen. Aus den
Monographie der Moiiproii. 125
Gymnocyloden als clon ursprünglichen Plastidenformcn (einfachslon,
vollkommen homogenen Plasmasliiekchen) entstanden einerseits durch
äussere Differenzirung von Plasma und Membran die Lepocytoden , an-
dererseits durch innere Differenzirung von Plasma und Kern die Zellen;
und diese letzteren zerfielen dann wieder in Haulzellen und Nackt-
zellen , je nachdem sie sich mit einer Membran umgaben oder nicht.
Auf diese vier Grundformen der Piastiden lassen sich alle übrigen Zellen
und Zellenformen, und überhaupt alle histologischen Elemente zurück-
führen , wie ich in meiner generellen Tectologie ausführlich entwickelt
habe (Gen. Morph. Vol. I, p. 269—303).
Bestinnnen wir nun nach diesem Maassstabe den morphologischen
Werth aller bis jetzt bekannt gewordenen Monerenformen, w ie ich die-
selben im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes übersichtlich zusammen-
stellen werde, so gelangen wir zu folgendem Resultate :
i. Alle Moneren bleiben zeitlebens Cytoden; niemals
gehen sie in den höhei'en Formzustand der Zelle über, da niemals in
ihrem Protoplasma sich Kerne differenziren.
2. Alle Moneren sind in vollkommen ausgewachse-
ne m u n d fr e i beweglichem Z u s t a n d e G y m n o c y to d e n ; nie-
mals besitzen sie in diesem Zustande eine Membran oder Schale oder
eine sonstige Hülle.
3 . D i e G y m n m o n e r e n (P r o to g e n e s , P r o l a m o e b a , viel-
leicht auch My xodictyum?) bleiben zeitlebens Gymnocy-
toden; sie gehen nicht in einen Ruhezustand über und umgeben sich
nicht mit einer Hülle.
4. Die Lepomoneren (Protomonas, Protomyxa, Vam-
pyrcUa, Myxastrum) werden aus ursprünglichen Gym-
nocytoden später Lepocytoden, indem sie behufs der Fortpflan-
zung in einen Ruhezustand übergehen und sich dann mit einer Hülle
oder Schale umgeben.
5. Einige Moneren (Proto genes, Protamoeba) blei-
ben zeitlebens einzelne, isolirte Cytoden, permanente In-
dividuen erster Ordnung , indem die durch den Fortpflanzungsprocess
entstehenden neuen Individuen (Bionten) sich sofort von dem elterlichen
Organismus trennen, oder indem dieser einfach in zwei Stücke zerfallt.
6. Andere Mou eren (Myxod i et yum und alle Lepomoneren)
bilden zeitweilig In dividuen zweiter Ordnung oder Or-
gane (in rein morphologischem Sinne) , indem während der Fortpflan-
zungszeit die neu gebildeten Individuen (Schwärmsporen, Tetraplasten,
Theilstücke, und andere Keimformen) eine Zeit lang zu einer Gytoden-
colonie (Organ) vereinigt bleiben.
\ 2G Ernst Hnckel,
In diesen sechs Sätzen ist die vollständige morphologische Charak-
teristik der Moneren enthalten. Dazu kommt dann noch das physiolo-
gische Kriterium der ausschliesslich ungeschlechtlichen Fortpflanzung.
Wenn wir nun, unter steter Berücksichtigung dieser charakteristi-
schen Eigenthümlichkeiten, die Moneren mit den übrigen Organismen
und besonders mit den nächstverwandten Protisten vergleichen , so
werden wir leichter einerseits den besonderen Charakter der Moneren-
gruppe, andererseits die mannichfaltigen Verwandtschaflsbeziehungen
derselben zu den übrigen Gruppen erkennen. Ich werde also d(M- Reihe
nach die den Moneren nächstverwandten unter den vorstehend aufge-
führten Protistengruppen einzeln mit den Moneren vergleichen.
I. Moneren und Rhizopoden.
Von allen Organismen stehen die echten Rhizopoden den Moneren
(etwa mit Ausschluss der Protamoeba) am nächsten. Ich besc^liränke
dabei die natürliche Gruppe der echten Rhizopoden, wie ich in meiner
generellen Morphologie gethan habe, (nach Ausschluss der Protoplasten
oder Amoeboiden) auf die drei Classen der Acy ttarien (Monothalamien
und Polythalamien, oder Imperforaten und Perforaten), derHeliozoen
(bis jetzt nur aus dem eigenthümlichen Actinosphaerium Eich-
hornii Stein, Actinophrys Eichhornii Ehrenberg, gebildet)
und der Radiolarien (Monocyttarien und Polycyltarien). Die aller-
meisten von diesen echten Rhizopoden unterscheiden sich von den Mo-
neren dadurch, dass sie in frei beweglichem und vollkommen ausgebil-
detem Zustande ein Skelet oder eine Schale besitzen. Die wcnij^en üb-
rigen Rhizopoden, welche dieses Skelets oder dieser Schale entbehren,
(Actinosphaerium, ThalassicoUa, Physematium, Collo-
zoum) unterscheiden sich von den Moneren durch die Diffcrcnzirung
von Kernen im Innern des Plasmakörpers. .Eine ganz eigenlhümliche
Stellung nimmt die gewöhnlich zu den Rhizopoden gerechnete, sehr ge-
meine Actinophrys sol (Ehrenb.) ein, der einzige genauer bekannte
Repräsentant der echten Actinophrys. Ich würde diesen Organis-
mus am liebsten zu den Moneren ziehen und zwischen Vampyrella
und Myxastrum stellen. Die eigenthümliche sehr grosse conlractile
Blase dieses Protisten würde dann als blosse Vacuole aufgefasst wer-
den müssen. Da wir jedoch trotz der Häufigkeit der Actinophrys
sol immer noch nichts Sicheres von ihrer Fortpflanzung und Entwicke-
lung wissen, nmss ihre Stellung unter den Moneren vorläufig noch
zweifelhaft bleiben. Die von CrENKOwsKi (1. c. p. 227) beobachteten
Ruhezuslände der Actinophiys sol machen ihre Stellung unter den
Monographie der Moneren. 127
Moneren noch wahrscheinlicher. VeimuthUch werden künftig ausser
(l(«r (H'hten Aclinophrys sol (l^hrcnb.) auch noch eine Anzahl nächsl-
vorwaiuller aclinophrysarlii^er Prolislen (z.B. Trichodiscus und
IMagiopln ys) zu den Moneren zu stellen sein. •) Die von CnmKowsKi
neulich beschriebene C la Ihr ul in a, welche ich auch Ixm .Jena beob-
achtet habe, halte ich für einen echten Rhizopoden und stelle ihn zu
den Monothalaniien unter die Acyttarien^).
II. Moneren und Flagellaten.
Unter den verschiedenen Monercnformen zeigen die Schwärinspo-
ren dei' Protomonas und Protoniy\a die grösste Aehnlichkeit mit
den einfachsten Formen der Flagellaten. Die letzteren unterscheiden
sich durch die DilTei'cnzirung von Kernen und von Hüllen. Das ausge-
biklete und frei bewegliche Flagellal ist niemals eineGymnocytode, wie
alle Moneren im frei beweglichen Zustande sind.
III. Moneren und Lal) yr inthuleen.
Unter den Moneren erinnert Myxastrum durch seine Fortpflan-
zungszustände auÜallend an die La b yrin t h ula. Jedoch sind die ein-
zelnen Piastiden der letzteren stets kernhaltig, also echte Zellen, wäh-
rend die Moneren niemals Kerne besitzen.
IV. Moneren und Diatomeen.
Wie an die Labyrinlhuleen, so erinnern die spindelförmigen kie-
selschaligen Sporen des Myxastrum auch an die Diatomeen, beson-
ders an die einfachsten Formen von Navicula. Da jedoch auch die
Diatomeen innner (?) kernhaltig, also echte Zellen sind, und da sie so-
1) Actinosphaeriura Eichtiornii (Slein), welches gewühnlicli noch als
Aclinophrys Eichhornii (Ehrenberg, nicht Kölliker) mit der echten Acti-
nophrys sol (Ehrenberg; Aclinophrys Eichhornii Kölliker) in einem
Genus vereinigt wird, ist seh r wei l davon verschieden. Bei Aclinophrys sol
isl, wie bei den Moneren, der ganze Proloplasniakörper striicturios, während sich
bei .\ c t i n o s p h a c r i um Eichhornii, einem echten K h i z o p o d c n , bereits
kernhaltige Zellen in der Marksubstanz des Körpers difTcrenzirt haben.
2) CiKSKowsKi, lieber die Cialhrulina, eine neue Aclinophrycn-Galtung.
1 2S F-rnst Hackel,
weit bekannt, niemals als nackte Piastiden erscheinen, so sind die Un-
terschiede von den Moneren sehr durchgreifend.
V. Moneren und M y x o m y c e t e n.
Unter allen Protisten stehen nächst den echten Rhizopoden die
Myxomyceten den Moneren am nächsten. Die colossalen nackten frei
beweglichen Sarcodekörper von P r o t o g e n e s , P r o t o m y x a und auch
von Vampyrella sind von den Plasmodien der Myxom yceten, beson-
ders der dünnflüssigen Formen, an und für sich geradezu nicht zu
unterscheiden. Nur die weitere Entwickelung lässt die Divergenz bei-
der Gruppen erkennen. Dazu kommt noch die aufTallende Aehnlichkeit
in der Fortpflanzung durch Schwärmsporen bei der Protomonas und
Protomyxa. Man könnte daher diese als die einfachsten Myxomy-
ceten betrachten. Allein die Spore der Myxomyceten umschliesst einen
Kern und ist daher eine echte Zelle , w ährend bei den Moneren über-
haupt niemals Kerne vorkommen. Hierin erblicke ich den wesentlichsten
Unterschied der Moneren und Myxomyceten , abgesehen von der viel
höheren Ditferenzirung des Sporangium bei den letzteren. Man könnte
jedoch den eingekapselten Ruhezusland von Protomyxa als die erste
und einfachste Anlage des Sporangiums der Mj'xorayceten betrachten.
Bei beiden gehen die Schwärmsporen in den Amoebenzustand über.
VI. Moneren und Prot opla sten.
Auch die Protoplasten zeigen, gleich den Myxomycc,ten und Rhizo-
poden, sehr nahe Beziehungen zu den Moneren. Als Protoplasten habe
ich in der generellen Morphologie folgende drei Prolistengruppen zu-
sammengefasst : i) Gymnamoebae (die echten, nackten Amoeben,
mit Kern, mit oder ohne contraclile Blase oderVacuole: Autamoeba,
Nuclearia, Pseudospora, Podostoma, Petalopus etc.). 2)
Lepa moebae (mit Schale oder Panzer versehene Amoeben: Arcella,
Difflugia, Euglypha etc.). 3-) Gregarinae (Monocystideen
und Polycystidee n). Die Gregarinen sehe ich als Amoeben an,
welche durch Parasitismus rückgebildet sind. Die Moneren zeigen zu
den Proloplasten, namentlich zu den Gymnamoeben, die nächsten Be-
ziehungen. Protamoeba ist nur durch den Mangel des Kerns und
der conlractilen Blase von echten Amoeben (Autamoeba) zu unler-
scheiden. Ausserdem erinnern die Pseudonavicellen der Gregarinen,
noch mehr als die »Spindeln« der Labyrinthuleen , an die spindelför-
migen Sporen des M y x a s t r u m. Ein wesentlicher und durchgreifender
Mniioi!Tii|iliif der Moiinron. 129
Unlerschied liegt aber wieder darin, dass l)ei allen Proloplaslen wirk-
liche Zellenkerne in der Substanz der Sarcode difVercuizirt sind , wäh-
rend dies bei den Moneren niemals der Fall ist.
Die drei noch idjrigen Prolisten-Gruppen , die Phycochromaceen,
Pilze und Xocliluken , zeigen weniger ausgesprochene Beziehungen zu
den Moneren, als die fünf soeben betrachteten Gruppen , und eine be-
sondere Vergleichung derselben ist daher überflüssig. Jedoch schliessen
sich auch die niedersten Pilze, ebenso wie die einfachsten Phycochro-
maceen, durch die Einfachheit und die niedere Ausbildungsstufe ihres
Baues und ihrer Lebenserscheinungen unmittelbar an die Moneren an.
Die einfachsten Anfänge derselben können unmittelbar aus Moneren
hervorgegangen sein.
Jedenfalls lässt sich schon jelzt aus der eben gegebenen Ueber-
sicht und aus einer einfachen Veigleichung derEntwickelungsgeschichte
der verschiedenen Prolisten mit voller Deutlichkeit ersehen , dass ohne
vollständige Kenntniss der indi\iduellen Entwickelungsgeschichle sich
die systematische Stellung der einzelnen niedrigsten Organismen in die-
ser oder jener Protistengruppe nicht einmal mit annähernder Sicherheit
bestimmen lässt. Ganz besonders gilt dies von allen nackten, amoeben-
artigen und actinophrys-artigen Körpern, ebenso wie von den myxomy-
ceten-artigen Plasmodien und von den flagellaten-artigen Schwärm-
sporen. Hier, wie überall in der Moiphologie, ist, wie Baer sagt, die
Entw ickelungsgeschichte der wahre Lichtträger für
Untersuchungen über organische Körper. Nicht minder
aber bewährt sich auch hier der wichtige Satz, dassdieDescen-
denztheorie der wahre Lichtträger für die gesammte
Entw ickelungsgeschichte ist.
VL System der Moneren.
Gruppeiicharakter der Moneren.
Organismen ohne Organe, welche in vollkommen aus-
gebilileleni Zustande einen frei beweglichen, nackten,
vollkommen struct urlosen und homogenen Sarcode-
(Protoplasma-) Körper bilden. Niemals differenziren
sich Kerne (Nuclei) in dem homogenen Protoplasma. Die
Bewegung geschieht durch Contractionen der homoge-
nen Körpersubstanz und durch He r vortreiben von form-
wechselnden Fortsätzen (Pseudopodien), welche ent-
weder einfach bleiben oder sich verästeln und anasto-
mosiren. Die Ernährung geschieht in verschiedener
Band IV. t. 9
j30 Ernst Hackel,
Weise, meist nach Art der Rhizopoden. Die Fortpflan-
zung geschieht nur auf ungeschlechtlichem Wege (durch
Monogonie). Oft, jedoch nicht im mer, wechselt der frei
bewegliche Zustand mit einem Ruhezustande ab, wäh-
rend dessen sich der Köi'pcr mit einer ausgeschvs'itzten
structurlosen Hülle umgiebt (encystirt). Alle Moneren
leben im Wasser.
Erste Abtheilung der Monerengruppe :
Gyinnonionera.
Moneren ohne Ruhezustand und Ilüllenbildung.
Der frei bewegliche Zustand des Moneres wird von
keinem Ruhezustande mit Ilüllenbildung unterbrochen.
Genus I : Protamoeba Haeckel. *)
Haeckel, Generelle Morphologie. 1866. Vol. I. p. 133.
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Vacuolenbildung, welcher einfache, nicht verästelte und
nicht anastomosirende Fortsätze treibt, und sich durch Zweitheilung
fortpflanzt,
Species: Protamoeba primitiva Haeckel.
Taf. m. Fig. 25—30.
Generelle Morphologie. 1866. Vol. I. p. 133.
Protoplasmakörper von 0,0d — 0,05 Mm. Durchmesser, beständig
formwechselnd, mit einem oder wenigen (3 — 6) peripherischen Pseudo-
podien. Fortsätze kurz, abgerundet, stumpf, fingerförmig, höchstens
so lang als der Durchmesser des centralen Körpers.
Fundort: Ein Süsswassertümpel im Tautenburger Forst, Dorn-
burg gegenüber, bei Jena. 1863 und 1865.
Genus H: Protogenes Haeckel.^)
Zeitschr. für wissensch. Zool. Vol. XV. 1865. p. 360.
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma--
körper ohne Vacuolenbildung, welcher verästelte und anastomosirende
Fortsätze treibt, und sich durch Zweitheilung fortpflanzt.
1) TiQMtri ct^oißr'i, die erste Wechselgestalt.
2) 7i()ujToyirrjg, der Erstgeborene.
Monographie der Moneren. • 131
Spocios : P r o 1 g n s p r i in n r d i a 1 i s IIaeckel.
l CherdonSarcodekörperderRhizopoden, I.e. p. 360. Taf. XXVI. Fig.1, 2.
Proloplasmakörper bald kugelig zusammengezogen, von 0,1 — 1
Mm. DinchiHcsser (1. c. Fig 1), bald plaüonförniig ausgobreitcl , von
ganz unrogelmässigem ümriss, von 3— 4 Mm. Durchmesser (Fig. 2).
Pseudopodien äusseret zahlreich (über tausend), sehr fein, mit sehr
zahlreichen Verästelungen und Anastomosen.
F un dort: Mittelmeer bei Nizza. 1 86 i.
Genus III: Myxodictyum IIakckel.^)
(Vergl. oben p. 99).
fi a 1 1 u n g s c h a r a k l e r : Mehrere einfachste formlose Protoplasma-
körpor ohne Vacuolenbildung, welche verästelte und anastomosirende
Pseudopodien treiben, verbinden sich durch deren Anastomosen zu ei-
nem Netz. (Die Fortpflanzung erfolgt wahrscheinlich durch Theilung
imd durch Ablösung der einzelnen Individuen, welche dann neue Golo-
nieen bilden? ?).
Species : M y x o d i c t y u ni sociale Haeckel.
Taf. III. Fig. 31—33.
Proto]>lasmakörper an dem einzigen beobachteten Exemplar ein
(lach ausgebreitetes Sarcodenetz von 0,35 Mm. Durchmesser bildend,
zusammengesetzt aus siebzehn Moneren-Individuen, actinophrys-ähn-
lichcn Körperchen von 0,04 Mm. Durchmesser.
V II n (lorl : Bai von Algesiras an der Strasse von Gibraltar. 1867.
Zweite Ablheilulig der Monerengruppe:
l^cpomoncra.
Moneren mit Ruhe zustand und Ilüllenbiklung.
Der frei l)ewegliche Zustand des Moneres wird von
einem Rnhezustande mit Ilüllenbiklung unterbrochen.
Genus IV: Protomoiias 1Iai:ckel.^)
Generelle Morphologie, Vol. II. p. XXIII.
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper, ohne Vacuolenbildung, welcher einfache oder verästelte Pseu-
i] uv^oö ixj vor , Schleiiiincl/.
2) TTQWTouorcig, Ureiiiheil.
132 • Ernst Häckel,
dopodien treibt. Fortpflanzung durch Schwärmsporen, welche in Plas-
modien zusammenfliessen.
Species: Prolomonas am yli IIaeckel.
(Monas am yli Gienkowski).
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. 165. Taf. XII. Fig. 1—5.
Protoplasmakörper ein Plasmodium , welches durch Verschmelzen
mehrerer Schwärmsporen entsteht, von ungefähr 0, 02 — 0,05 Mm. Durch-
messer, mit wenigen, verästelten, sehr feinen Pseudopodien. Ruhezu-
stand eine rundliche Lepocytode, deren Membran keilförmige, nach innen
vorragende Warzen treibt. Schwärmsporen spindelförmig, sehr con-
tractu, mit mehreren (zwei ?] Geissein versehen, sich nach Art einer An-
guillula bewegend.
Fundort: In faulenden Nitellen des süssen Wassers in Deutsch-
land und Russland (Gienkowski). ^
Genus V : Protomyxa Hakckel. i)
(Vergl. oben p. 71)
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper mit Vacuolenbildung, welcher verästelte und anastomosirende
Pseudopodien treibt. Fortpflanzung durch Schwärmsporen , welche in
Plasmodien zusammenfliessen.
Species: Prolomyxa a urantiaca IIaeckel.
Taf. II. Fig. 1—12.
Protoplasmakörper ein Plasmodium von orangerolher Farbe, wel-
ches (immer ?) durch Verschmelzen mehrerer Schwärmsporen entsteht,
von 0,5 — 1 Mm. Durchmesser; mit sehr zahlreichen und sehr dicken,
baumförmig verästelten Pseudopodien, welche durch viele Anastomosen
ein Netz bilden. Ruhezustand eine kugelige Lepocytode von 0,15 Mm.
Durchmesser, mit dicker, structurloser Hülle (Cyste) . Schwäimsporen
birnförmig, am spitzen Ende kegelförmig , in eine sehr starke Geissei
auslaufend, sich nach Art der Myxomycetenschwärmer be\vegend. Die
zur Ruhe gekommenen Sporen kriechen nach Amoebenart einher.
Fundort: Auf hoher See treibende nackte Schalen von Spirula
Peronii, angetrieben an die Küste der canarischen Insel Lanzarote.
1 867.
1) TiQcoTÖftv^a, Urschleim.
Moiiojiraiihio der Moiioitii. 133
Genus VI : VampjTPlIa Ciknkowski. ')
Archiv für niikrosk. Anal. Vol. 1. j). iMS.
Gatlungschnrakter : Ein einfachster formloser rroloplasma-
körper ohne Vacuolenbildunc;, welcher einfache oder veräslelle Pseiido-
li()(li(>n Ireibt. Fortpllanzving durch Tetraplnslenbildung : der eingekap-
seile iiihentle Körper zerfallt erst in zwei , dann in vier Keime, welche
nacli (Irin vVustritl aus der Cyste actinophrys-ühnliche Körper darstellen.
Species 1 : Vampyrella Spirogyrae Gienkowski.
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. 218. Taf. XII. Fig. 41—56.
Protoplasmakörper von ziegelrother Farbe, und äusserst wechseln-
der und unregelmässiger Gestalt. Pseudopodien mitKörnchenbewegung,
llieils lang, dünn und spitz, Iheils kurz, dick und stumpf. Die Pseudo-
podien bohren die Zellen der Spirogyra an und saugen deren Inhalt
heraus. Ruhezustand eine kugelige oder sphaeroidale, seltener unregel-
mässige Lepocytode, von 0,06 Mm. Durchmesser, angeheftet an Spiro-
gyren. Cystenwand aus Cellulose bestehend (durch lod und Schwefel-
säure gebläut).
Fundort: Spirogyren des süssen Wassers. Cienkowski.
Species 2 : Vampyrella pendula Gienkowski.
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. 221. Taf. XII. Fig. 57—63.
Protoplasmakörper von ziegelrother Farbe und sehr wechselnder
Gestalt. »Pseudopodien ohne Körnchenbewegung« bohren die Zellen ver-
schiedener Gonferven, Oedogonien, Bulbochaeten etc. an und saugen
deren Inhalt heraus. Ruhezustand eine birnförmige Lepocytode, die
mit dem zugespitzten Ende angeheftet ist. Von dem encyslirten, kuge-
lig Contrahirten Körper geht ein fadenförmiger Fortsatz durch das zuge-
spitzte Ende der aus Gellulose bestehenden Gystenwand hindurch zur
Ansatzstelle.
Fundort: Verschiedene Gonferven des süssen Wassers.
Species 3 : Vampyrella vorax Gienkowski.
Archiv für niikrosk. Anat. Vol. I. p. 223. Taf. XII. Fig. 64—73.
ProtoplasmaköiTier von ziegelrother Farbe, und höchst unregelmäs-
siger und wechselnder Gestalt. »Pseudopodien ohne Körnchcnbewe-
1) Deminutivuin von Vampyrus,
134 l'-nist lliickel, Mounirraplüp der Moneren.
gunga, iimfliessen nach Art der Rhizopoden fremde Körper (Diatomeen,
Desmidiaceen und Flagellaten) und ziehen diese in das Innere des Kör-
pers hinein. Ruhezustand eine ganz unregelmässige, meist langge-
streckte Lepocytode,
Fundort: Im süssen Wasser.
Genus VII: lyxastrum Haeckel.i) ,
(Vergl. oben p. 91).
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Vacuolenbildung , welcher einfache oder verästelte und
anastomosirende Fortsätze treibt. Fortpflanzung durch Strahltheilung.
Der eingekapselte ruhende Körper zerfällt in eine grosse Anzahl von
länglichen Keimen, deren Längsaxe radial gegen das Centrum der kuge-
ligen Cyste gerichtet ist. Jeder einzelne Keim umgiebt sich mit einer
kieseligen Hülle. Die aus dieser Sporenhülle ausschlüpfenden Keime
nehmen sofort wieder die Form des erwachsenen Organismus an.
Species : Myxastrum radians Haeckel.
Taf. III. Fig. 13—24.
Protoplasmakörper in frei beweglichem Zustand gewöhnlich von
Gestalt einer strahlenden Kugel, von sehr zäher Consistenz, von 0,3 —
0,.5 Mm. Durchmesser. Pseudopodien sehr zäh und starr, mit spärlicher
Verästelung und Anastomosenbildung. Fremde Körper, Diatomeen, Pe-
ridinien etc. werden von den Pseudopodien umflossen und in den Cen-
tralkörper hineingedrückt. Ruhezustand eine kugelige Cyste von 0,08
Mm. Durchmesser. Der Inhalt zerfällt in zahlreiche kieselschalige Spo-
ren von 0,03 Mm. Länge, 0,015 Mm. Breite, deren Längsaxe radial
gegen das leere Centrum der kugeligen Cyste gerichtet ist.
Fundort: Hafenbecken von Puerto del Arrecife, Hafenstadt der
canarischen Insel Lanzarote. 1867.
1) iiv^a, vlajQov, Schleimstcrnchen.
Erklärung der Abbildungen.
Taf. I[.
P r o 1 tn y X a a u r a n t i a c a .
Fig. 1. Protomyxa aurantiaca, encystirt, im Ruhezusland : eine homo-
gene orangerolhc Protoplasmakugel , umgeben von einer weichen structuilosen
Gallerthülle. Vergr. 300.
Fig. 2. Dieselbe, im Beginne der Entwickelung. Die homogene orangerothe
Protoplasmakugol bat sich von der Innenseile der Cystenwand zurückgezogen, ver-
dichtet, und beginnt in zahlreiche kleine Kugeln zu zerfallen; zwischen Plasma-
kugel und Gallerthülle hat sich ein wenig helle Flüssigkeit angesammelt. Vergr, 300.
Fig. 3. Dieselbe, weiter entwickelt. Die Plasraakugel ist vollständig in zahl-
reiche kleine Kugeln von gleicher Grösse zerfallen ; diese füllen, locker beisammen-
liegend, den ganzen Hohlraum der kugeligen Cyste wieder aus. Vergr. 300.
Fig. 4. Die kleinen Protoplasmakugeln, welche aus dem Zerfall der encystirten
Plasmakugel hervorgegangen sind, ziehen sich an einem Ende in eine lange Geissei
aus, und treten als »Schwiirmsporen« unter lebhafter Bewegung aus der Cysten-
hülle (»Sporangium«) aus. Vergr. 300.
Fig. 5. Zehn einzelne birnförmige Schwärmsporen, sich nach dem Austritt
aus der geborstenen Cyste mittelst ihrer Geissei lebhaft bewegend; der Sporen-
körper ist sammt seiner Geissei eine vollkommen nackte und homogene Sarcode-
masse. Vergr. 380.
Fig. 6. Sieben einzelne Schwärmsporen, welche zur Ruhe gekommen sind,
die Geissei eingezogen haben und statt dessen eine Anzahl von spitzen, formwech-
selnden Fortsätzen (Pseudopodien) hervorstrecken; sie kriechen mittelst derselben
unter beständiger langsamer Formveränderung nach Amocbenart umher; der ho-
mogene Plasmakörper ist noch ohne Vacuolen. Vergr. 380.
Fig. 7. Drei amoebenartige Keime (zur Ruhe gekommene, kriechende Schwärm-
sporen) vereinigen sich mittelst ihrer anastomosirenden Pseudopodien und fliessen
schliesslich vollständig in einen einzigen Plasmakörper (Plasmodium) zusammen ;
bereits sind einzelne Vacuolen [v] im Plasma wahrzunehmen. Vergr. 220.
Fig. 8. Zwei amoebenartige Keime (von den in Fig. 6 abgebildeten) greifen
eine Diatomee (Navicula) an den beiden entgegengesetzten Enden an. Vgr. 220.
Fig. 9. Dieselben beiden Amoebenkeime, wie Fig. 8, etwas später; von beiden
Enden der Navicula her dieselbe überziehend, sind sie in der Mitte zusammenge-
trolTen und haben sich hier zu einer einzigen vereinigt. Vergr. 220.
Fig. <0. Eine ältere Protomyxa, entweder durch einfaches Wachsthum eines
einzigen amoobenartigcn Keimes oder durch Verschmelzung einer grösseren An-
zahl von Amocbcn zu einem Plasmodium entstanden. Eine gefressene Islhmia und
] 36 Erklärung der Abhikliingcii.
eine Navicula, nebst zahlreiclion Vacuolen (r) sind in dem homogenen Parenchym
der Sarcode sichtbar. Vergr. 220.
Fig. 11. Eine ausgewachsene Protomyxa im üppigsten Futterzustande, nach
sehr reichlicher Nahrungsaufnahme. Im Inneren des centralen Protoplasma-Leibes
befinden sich zahlreiche Vacuolen (v), ferner oben zwei noch zusammenhängende
Isthmien, unten drei gegitterte Kieselschalen von pelagischen Tintinnoiden, (zwei
Dictyocysta elegans und eine Dictyocysta mitra); die eine Schale scheint eben aus-
gestossen zu werden Ringsum strahlen von dem centralen Sarcodekörper die sehr
starken, baumformig verzweigten Pseudopodien aus, deren peripherische Anasto-
mosen zahlreiche bogenförmige Schlingen bilden. Oben haben mehrere starke
Pseudopodien soeben ein dreihörniges Pendinium erfasst und umtliessen es. Die
Vacuolenbildung erstreckt sich auch in die grosseren Pseudopodien hinein.
Vergr. 220.
Fig. 12. Eine ausgewachsene Protomyxa, hungernd, ohne Nahrung Der ganz
homogene Sarcodeleib strahlt ringsum eine sehr grosse Menge von baumformig
verästelten Pseudopodien aus, welche nur wenige Anastomosen bilden und wenige
Körnchen führen. Auch die Zahl der Vacuolen in dem centralen Protoplasma-
körper ist gering. Vergr. 140.
Taf. III.
Fig. 13—24. Myxastrum radians.
Fig. 13. Myxastrum radians, encystirt, im Ruhezustand: eine liomogene
farblose Protoplasmakugel, umgeben von einer zähen slructurlosen Gallerthülle.
Vergr. 450.
Fig. 14. Dasselbe, im Beginne der Entwickelung. Die homogene farblose
Protoplasmakugel beginnt durch radiale Zerklüftung (Strahltheilung) in zahlreiche
kegelförmige Portionen zu zerfallen, deren Spitzen sich im Centrum der Kugel be-
rühren , während ihre abgerundeten Basen an der Oberfläche der Plasmakugel
eine maulbeerfürmige Zeichnung hervorrufen. Vergr. 450.
Fig. 15 Dasselbe, weiter entwickelt. Die kegelförmigen Plasmastücke, welche
durch die radiale Zerklüftung der encystirten Plasmakugel entstanden, haben Spin-
delform angenommen, und jedes einzelne hat eine kieselige Hülle ausgeschieden.
Das encystirte Myxastrum stellt jetzt ein kugeliges Sporangium dar, welches
zahlreiche spindelförmige, kieselschalige radial gestellte Sporen einschliesst.
Vergr. 450.
Fig. 16. Dasselbe Sporangium, wie Fig. 15. Der Focus des Mikroskops ist auf
eine meridianale Durchschnittsebene der Kugel eingestellt, so dass man die radiale
Stellung der kieselschaligen spindelförmigen Sporen wahrnimmt. Vergr. 450.
Fig. 4 7. Die leere Kieselschale einer Spore, deren Protoplasmakörper bereits
ausgeschlüpft ist. Vergr. 450.
Fig, 18. Eine Spore, deren Sarcodeinhalt aus der Kieselschale auszuschlüpfen
l)eginnt. Vergr. 450.
Fig. 19. Dieselbe Spore, wie Fig. 18, einige Zeit später. Es ist nur noch wenig
Sarcode in der Kieselschalc. Vergr. 450.
Fig. 20. Der homogene Sarcodeleib einer Spore, welche ihre Kieselschale
(Fig. 17) gänzlich verlassen und sich kugelig zusammengezogen hat. Vergr. 450.
Fig. 21. Dieselbe Sarcodekugel, wie Fig. 20, einige Zeit später. Es beginnen
überall feine Strahlen aus der Oberfläche vorzutreten. Vergr. 450.
I'.ikl.iniiiii (ItT Abbildiiiigt'ii. 137
Fit;, ii. Eiii etwas ällres kugeliges Myxaslruin , dessen radiale Pseudopodien
schon langer sind. Vergr. 450.
P'ig. :23. Ein erwachsenes MyxasUuni , während sehr reichlicher Nahrungs-
aufnahme, im üppiizsten Futlerzustande. Die radialen Pseudopodien, welche rings-
um von der centralen Plasmakngel ausstrahlen, legen sich büschelförmig über den
angegriffenen Beutestücken zusammen und drücken diese in den Sarcodeleib hinein.
In der Mitte sind drei Naviculen, unten eine Kette von Bacillarien, und oben rechts
ein Peridinium gefangen. Körnchen sind in reichlicher Menge im Protoplasma
zerstreut Vergr. 280.
Fig. 24. Ein ausgewachsenes Myxastrum, hungernd, ohne Nahrung. Der ganz
homogene Sarcodeleib strahlt ringsum eine sehr grosse Men.;.'e von starren ein-
lachen radialen Pseudopodien aus, von denen nur sehr wenige sich verästeln und
anastomosiren. Die Zahl der Körnchen im Plasma ist sehr gering. Vergr. 280.
Fig. 23— 30. Pro tamoeba primi ti va. (Vergr. 400).
Flg. 23. Protamoeba primitiva, mit mehreren kurzen Fortsätzen.
Fig. 26. Dieselbe, mit einem langen Fortsatz.
Fig. 27. Dieselbe, im ersten Beginn der Zweitheilung.
Fig. 28. Dieselbe, mit weiter fortgeschrittener Zweitheilung.
Fig. 29. Dieselbe, mit fast vollendeter Zweitheilung.
Fig. 30. Dieselbe, durch vollendete Zweitheilung in zwei Individuen (A und
B, zerfallen.
Fig. 31 — 33. M y xodi c ty um so cia 1 e.
Flg. 31. Myxodictyum sociale, eine Colonie von siebzehn, durch ein Sarcode-
netz verbundenen, actinophrysartigen Moneren. Vergr. 400.
Fig. 32. Ein einzelnes Stück des Sarcodenetzes. Vergr. 600.
Fig. 33. Ein einzelnes Individuum, welches sich von der Colonie der siebzehn
Moneren abgelöst hat. Vergr. 400.
Kleinere Mittheilungen.
lieber die Constitution der sog. Homologen der Blausäure.
Von
A.'Geuther.
Die von A. W. Hofmann') und Gautier*) in neuester Zeit bei der Einwiricung
von Cliloroform und Aminbasen auf Kalihydrat und von Cyansilber auf die lod-
wasserstoff-Aetfier erhaltenen, mit den sog. Nitrilen isomeren Verbindungen sind
von HoFAiANN als »Homologe der Blausäure«, von Gautier als »Isomere der Cyan-
wasserstofif-Aether« bezeichnet worden. Kolbe ^) unterscheidet die Letzteren von
den Ersteren so, dass er in ihnen einen zweiwerthigen Kohlenstoff annimmt,
welcher mit dem einwerthigen Alkoholradicai den dreiwerthigen Stickstoff befric-
€],„
digt: , > N, während in den ersteren diess durch ein dreiwerthiges Kohlenstoff-
R
radical geschehen soll: R€ ) N. Claus*) legt den neuen Cyanverbindungen die
doppelte Moleculargrösse bei, als den Nitrilen.
Ich glaube, dass es weder der Annahme eines zweiwerthigen Kohlenstoffs^
noch die einer Verschiedenheit des Moleculargewichts zur Erklärung der Isomerie
bedarf.
Die Eigenschaft des Stickstoffs einwerthig auftreten zu können, d. h. Was-
serstoff zu gleichen Mischungsgewichten zu vertreten, beweisen die sog. Azover-
bindungen. Die Blausäure ist aber auch als eine solche, als Monazomethylen : €^
aufzufassen und ihr analog sind die übrigen Nitrile zu betrachten : Acetonitril =
„tj* ,H^ H*
€*j^. Propionitril = €\t etc. und Benzonitril = €V Sie alle sind Monazover-
bindungen der Kohlenwasserstoffe von der allgemeinen Formel: €" H-" — ^'" (wo-
rin m=:o und jeder ganzen Zahl, die kleiner als n ist, sein kann). Die Blausäure,
1) Annal. d. Chemie. Bd. U4. p. 114.
2) Zeitschrift f. Chem. N. F. Bd. 3. p. 666.
3) Ebcnd. Bd. 4. p. 30.
4) Ber. d. naturf. Gesellsch. in Freiburg. Bd. 4. IUI. 4.
A. Gonllier, iitior die ronsliliition der soficn. Homologen der Blausäure. 139
»las Acetonilril, das Propionilril etc. sind homologe Glieder einer Reihe. Daher
kommt es, dass sie bei der Umsetzung mit Kalihydrat und Wasser die gleiche Ver-
änderung erleiden und homologe Zersetzungsproducte, die homologen Säuren, lie-
fern. Die neu entdeckten Cyanverbindungen dagegen sind, um im gewöhnlichen
Sprachgebrauch zu reden, nichts als blausaure Salze, CyanwasserstolTvcrbindungen
der KohlenwasserstolTe €" tf"— 'm, sie entsprechen dem Cyanwasserstoff-Ammo-
niak (Cyanammonium). Daher liefern sie alle unter dem Einfluss starker Säuren die
Zersetzungsproducte der Blausäure, Ameisensäure und Ammoniak, welch' letzteres
sogleich zu dem KohlenwasserstofT tritt und die Aminbase bildet. Starken wäss-
rigcn Basen gegenüber besitzen sie die Beständigkeit der Haloidaether.
Während also die Blausäure, das Acetonitril, das Propionitril, das Benzonitril,
Abkömmlinge dos Methylen's, des Aethylen'sdes Fropylen's, desBenzylen's (€^H*)
sind, sind die neuen Cyanüre: das Methylcyanür, das Aethylcyanür, Phenylcyanür
Abkömmlinge des Sumpfgases, des Aelhylwasserstoffs, desBenzol's, in gleicher
Weise, wie das Melhylchlorür, das Aethylchlorür, das-Phenylchlorür es sind.
€H^ e'H*; e'Wetc. €^H« i €H», H"; €*M*, H«; etc. €"0*, M'.
■ej €=^ €»5 €'5 I €M"-, €5.€»M*,€5. » €«M*, €«
€Ä*,H€1;€*H*,HG1 » €«H*, H€l.
Nicht die neuen Cyanverbindungen also, sondern die schon längst bekannten
Nitrile sind die wahren Homologen der Blausäure.
Ich werde in Kürze Gelegenheit nehmen die Ansicht, dass die Blausäure als
Azomethylen aufzufassen ist, und die sich daraus ergebenden Consequenzen näher
zu entwickeln.
Jena, d. 15. Jan. 1868.
Zwei NotizeD.
Von
A. Geuther.
E. Lisnemann') beobachtete bei der Einwirkung von salzsaurem Aethylamin
auf salpetrigsaures Silberoxyd neben Alkohol eine bei 170 — 172" C. siedende Sub-
stanz, die schwach gelblich gefärbt, leichter als Wasser ist, einen eigenthümlichen
Geruch und die Zusammensetzung €*H'°N'^0* besitzt. Er meint von ihr, dass sie
sich ihrer Zusammensetzung nach, keiner bis jetzt bekannten Classe von Körpern
anschliesse. Dieselbe ist indess nichts anderes, als das von Kreutzhage und mir*)
bei der Einwirkung von salzsaurem Diaethylamin auf salpetrigsaures Kali und
ebenso von salzsaurera Triaethylamin auf das Letztere') beobachtete Ni tro so-
diaethylin. Dasselbe besitzt die gleiche Zusammensetzung, den gleichen Siede-
punct (170—173« uncorr. ; 176'',9 corr.) und die nämlichen Eigenschaften ; es ist
<) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 144. p. 133.
2) Ebend. Bd. 128. p. 151.
3) Diese Zeitschrift. Bd. I. p. 4ü4.
140
A. Geutlier, Zwei Notizen.
nümlich eine »schwach gelblich gefärbte« Flüssigkeit, von »eigcntliümlich-aroma-
tischcin Geruch,« es löst sich in conc. Salzsäure und wird beim Erhitzen damit
unter Bildung von Stickoxyd wieder in salzsaures Diaethylamin verwandelt. Ich
habe schon bei der ersten Beschreibung dieser Verbindung die Vermuthung aus-
gesprochen, dass das von Hofmann bei der Zersetzung des Salzsäuren Aethylamin's
in geringer Menge erhaltene Oel eben diese Verbindung sei, was jetzt durch die
Versuche von Linnemann bestätigt wird.
Das Nitrosodiaethylin ist, wie sein Verhalten zur Salzsäure zeigt, ein Abkömm-
ling des Diaetliylamin's und nicht wie Linnemann anzunehmen geneigt ist, ein sol-
cier des Aethylen's und Aethylenovyd's, es ist eben Nitrosoxydiaethylanün
(Nitrosodiaethylin) d. h. Diaethylamin, worinn an Stelle von 1 Mgt. Wasserstoff
die Eiemciito vom Stickoxyd, oder i Mgt. Sauerstoff und 1 Mgt. SauerstotTuxydul
enthalten sind :
^ ONO 1
tt'N.
Es ist die analoge Verbindung eines Hydroxydiaethylamin's:
^ OHO J
Das von A. Siersch bei der Behandlung von salzsaurem Propylamin mit sal-
pelrigsaurem Silberoxyd erhaltene, zwischen 200 — 205" siedende Nebcnproduct
von der Zusammensetzung €*H'*N^O* ist offenbar nichts anderes, als das homo-
loge Glied vom Dipropylamin.
A. W. Hofmann') hat über die Veränderung, welche die Dämpfe des Me-
thylalkohols erleiden, wenn sie mit einem Strom atmosphärischer Luft über eine
glühende Platinspirale geleitet werden, berichtet. Er ist der Meinung, dass dabei
das Methylaldehyd gebildet werde, weil das mit Ammoniak alkalisch gemachte
llüssige Product mit salpetersaurem Silberoxyd erwärmt, einen vollkommnen Sil-
berspiegel erzeuge, indem zuerst Ameisensäure und dann Kohlensäure entstehe,
dass ferner dasselbe mit einigen Tropfen Kalilauge erhitzt sich beim Kochen trübe,
eine gelbe Färbung annehme und bald gelbbraune Oellröpfchen abscheide, die im
hohen Grade den Geruch von Aldehydharz besitzen. Dass ferner, wenn man
Schwefelwasserstoff in jenes flüssige Product der Reaction leite , es sich nach eini-
gen Augenblicken trübe, indem sich ölige Tropfen von zwiebelartigem Geruch ab-
scheiden, die sich beim Kochen mit Salzsäure lösen und beim Erkalten eine Masse
blendend weisser verfilzter Nade>n von der Zusammensetzung €H^S* liefern. Der
Schmelzpunct derselben liegt bei 218" , sie verflüchtigen sich ohne Zersetzung, sie
sind wenig löslich in Wasser, mehr in Alkohol ; Aether ist ihr bestes Lösungsmittel.
Die Zusammensetzung dieser Krystalle, sowie die obige von Hofmann gegebene
Beschreibung stimmen vollkommen überein mit der von Girard") durch Reduction
1) Compt. rend. T. LXV. p. 555. Zeitschr. für Chemie. N. F. Bd. 4. p. 6.
2] Annal. Bd. 100. p. 306.
.lohn Mayow ri!)pr Apiino imd l'liirputarrpspir.itinn. 141
von SchwefelkohlenstolT zuerst beobachteten, später von A. MusemannI) aus dem
Melhylcnsiilfür Product der Einwirkung von Mclin lenjodür auf Sohwefeinntrium)
beim liriiitzen auf 150" erhaltenen und von Letzterem »Di m e tti y 1 onsui f Ur« be-
nannten Verbinduni;. Husemann sagt von ihr, dass sie in »feinen klinorhonibischen
Prismen« kryslallisire, deren Schmelzpunkt »obcriiaib 200"« liege, die sich aber
»schon bei weit niedrigeren Temperaturen in reichlicher Menge vertlüchtigen«, dass
sie einen »unerträglich zwiebelartigen Geruch« besitzen und »ihre Löslichkeit in den
verschiedenen indifTerentcn Lösungsmitteln sehr gering ist, dass sie sich am besten
noch in Schwefolkohlcnston' und Benzin lösen.« Gikakd beobachtete ihre unver-
änderte Löslichkeit in warmer Salzsäure.
Wenn darnach, wie mir scheint, die Identität der von Hofmann erhaltenen Kry-
slalle mit dem Dimethylensulfür nicht mehr bezweifelt werden kann, so wird die
Existenz des Methylaldehyds in dem betreffenden Product natürlich ebenso sehr
fraglich , als darin die Anwesenheit von Dioxymethylen, welches durch Oxydation
leicht Ameisensäure und Kohlensäure liefert, wahrscheinlich xvird.
Jena, den 25. Januar 1S6S.
Johii ülayow über Apnoe iiiul Placentarrespirafion.
Von
B. S. Schultze.
Studien über ältere Anschauungen von den Existenzbedingungen des Fötus
führten mich auf Mavow, dessen Tractatus tertius überschrieben ist : De respira-
tione Foetus in utero, et ovo.
Es war bekannt, dass Mayow dem Sauerstoff auf der Spur gewesen sei, hun-
dert Jahre vor dessen Entdeckung durch Lavoisier. Dass ihm die physiologische
Bedeutung dieses sehr bestimmt von ihm definirten Bestandtheils der Atmosphäre
nicht sowohl ahnungsweise vorschwebte, als vielmehr auf Grund von Experimenten
offenbar war, und zwar zum Theil bis in Einzelheiten, deren Wiederauffindung der
Forschung der neuesten Zeit vorbehalten war, hat neuerdings Heidenhain^) aus-
führlich dargelegt.
Mavow weist nach, dass derjenige Bestandlheil des Salpeters, welcher dessen
explosive Wirkung im Schiesspulver bedingt, identisch ist mit demjenigen Bestand-
lheil der Atmosphäre, welcher zur Unterhaltung der Flamme, zur Unterhaltung der
Athmung erforderlich ist. Dass duich die Athmung, wie durch die Flamme ein
und derselbe ßestandtheil der Atmosphäre verbraucht wird, dass durch beide Pro-
cesse die Atmosphäre diesen ßestandtheil verliert, durch dieselben an Volum ein-
büsst, auch untauglich wird, sowohl der Athmung als der Verbrennung weiter zu
dienen, das deraonstrirt Mayow durch dieselben Experimente, deren man sich
heute in Schulen und Vorlesungen zur Demonstration der glcichenThatsachen bedient.
1) Annal. Bd. 126. p. 294.
2) Mechanische Leistung, Wärmeenlwickelung und Stoffümsatz bei der Mus-
kcllhätigkeii. Leipzig, 1864. Seite 5 u. ff'.
142 ß- S. Schiiltie,
Mayow weiss, dass nicht allein die durch Lungen athmenden Thicre des Sauer-
stoffs bedürfen und denselben verzehren, er weiss dass auch die Fische durch die
Kiemen den dem Wasser beigemischten Sauerstoff absorbiren, dass auch die Pflan-
zen nicht existiren können in einem Boden, der mit der Atmosphäre nicht frei
communicirt.')
Mayow weiss auch, dass in den Lungen die Functionen des durch die Athmung
aufgenommenen Sauerstoffs nicht sich vollenden, er weiss, dass der Sauerstoff in's
Blut aufgenommen wird und dass das arterielle Blut dem aufgenommenen Sauer-
stoff seine hellrothe Farbe verdankt, dass der Sauerstoff erst in den Geweben ver-
braucht wird, und dass dieser Verbrauch von "Wärmeentwickelung begleitet ist.
Ganz besonders kennt erden durch jedwede Muskelcontraction gesteigerten Sauer-
stoffverbrauch und die eben dadurch bedingte vermehrte Wärmeproduction , das
eben dadurch vermehrte Athembedürfniss. Die Fieberhitze leitet er davon ab, dass
zu viel verbrennliche Substanzen im Blute vorhanden sind und zwar von deren
chemischer Vereinigung mit dem durch die Athmung in's Blut aufgenommenen
Sauerstoff, (p. UO.)
Mayow,, der, beiläufig bemerkt, auch über den Mechanismus der Respiration
auffallend richtige Ansichten hat, kennt natürlich das HooK'sche Experiment, er
weiss, dass zur Befriedigung des Athembedürfnisses wechselnde Ausdehnung und
Verkleinerung der Lunge nicht unbedingt nothwendig ist, er unterhielt die Respi-
ration künstlich durch einen continuirlich durch die an ihrer Oberfläche durch-
löcherten Lungen unterhaltenen Luftslrom (p. 262).
Es ist nicht ersichtlich, dass Mayow auch eine Absonderung gasförmiger
Bestandtheile aus dem Blut in den Lungen nur vermulhet habe. Die Wichtigkeit
der Exspiration leuchtet ihm ein aus der Thatsache, dass die in den Lungen be-
findliche Luft ihren Sauerstoff einbüsst. In den Worten pag. 263: »Circa exspira-
tionem annotandum est, eam ulteriori adhuc usui inservire, viz. ut una cum aere
e pulmonibus ejecto, etiam halitus a sanguinis aestu excitati, exsufflentur« hat man
unter aer wohl nur den Rückstand der Atmosphäre, unter halitus wohl nur Wasser-
dampf zu verstehen.
Bemerkenswerth ist Mayow's Vorstellung von der Nothwendigkeit fortwähren-
der Sauerstoffzufuhr und von der Art des Todes durch Erstickung. Er sagt auf
pag. 267 : »Neque quidem absimili ritu in corde, acinmusculis caeteris, motus effi-
citur: verum effervescentiam motivam in ejusdem ventriculis fieri, haud existimo
propter rationes supra allatas, sed in substantia ejus musculosa , non aliter quam
in caeteris musculis.«
1) Da es den Botanikern interessant sein wird, zu erfahren, dass schon im 17.
Jahrhundert von einer Respiration der Pflanzen gesprochen worden ist , setze ich
die betreffenden Stellen hieher. Auf Seite 263 des citirten Werkes sagt Mayow :
»Adeo enim ad vitam quamcunque sal istoc aereum necessarium est, ut ne Plantae
quidem in terra, ad quam aeri accessus praecluditur , vegetari possint; sin autem
terra isla aeri exposita, sale hoc foecundante denuo impraegnetur, ea demum pian-
tis alcndis iterum idonea evadet. Plane ut vel ipsae Plantae aliqualem respiratio-
nem, aerisque hauriendi necessitatem habere videantur.«
Ferner heisst es auf Seite 283 in einem Vergleich der wachsenden Pflanze mit
dem bebrüteten Ei : »sicut enim particulae nitro-aereae, una cum calido, humido-
que terram subeuntes, cum particulis ejus salinosulphureis exaestuant; a quo vita
et respiratio vegetabilium dependet, prout alibi ostensum est, etc.«
John Mayow über Apnoe und Placenfarrcspiraiion. 143
»Quapropter, suppressa respiralionc, cum sal illiul aereum, ad motum qucin-
vis requisitum, deliciat, cordis pulsationoin et consequenter sanguinis ad ccre-
bruni alTluxum iiiterriiinpi , mortenique sequi nccesso erit. Ideo autem per ali-
quod tempus sine respiratione vivcre licet; quia sanguis in puinionuno vasis con-
tentus, et satis aürc impraegnatus, molui cordis sailem momento temporis susti-
nendo sufficit.«
Bemerkenswerth ist diese Vorstellung namenllicli desshalb, weil aus anderen
Stellen es so scheinen könnle, als ob M.vvow Ncrvcnfluidum und Sauerstoff voll-
ständig idonlificire.
Wenn in dem HooK'schen Experiment mit Recht der erste Anfang der Kennlniss
der Apnoe gesehen wird,') so that Mayow einen sehr bedeutenden Schritt weiter im
Verstandniss dieses erst neuerdings wieder in seiner physiologischen Bedeutung
gewürdigten Zustandes, er stellte die Apnoe experimentell her durch Ueberleitung
des arteriellen Blutes aus einem lebenden Hund in den anderen , und sah dass in
dem letzteren das Athcmbedürfniss reducirt wurde oder schwand.
Athembedürfniss und Sauersto/rverbrauch scheint Mayow im Fötus haupt-
sächlich desshalb anzunehmen, weil er Muskelaction an ihm kennt, denn er bemisst
nach der Grösse der letzteren dessen SauerstolTbedürfniss. »Quocircacum foetus in
utero et ovo ab omni fere motu praeter unicum illum cordis ferietur, particularum
Xitro-aerearum penus minutior, a materno sanguine arterioso, aut ab ovi liquo-
ribus suppedilatus, eidem pro modulo suo abunde sufficit (pag. 282). Das »ab ovi
liquoribus« bezieht sich auf die Vögel; vom Säugethierfölus sagt er p. 279, nach-
ilem er die verschiedenen Ansichten über die Placentarfunction kritisirt hat : »His
praemissis statuimus, sanguinem Embryi per Arterias Umbilicales ad Placentam
sive carunculas uterinas delatum, non tantum succum nutritium sed una cum eo-
dem particularum nitro-aerearum portiunculam commeatu suo ad foetumadvehere:
plane ut sanguis infantuli per circulationem suam in vasis umbilicalibus factum,
eodem modo ac idem in vasis pulmonibus,") particulis nitro-aereis impraegnari
videatur. Proinde ut placentam non amplius lecur, sed potius Pulmonem Uteri-
num, nuncupandam esse arbifrer.o
»Si quis hie objiciat, istiusmodi ^) respirationem in utero, sine Arteriis Umbili-
calibus institui posse; in quantum sc. satis esset, ut succus nutritius particulis
nitro-aereis refertus, per venam umbilicalem ad foetum appelleret. Respondeo ad
rcspiralionis vices supplendas conlinuo acris aflluxu opus esse; succum vero nu-
tritium tantum esse non debere, quantus requiritur, ut idem perpetuo flumine ad
infantulum adveniat; et proinde necesse esse, ut Arteriae umbilicales exstruantur,
<luo viz. sanguis arteriosus ad Placentam perpetim emissus, ibidem succi nutrilii
substantia aerea referti, portiuncula impraegnetur; indeque motu nunquam inler-
rupto ad foetum in nutritionis simul, et respirationis usum revertatur.«
Dieser Einwand und die Art der Widerlegung desselben werden verständlich,
wenn man bedenkt, dass Mayow von dem respiratorischen Gasweclisel nur die
4) Rosenthal, Studien über Athembewegungen. Du Bois Raymond und Rei-
chert's Archiv. 1864. Seite 467.
2) Soll heissen pulmonalibus.
3) Diesen letzteren Ausspruch finden wir bereits einige Jahre früher bei Need-
ham, Disquisitio anatomica de formato foetu Londini 1667, wo es pag. 114 heisst:
»Gerte qui placentam primus hepatis uterini nomine donavit, (das ist Arantius) po-
terat aeque pulmonem ipsius appellasse.« Freilich fehlte aber Ncedham die richtige
Anschauung der Lun^enfunction.
144 l^' S. Schnltzp, John Mayow über Apnoe und Placcntarrespiralion.
SauerstoffeinnahiDC, nicht die Kohlensäurcausscheidung licnnl. Mayow fulirt fort;
»Enimveroverisimile est, si sanguis arteriosus, qui spiritu
nitro-aereo imbutus est, loco venosi ad cor accederet, nulla
omnino respiratione opus esse. Et hoc inde confir mar i videtur ,
quod dum sanguis arteriosus ex uno Cane in alter um, notojam
experimento, t ra nsmi tti tur, canis in quem sa n guis transferlur,
quamquam antea anhelus, etintenserespirans,sangu ine tarnen
arterioso intus recepto, vixomnino respirare videtur.«
Man glaubt nicht, wenn man diese Worte liest, einen Mann des vorvorigen
Jahrhunderts zu vernehmen. Es ist gewiss dem Mayow sehr hoch anzurechnen,
dass er auf dem Boden der damaligen Kenntniss im Stande war, den Sauerstoff zu
finden. Aber weit staunenswerther ist die Leistung, dass derselbe Mann, welcher
durch eigene Experimente den Sauerstoff fand, in seinem kurzen Leben (er starb
34 Jahr alt) die Bedeutung dieses Stoffes fiir die thierische Oekonomie soweit er-
gründen konnte, dass ihm selbst die Apnoe bekannt und vollständig versländlich
war, dass der ununterbrochene Sauerstoffverbrauch auch im Fötus ihm ausser
Zweifel war auf Grund objectiver Kenntniss solcher Functionen an demselben,
welche ohne Sauerstoffverbrauch nicht stattfinden, dass der Weg, auf welchem dem
Fötus der Sauerstoff zugeführt wird , ihm bekannt war, und dass er den Zustand
des Fötus in Bezug auf die Befriedigung seines Athembedürfnisses mit dem eines
durch Transfusion apnoisch gemachten Hundes vergleichen konnte. Ich stehe nicht
an, dem Mayow seiner wissenschaftlichen Bedeutung nach den Platz unmittelbar
neben Harwey und gleichwerthig mit ihm anzuweisen. Seine historische Bedeu-
tung, ich meine seine Bedeutung für die Weiterentwickelung der Wissenschaft ist
freilich gegenüber der Harwey's verschwindend. Harwey wurde von seinen Zeit-
genossen und Nachfolgern verstanden, Mayow nicht. Als Beweis, wie wenig er ver-
standen worden, genüge anzuführen , was Haller in seiner genau hundert Jahre
später erschienenen Bibliotheca anatomica über ihn sagt. In seiner kurzen, sonst
meist wunderbar scharf trefienden Weise sagt Haller über Mayow: »luvenis, ut ex
pictura videtur, vir ingeniosus neque mathematum ignarus, caeterum in hypothe-
ses pronior, quod fere commune ejus aetatis Vitium fuit. Nitrum statuit per aerem
obvolitans, quod in pulmones absorptum abeat in spiritus vitales . . . cet.«
Ich weiss dafür, dass Mayow auf die Entwickelung der Wissenschaft fast ohne
Einfluss blieb, keinen anderen Grund, als dass er mit den Zielen seiner Forschung
unter seinen Zeitgenossen zu isolirt dastand, dass er mit den Resultaten derselben
über die Leistungen seinerzeit um eine ganze Reihe von Meuschenallern hinausragt.
Mayow's Tractatus quinque medico-physici erschienen zu Oxl'ort 1674. Ob
sie früher einzeln erschienen, ist mir nicht bekannt, doch geht aus einer Bemer-
kung Mayow's auf Seite 129 hervor, dass der Tractatus de respiratione früher von
ihm veröffentlicht worden, als der in der Gesammtausgabe voranstehende wesent-
lich chemische De Sal Nitro et Spiritu nitro-aereo. Mir liegt eine spätere Ausgabe
vor: Johannis Mayow Londinensis Doctoris et Medici, nee non Coli. Onm. Anim. in
Universitate Oxoniensi Socii , Opera oinnia medico-physica, tractatibus quinque
comprehensa. Hagae-Comilum, 1681.
Jena, den 13. Februar 1S6S.
Beobaektiiiigeii despatitolugisclieu Instituts zu Jeua im Juhrei8()i>
Wilhelm Müller.
Allgemeiner Theil.
Dem Bericht über die Beobachtungen des pathologischen Instituts
zu Jena im Jahre 1 866 schicke ich folgende Bemerkungen voraus.
Das pathologische Institut zu Jena verfügt in Folge der Liberalität
der Aerzte fast über das ganze Sectionsmalerial der Stadt; dazu kommt
eine beschränkte Zahl von Sectionen in den benachbarten Dörfern,
welche durch die Poliklinik dem Institut zugewiesen werden. Ueber die
Mortalitätsverhältnisse der Stadt Jena werden von dem Amlsphysicus
Herrn F. Siebert sorgfältige Aufzeichnungen nach dem Muster des
Registrar general geführt. Sie liefern die absoluten Sterblichkeits-
zahlen. Sie gewähren ferner einen Einblick in die Häufigkeit der ver-
schiedenen Todesursachen und deren Vertheilung auf die einzelnen
Lebensalter und Geschlechter. So zuverlässig und für den Statistiker
unentbehrlich die ersteren Angaben sind . so'wenig sind die letzteren
frei von den Mängeln , mit welchen zur Zeit jede Statistik der Todes-
ursachen behaftet ist. Diese Mängel sind begründet einmal in der
UnvoUkommenheit unsrcs Wissens. Sie gestattet in vielen Fällen
nicht, die Art der Todesursache während des Lebens mit hin-
reichender Genauigkeit festzustellen , wodurch ein Theil der sta-
tistischen Angaben mehr oder weniger willkürlich wird, wenn die
Controle durch die Section mangelt. Sie sind zweitens begründet in
der UnvoUkommenheit der Methode. Da, wieS.WiLKs in seinem lesens-
werthen Aufsatz Acute and chronic disease mit Recht hervorgehoben
hat, der Tod viel häufiger die Folge einer Combination von Ursachen ist,
als man gewöhnlich annimmt, so kann eine Zusammenstellung , welche
jeden Todesfall unter eine bestimmte Rubrik einreiht, nur einen an-
nähernden Ausdruck der wirklichen Verhältnisse darstellen.
Hievon ganz abgesehen findet bei einer Statistik der Todesursachen
Band IV. % 4
\i{j Wilhelm Mflüer.
eine ganze Reihe von Krankheilsprocessen, welche häufig denMorbililäls-
verhäitnissen eini.'i- Gegend ein charakteristisches Gepräge verleihen,
aus dem Grunde keine Berücksichtigung, weil sie in der Regel nur durch
besondere Coniplicalionen den Tod herbeiführen. Man würde in den
officiellen Todtenlisten vergebens Nachweise über die Häufigkeil des
Kropfs, des runden Magengeschwürs, der Uteruserkrankungen in hie-
siger Gegend suchen. Es ist aber unzweifelhaft für den Statistiker nicht
blos von Interesse zu wissen, welche Krankheilen in einer Gegend den
Tod der Einwohner herbeiführen, sondern auch zu erfahren, mit welcher
Häufigkeil namentlich chronische Processe bei denselben sich finden,
da letztere hauptsächlich es sind, welche die Arbeitsfähigkeit der Indi-
viduen in ausgiebigerem Grade beeinträchtigen.
Ein pathologisches Institut vermag diesem Verlangen der Statistik
innerhalb gev^ isser Grenzen zu genügen, insofern dasselbe alle die Ver-
änderungen registrirl, welche überhaupt bei den geöffneten Leichen
sich vorfinden, mithin einen Einblick in die Häufigkeit aller derKrank-
hcitsprocesse gewählt, welche mit bleibenden Formänderungen im Or-
ganismus einhergehen. Wie werlhvoU die Ergänzung ist, welche die
officiellen Todtenlisten in dieser Hinsicht durch die Aufzeichnungen des
pathologischen Instituts erhalten , ergibt sich aus dem Umstand , dass
das Verhältniss der in Jena Verstorbenen, welche secirl werden, zu
den überhaupt Verstorbenen durchschnittlich gegen 70 Procenl beträgt.
Es ist klar, dass es zur Herstellung einer MorbilitälsstatislikJena's,
soweit das pathologische Institut eine solche zu liefern vermag , einer
längeren Beobachtungszeit bedarf. Die Beobachtungen der einzelnen
Jahrgänge haben bei der Beschränktheit des Materials, welches eine
Stadt von 8000 Einwohnern liefert, nur Werth , insofern sie Glieder
einar grössei'n Beobachtungsreihe darstellen und zugleich einen Ein-
blick in die periodischen Schwankungen der betreffenden Verhältnisse
gewähren.
Zur Erleichterung der Uebersicht sind an der Spitze der nachste-
henden Mittheilungen die verschiedenen Todesursachen in üblicher
Weise tabellarisch zusammengestellt. Ausser den in statistischer Hin-
sicht wichtigen Beobachtungen wird der vorliegende allgemeine TheiJ
zugleich jene enthalten , welche grösseres wissenschaflliches Interesse
darbieten und eine kurze Darlegung gestalten. Der in dem nächsten
Heft dieser Zeitschrift erscheinende specielle Theil wird eine Reihe von
Detailbeobachlungen in ausführlicher Darlegung bringen.
Die Zahl der im Lauf des Jahres 1866 vom pathologischen Institut
zu Jena geöfTneten Leichen beträgt 135. DieVcrtheilung der hauptsäch-
lichen Todesursachen auf diese 135 Leichen ergibt sich aus nachste-
hender Zusammenstellung :
Bi'übiiililiiiigi'ii des piitUülogisclieii Instituts zu Jena iui .Inlirc I86ü.
H7
Todesursache
— i
.\1 W.
ä— 10
M. W
H — 20
M. W.
J^L
80
W.
1
40
w.
1 —50
M.W.
{ —60
|\L W.
, -70
|\L W.
1
1
—80
■M. W
Carcinoui
des Uterus ....
« Darms ....
der Brustdrüse . .
» Nieren ....
Epitheliom
der Saamenblaseu
" Blase
des Uterus ....
» Kehlkopfs . . .
Adenom
derGland.lhy recid
» » piluil. .
Sarkom
des Gehirns . . .
der Lungen ....
Tuberkulose
der Hirnhaut ...
» Lungen ....
» Knochen . . .
Syphilis i
Lupus
Typhus
Scorbut
Krankh. des Ner-
vensystems
Pachymennigitis .
Leptomeningitis .
Hydrocephalus . .
Haemorrhag. cer.
Krankh. d.Circuls.
Pericarditis. . . .
Endocardilis . . •
Aneurysma cordis
» aorlae
Phlebitis
Kr. des Respirs.
Diphlheria laryn.
Bronchopaeum. .
Pneumon. crupos.
M chron.
Emphysema . . .
Pleuritis
Asphy.\ia
Kr. des Digests.
Incarcer. intest. .
Catarrh. intest. .
Cholera
Dysenteria ....
Abscess. heputis .
Echinococc. hep.
Kr. desuropoet. S.
Nephritis tubui. .
inlerst.
>> suppurat.
_
1
1
1
i
1
1
-
2
_
3
1
1
3
_
1
1
1
3
z.
1
—
1
1
2
1
z
1
1
1
1
1
z
3
z
]
^
z
1
3
1
z
—
<
i
1
<
1
1
—
_
2
i
1
i
~\
~\
ZI
z
_
_
_
1
i
1
i
4
1
z
i
4
_
4
1
4
1
z
1
1
— 1^
^1
4
4
4
4
1
4
z
4
z
4
z
z
z
4
4
z
1
4
1
4
4
2
—
4
Z
4
1
'47
\
\
2-'.
1
1
1
1
i
i
4ä
1
2S
17
8
9
•
5
7
5
5
7
2
6
7
\
10
7
7
~1
8
1
1(1
6
44
7
6
1
5
12Ü
14S
Willielin MiiliiT.
Todesursache
i
0—1 2—10
M. W. M. W.
—20
M.W.
—30
M. W.
—40
M.W.
1
—50
M.W.
—60
M.W.
M. ^
70
W.
M.
30
W.
J
Pyelitis
Diabetes
Kr. des Genitals.
Diphtheria uteri .
Ruptura »
Kr. der Haut
Erysipeias ....
Wuriddiphtherie .
Kr.d.Bewegungss.
Rachitis
Knochenbruch . .
Versiftuns ....
—
2
\
—
1
1
\
1
1
2
1
—
1
—
1
1
1
z
_
—
ä
6
9
3
s
3
5
3
!
7
9
■i
11
13
4
11 8
~19~^
7 10
17^
7 11
18~^
6 5|135
"* 1
T uberkulose
fand sich als frischer, noch im Fortschreiten begriffener Process in 27
Leichen, dies gibt ein Verhiillniss von 20%. Die beobachteten Fälle
lassen sich in drei Gruppen bringen , je nachdem Tuberkulose für sich
dem Leben ein Ziel setzte oder der Tod durch eineConiplication erfolgte
oder in den Leichen Veränderungen sich fanden, welche als disponirende
Momente für die Entwicklung der Tuberkulose betrachtet werden
konnten.
Der ersteren Gruppe gehören 1 4 Fälle an ; nur in einem war die
Tuberkulose auf die Lungen beschränkt, in allen übrigen auf mehrere
Organe, namentlich Lungen, Lymphdrüsen und Darm ausgebreitet.
In die zweite Gruppe gehören 4 Fälle: Bei einem 4 4jährigen Mann
kam es in Folge von Perforation der rechten Lunge durch tuberkulöse
Verschwärung zu Pleuritis und Pneumothorax; bei einem 45j. Mann
hatte sich im Änschluss an periphere vereiternde Lungentuberkulose
eitrige Pleuritis entwickelt. Ein 68j. Tuberkulöser erlag einer hämor-
rhagischen Pachymeningitis. Bei einem 17j. Tuberkulösen, welchem
wegen Caries des linken Kniees der Oberschenkel im unteren Dritltheil
amputirt worden war, hatte sich dilfuse eitrige Periostitis längs des
ganzen Stumpfs entwickelt, an welche sich fibrinös-eitrige Pericardilis
anschloss.
In der dritten Gruppe lassen sich 9 Fälle unterbringen. Bei
3 Individuen hatte sich Tuberkulose an chronische Pneumonie und
Bronchialerweilerung angeschlossen ; in 2 Fällen war das disponirende
Moment aller Wahrscheinlichkeit nach durch rundes Magengeschwür
gegeben. Bei einem i5j. Mädchen halte sich Tuberkulose im Verlauf
Rpnhncliliiiiiii'ii ilcs iiiilliolouisclK'ii liisliliils /.n .Icnii im .liilirc IRßi). 1 49
oiiies weit verbroitPlon Lupus enlwickcll, bei einem .^Oj. Mnnu iin An-
sehlussnnchi'onische tubuläre Nephritis, bei einem 3'2j. Mnnn im Anschluss
an Diabetes. Zahlreiche miliare TulT#rkelknölehon neben umfangreicheren
Knoten und verschieden grossen Cavernen in beiden Lungen sicherten in
diesem l'all die Diagnose. Beiein(>r (57 j. Frau fand sichacuteund subacuta
Tuberkulose neben ausgedehnter deformirenderEndarleritis, Verkalkung
fast aller Knorpel des Körpers und beträchtlichem Kalkinfarcl beider
.Nieren.
Von den einzelnen Formen der Tuberkulose sind folgende hervor-
zuheben. Acute Tuberkulose der Hirnhäute fand sich in 5 Fällen, stets
im Anschluss an eine ältere Tuberkulose der Lungen oderLymphdrüsen.
In i von diesen ö Fällen war beträchtlicher Wassererguss in die Gehirn-
\oiUrik('l vorhanden ohne Trübung oder Eiterbeschlag des Ependyms.
in keinem dieser Fälle wurde eine zum Theil reichliche Einsprengung
miliarer Tuberkelknötchen in die mittleren und seitlichen Plexus und in
die IMa am Ilirnschlitz vermisst, Plexus und Pia zeigten sich lebhaft in-
jicirl und ödematös geschwellt, gleichfalls ohne Trübung oderEiterljeleg.
Diesei' Sachverhalt legt es nahe, die Steigerung der Transsudation we-
nigstens zum Theil aus der Drucksteigerung abzuleiten, welche durch
die Entwicklung der Neubildung und die damit verbundene Schwellung
dos Gewebes der Pia im Hii-nschlitz im Gebiete der Venae magnae Ga-
len i zu Stande kommen muss.
In zwei Fällen fand sich neben acuter Tuberkulose der Pia auch
solche der Dura mater. Bei einem vierjährigen Knaben wurden nahe
dem vord(M'n Rand des Foramen magnum mehrere stecknadelkopfgrosse
Tuberkelknötchen auf der Dura mater beobachtet neben zahlreichen
analogen Knötchen in den Meningen der Hirnbasis und den Plexus, die
Arachnoides mit der Dura der Schädelbasis mehrfach locker verwachsen.
Bei einem :^7jährigen Mann zeigte dieDura zu beiden Seiten der Hinter-
liauptbasis namentlich an den Stellen, welche den seitlichen Plexus des
\ieiten Ventrikels anliegen, mehiTache miliare Tuberkelknötchen, welche
ihrer Oberiläche iheils mehr theils weniger fest anhafteten, die Meningen
mit (l(M' Dura am Clivus mehrfach locker verwachsen, sie selbst und die
Plewis reichlich mit miliaren Tuberkelknötchen durchsetzt.
Beide Beobachtungen stimmen mit dem von B.Wagner im VH. Jahr-
gang des Archivs der Heilkunde veröffentlichten Befund überein. Ich
bin jedoch zu einer andren Auffassung des vorliegenden Processes ge-
neigt als sie B. Wagnek gegeben hat. Es scheint mir keine Nöthigung
Nor/.uliegen, in einem dieser Fälle eine von der Dura ausgehende Tu-
berkulose anzunehmen. So wenig von vornherein die Möglichkeit sich
[50 - Wilhelm Müller,
bestreiten lässl, dass die der Bindesubstanz der Dura angehörenden
Zellen ebensogut wie jene der Pleura costalis Tuberkelknötchen zu pro-
duciren im Stande sind, so glaube i^h doch, dass die vorliegenden Be-
funde ungezwungen durch die Annahme sich erklären, dass es sich um
eine von der Pia und den Plexus ausgehende Tuberkulose handelt, wo-
bei einzelne Tuberkelknötchen an der Berührungsstelle mehr oder we-
niger fest mit der Dura durch peripherische Bindesubstanzneubildung
verwachsen sind. Für diese Auffassung spricht : die Anhäufung der
Tuberkelknötchen anstellen der Dura, welche mit tuberkulösen Parthien
der Meningen oder Plexus in unmittelbarer Berührung stehen, die
lockere Verwachsung beider Membranen , endlich die augenscheinlich
aufgelöthete Beschaffenheit eines Theils der Knötchen.
Tuberkulose des Anfangstheils des Oesophagus fand sich bei einem
i .ojährigen Mädchen. Neben weitverbreitetem ulcerösen und desqua-
mativen Lupus der Haut und knotigem Lupus des Kehldeckels fand sich
chronische und acute Tuberkulose der Lungen, des Darms und derMe-
senterialdrüsen. In der vordem Wand desAnfangstheils vom Oesopha-
gus fand sich ein elliptisches der Längsachse des Oesophagus parallel
laufendes Geschwür von 1 Centimeter Länge bei Y2 Gent. Breite mit
scharfem glatten Rand und flacher mit einzelnen miliaren Tuberkel-
knötchen besetzter Basis.
Tuberkulose des Knochensystems fand sich bei einem 7jährigen
Knaben in Form multipler zum Theil symmetischer Auftreibungen ver-
schiedener Knochen mit ausgedehnter Verkäsung und peripherischer
Knötcheneinlagerung. Der Tod war durch weit verbreitete Lungen-,
Darm- und Lymphdrüsentuberkulose und vorgeschrittene Amyloidde-
generation von Leber, Milz, Nieren und Nebennieren erfolgt. Zweimal
erhielt das Institut von Herrn Geh. Hofrath Ried mit Caries behaftete
Extremitäten, bei welchen die methodische Untersuchung Tuberkulose
als Ursache der Knocheneiterung nachv^ies. Diese Fälle werden im spe-
riellen Thei! ansCührlicher besprochen werden.
Krebs.
Hier ist zunächst hervorzuheben ein multipler atrophirender Skir-
chus des Darms und Mesenteriums bei einer 60j. Frau. Es fand sich
eine ringförmige krebsige Stenose des Mastdarmanfangs, eine zweite in
der Mitte des Colon transversum, jede etwa 2 Centimeter breit, ausser-
dem zahlreiche plattenförmige zum Theil mit narbenartigen Ausläufern
in die I^mgebung übergreifende Faserkrebse im Mesenterium , welche
fhußh mehrfaches Uebergreifen auf denDünndarni eineAnzahl leichterer
r.Pött.ichtungen des piillioloüiisclicu liislilnts /.ii Jena im .liiiuc IHlit), | .', j
Stenosen und Knickungen in dessen'Verlauf herbeigeführt hatten. Da-
neben zahlreiche secundäre Krebse auf den Pleuren und dem Herzbeutel.
Von Interesse ist ferner ein Faserkrebs des Uterus mit Freilassung
des Cervix und der obernüchlichen Schleimhaulparlhien. Bei einer
iTjiihr. Frau, welche seit einem Jahr neben dumpfen Schmerzen im
Becken und zunehmendem Marasmus profuse Menstrualblulungen darge-
boten hatte, entwickelte sicli Oodem beider Beine und nach einiger Zeit
Pleuritis mit rasch tödtlichem Verlauf. Der Uterus fand sich in eine
faustgrosse Geschwulst verwandelt von fester Consistenz, auf der
SchnittUäche grauweisser Farbe und speckigem Glanz, seine Wandung
•2 — 3 Centimer dick, die Schleimhaut geschw^ellt und sehr gefassreich,
an die Unterlage fixirt, ihre Oi)eiflache jedoch unversehrt; die Neubil-
dung gegen die obere Parlhle des Cervix hin ohne scharfe Grenze sich
verlierend, der Muttermund unverändert. Ausgedehnte zum Theil von
Krebsknoten durchsetzte Verwachsungen zwischen Tuben und anlie-
genden Organen, mehrere kleine Krebsknoten im rechten Ovarium,
zahlreiche miliare zum Theii von Pigmenthöfen umgeben im Netz , Me-
senterium, und der Serosa der Leber; chronischer Katarrh des untern
Theils des Oesophagus, diiruse krebsige Infiltration seiner Schleimhaut
und Subnuicosa im oberen Drittheile. Ausserdem Thrombose beider
Venae iliacae, der rechten Jugularis und Subclavia, Embolie derLungen-
nrlerie, Abscesse und Gangrän beider Lungen mit consecutiver
Pleuritis.
Epitheliale Geschwülste.
In dieser Gruppe fasse ich alle jene Neubildungen zusammen , bei
welchen eine deutliche W^ucherung charakteristischer Epithelien neben
einer solchen der Bindesubslanz des Körpers vorhanden ist. Ich rechne
hieher die Kystome, welche, wie aus den Untersuchungen von Wilson
Fox undBRAXTONHicKS an jenen das Ovarium hervorgeht, ungezwvmgen
aus gleichzeitiger Wucherung von Derivirten des ursprünglich(Mi F>pi-
thelialrohrs und Fasei'blatts sich ableiten lassen; die Adenome, auf
welche die ViRceow'sche Bindegewebsköiperhypothese nie allgemeine
Anwendung gefunden hat, endlich die Epitheliome, welche nicht nui
in der durch die Anwesenheit von Pflaslerepithelien charakterisirten
Form, wie G. Thfersch gezeigt hat, sondern auch in der ganz analogen
mit Cylinderopilhelien versehenen dieser Ableitung sich fügen.
PMaslerepitheliom desLarynx fand sich bei einem 78jährigenMann,
welchem einige Monate früher ein Epitheliom des rechten unteren Augen-
lids exstiipirt worden \^ar. lioide Slinunljänder waren in zerklüftete,
152 Wilhelm Müller,
mit zahlreichen warzigen Excrescenzen bedeckte Geschwüre verwandelt
mit gelblich weisser speckig glänzender Schnittfläche und dem für das
Pflasterepitheliom charakteristischen Bau, Dabei vorgeschrittene Aniy-
loiddegeneralion der Nieren , Thrombose der linken Gruralvene und
Lungenarterienembolie mit ihren Folgen.
Von den 5 Fällen von Epitheliom des Uterus waren 4 Pflasterepi-
theliome ; sie waren alle augenscheinlich von der oberen Parthie der
Scheide ausgegangen. Im fünften Fall hatte sich bei einem 32jähr. le-
digen Mädchen Cylinderepilheliom entwickelt. Ausser der charakteristi-
schen Veränderung des Uterus, welche den Cervix in grosser Ausdeh-
nung zerstört hatte, fanden sich beide Ovarien in höckerige wallnuss-
resp. apfelgrosse Geschwülste verwandelt, welche im Innern eine
gelblich weisse käsige Masse beherbergten. Die ganze Masse bestand
aus körnigem Detritus, untermischt mit zahlreichen theils mehr theils
minder erhaltenen Cylinderepithelien. Es fanden sich ferner in den
lumbaren und dorsalen Lymphdrüsen, in Lunge, Leber und Darm-
schleimhaut zahlreiche theils miliare theils umfangreichere Epitheliom-
knoten, welche in ihrem Bau mit der Neubildung am Uterus überein-
stimmten.
Es gehört hieher ferner ein sogenannter Zoltenkrebs der Blase,
welcher durch wiederholte Blutungen neben rechtsseitiger interstitieller
Nephritis eine 64jähr. Frau dahin geraff'l hatte. Die Geschwulst sass
im Umfang eines Doppelthalers im Trigonuu) vesicae; ihre Oberfläche
zeigte eine grosse Zahl bis \ Centimeter langer zottiger Excrescenzen ;
die Basis war theilweise zerklüftet, weich, von gelblich weisser Farbe.
Die Untersuchung ergab an den Zotten den von Gerlach und Lambl ge-
nügend beschriebenen Bau, die Basis bestand aus einem lockeren zum
Theil im Granulalionszustand befindlichen Bindegewebsstroma, zwischen
dessen Maschen theils rundliche theils schlauchförmige Hohlräume sich
fanden, w'elche an der Peripherie von einem deutliclien aber flachen
Cylinderepilhelium ausgekleidet waren, während die centralen Parthien
dicht angehäufte theils cylindrische theils mehr abgeflachte Epithelien
enthielten. Ich kann auf Grund dieses Befundes die in Frage stehende
Zottengeschwulst nur für einCylinderepitheliom halten und sehe in den
zottigen Auswüchsen der Bindesubstanz der Blase lediglich das Analogen
der zottigen und warzigen Wucherungen, welche bei den Epitheliomen
der Magen- und Darmschleimhaut und jenen der äusseren Haut etwas
Gewöhnliches sind.
Hierher gehört endlich ein Fall von Cyhnderzellenepitheliom beider
Samenblasen bei einem 7ijähr. Mann, soviel mir bekanpt, der einzige
ni'üliitcliliiiiiie'u lies |iatliologiscli(Mi liistidils zu Jnia im .lalire 1866. 153
bisher beobachtete. Er ^^i^d im s])eciellen Theil iuisführlich beschrieben
werden.
An die Epitheliome reiht sich an ein umsciiriebenes Adenom der
vordem Wand des Anfangstheils vom Oesophagus, welches in Form
einer bohnengrossen flachen leicht höckerigen Geschwulst bei einem
öOjähr. an Cholera verstorbenen Mann gefunden wurde. Zahlreiche
weite OelTnungen von Driisengiingen Hessen schon mit unbewafl'netem
Auge den Charakter der Geschwulst erkennen.
Bei den Adenomen reihen sich am zweckmässigsten die Vergrösse-
rungen der Schilddrüse und des Hirnanhangs ein. Beide lassen sich
als Iraubige Di-üsen mit obliterirten Ausführungsgiingen und selbständig
gewordenen Terminalbläschen auflassen. Die Häufigkeit, mit welcher
Veränderungen der Schilddrüse in Form von Struma in hiesiger Gegend
auftraten, ergibt sich daraus, dass nicht weniger als 17 Fälle = 12.
5 % verzeichnet w^orden sind, mithin jede achte Leiche mit einem deut-
lichen Kiopf behaftet war. Die beiden Geschlechter bctheiliglen sich
hieran in sehr ungleicher AVeise, indem die 17 Fälle auf 4 Männer und
1 3 Weiber sich vertheden. Hervorzuheben ist ein Fall von angeborenem
Kropf bei einem Mädchen , welches während der Geburt asphyktisch
starb. Beide Schilddrüsenlappen waren vom Umfang je eines massigen
Hühnereies, das Gewebe braunroth, deutlich körnig, ziemlich blutreich.
In der verengten Trachea fand sich ein mekoniumhaltiger Schleimpfropf.
Bei einem 83jähr. Mann fand sich neben vorgeschrittener Gehirn-
alrophie und Hydrocephalie eine wallnussgrosse Struma der Glandula
piluitaria , die sich im Verlauf mehrerer Jahre langsam entw ickelt hatte.
Nur der drüsige Theil derHypophysis war an der Geschwulst betheiligt.
Der Fall wird im speciellen Theil ausführlicher besprochen werden.
Kystome der Nieren wurden in 4 , solche der Ovarien in 7 Fällen
beobachtet, bei zweien der letzteren zeigten die Geschwülste dermoiden
Inhalt, Bei einer 68jähr. Frau hatte ein im rechten breiten Mutterband
zwischen Tube und Ovarium mithin wahrscheinlich von einem Rest des
WoLFp'schen Körpers aus entwickeltes Kystom durch mehrere an dasselbe
sich ansetzende Pseudomembranen Gelegenheit zu Einklemmung des
lleum gegeben.
An diese mit den Genitalorganen nachweisbar in Zusammen-
hang stehenden K^stome reihe ich an eine ellipsoidische reich-
lich wallnussgrosse mit klarer lymphartiger Flüssigkeit erfüllte Cyste,
welche sich an der rechten Seite der Aorta abdominahs nahe dem Ab-
gang der rechten Arteria spermatica int. vorfand und welche möglicher-
weise mit einem abgeschnürten Organrest aus der Zeit der ersten Ent-
wicklung der Genitalien in Beziehung gesetzt werden nuiss. Die G(>-
151 Williolm MüIIlm-,
schwulst fand sich bei der schon erwähnten an Cylinderepithi'liüin der
Blase verstorbenen Cijälirigeu Frau.
B i n d e s u b s t a n z - G e s e h \v ü 1 s t e.
In (lieser Gruppe fasse ich alle jene Geschwülste zusammen, welche
aus der Wucherung eines der Bindesubstanzreihe angehörenden Ge-
webes hervorgehen. Es gehören mithin hiehcr nicht nur die eigentlichen
Neubildungen von Bindesubstanz in fertiger oder embryonaler Form die
Fibrome, Myxome, Sarkome und Lipome, sondern auch die Chondrome
und Osteome.
Fibrome und Fibromyoine in der Dicke der Uleruswand wurden
bei 4, solche im Ovarium bei ? Frauen beobachtet. Auf der Schleim-
haut des Uterus hatten sich Bindesubstanzneubildungen in Form theils
flacher theiis polypöser Geschwülste bei i Frauen entwickelt, in 3 Fällen
ausschliesslich im Gervix. Die Geschwülste zeigten stets eine ziemlich
weiche Beschaffenheit; in einem Fall hatten sich die Uterusdrüsen in
ausgiebigerer Weise an der Neubildung betheiligt.
Ein faustgrosses Lipom der rechten Inguinalgegend fand sich bei
einer 61jährigen Frau.
Von besonderem Interesse ist die Beobachtung eines wallnussgrossen
lappigen scharf umschriebenen Myxoms der Lunge einer 65jährigen an
Insufficienz der Bicuspidalklappe und massiger Aortenstenose verstor-
benen Frau. Trotz sorgfältiger Untersuchung der Körpertheile, in wel-
chen Myxome häufiger primär sich entwickeln , gelang es nicht, eine
zweite Neubildung der Art aufzufinden, so dass die Geschw-ulst als ein
primäres Myxom der Lunge betrachtet werden muss.
Spindelzellensarkome fanden sich in 2 Fällen im Gehirn, sie werden
seiner Zeit im Zusammenhang mit einer grösseren Reihe analoger Hirnge-
schwülste beschrieben werden. Bei einer 60jähr. Frau war ein Spindelzel-
lensarkom aus der Fascie des linken Oberschenkels exstirpirt worden. Sie
erlag den Erscheinungen zunehmender Lungeninsufficienz. Es fand sich
ein reichlich kindskopfgrosser Tumor, welcher das obere Dritttheil der
rechten Pleurahöhle ausfüllte und mit der comprimirten Lunge fest ver-
wachsen war neben zahlreichen sarkomatösen Tumoren in Lungen, Gostal-
pleura und parietalem Blatt desHerzbeutels. Zugleich fand sich imUterusi
eine bohnengrosse grauweisse markige Geschwulst von der Schlemihautj
des Fundus ausgehend, welche bei der Untersuchung als ein Spindel-J
zellensarkoin sich erwies.
Rcobaclitiiiigeii clt^s [latholügiisi-liiMi liisliiiils m .Ifiia iai .lalin; iSOb. 15.')
Ariiii m (\
Ich fasse diese Bezeielnumi^ in einem weiteren Sinn als dies ge-
gevvöhnlich geschieht und begreife darunter alle Geschwülste, welche
einer Wucherung von Derivirten des embryonalen Gefassrohrs ihre Ent-
stehung verdanken. Ich rechne somit hicher nicht nur die Teleangiek-
tasien und cavernösen Geschwülste, sondern auch die wahren Aneu-
rysmen und den Varix. Beide gehen aus einer fliichenhaftcn Hyperpla-
sie des Gefassrohrs hervor und verhalten sich meiner Ansicht nach zu
den Veränderungen, welche die Endarterilis und Endophlebilis defor-
maus hervorbringt, analog wie ein Fibrom der Pleura sich verhält zu
doT diffustMi Hyperplasie durch chronische Pleuritis.
Hier ist zu erwähnen ein Aneurysma des Aortenbogens , welches
sich bei einem 69jähr. Mann entwickelt halte. Neben den gewöhnlichen
Erscheinungen waren jene einer Lähmung des linken Stimmbandes
vorhanden. Es fand sich ein kopfgrosses Aneurysma des Aortenbogens
mit Erosion der Wirbel, Schwund und blassgelbliche Färbung des linken
Muse, crico-arytaenoideus posticus neben Verdünnung und graulicher
Färbung des linken N. laryngeus inf.
Venöse Angiome derLeber fanden sich bei 2 Männern von 48 resp.
51 Jahren; sie waren in keinem Fall über kirschengross.
N e u r m e .
Ich fasse diese Bezeichnung in der Ausdehnung, w-elche ViRceow
in seiner bekannten Abhandlung ihr gegeben hat. Es gehört hieher ein
achtes Neurom , .welches bei einer öojährigen im hiesigen Irrenhause
verstorbenen Frau am linken Nervus peronaeus sich entwickelt hatte.
Ausser dieser peripherischen Anomalie fand sich eine sehr merkwürdige
Veränderung in der ganzen Ausdehnung des Rückenmarks, welche we-
sentlich an die Gefässscheiden gebunden war und im speciellen Theil
ihre ausführliche Darstellung finden wird.
Syphilis.
Mit Sicherheit wurde Syphilis nur bei ö Leichen nachgewiesen.
Ein löjähriger Steinschleifer zeigte neben Bronchialerweiterung und
Lungentuberkulose allgemeine Hyperplasie der Lymphdrüsen, in beiden
Hoden die Reste früherer Gummigeschwülste in Form theils käsiger
theils verkalkter Einlagerungen. Bei einer 39jährigen an eitriger Lepto-
meningitis verstorbenen Frau fand sich eine frische Gummigeschwulst
der Leber neben granulösem Katarrh des Uterus und der Vagina. Ein
fümi Taaje adler Knabe xeele B^im FnapAiypis deruntniiExtne^initäler
eiliwt lffifiltr»tkn der oenmbn Parthien der TbymiES. Ein 51 jähr. Irr-
bort Narben an Pesi% im Baeiiäa. in der Leiiier.
Ton betsondemn fatteiv^ssse isl die Becl)>3icitt£ing ^ner Gantmi^e—
5v:&inalst imOi Gelüra bei eii&e£n vier«röfl:enUBelüeit Knaben. Ausser Peic-
p^ysns vnd naeiuöisefli Baotsyphilid fuid sds Fcw^men orale nnd Doctu?
artenoiSBS «Aen, ktzlerer nor an beiden Insertionspandai anbedeutenii
Tere^L Dots Markiger des G^iivns bot bei sallert^er Coosistenz eine
kltk^ ras^uotbe Färboi^. üeber dem linken Honistreif etwa dessen
JESie entsprediHMi das sobependpnale Gewebe im Um&ns einer Linse
aa&Seni derb. seiiwiei% und Ton selMieb- weisser Farbnns. Im
r«e^ten Cealmm senüoitale nach Aussen vom Tbalamos optieos eine
eHfesengrosse w^eis^idbe fibrüde mit Au^nfeni in die üipgebans über—
gsafende Einlasrernns. in dere© IGtte eine nmschriefceiie Terkäsußs.
Xerven System.
PaeftiTmenioisiiis interna wurde in 9 FäUen beoi»aeiilel . dreimal
ak ehrnnisic&er Proeess und zwar in mäs^^ewa Grad und mit zablrn-
e^en Besten firöSkerer E.xl]raT2ssle bei einem 69<jälirigexi Tnb^tnlösen and
exneflB 58jibröeB Irrm. mit Kldm^ Bmfangr ei ch c r w ffimial&meT wiridbe
den Ted «nter de« ErscbeisHmsen des Bimdmeks berbeifuhrten, b«
einem iJjähräeit Inen als aader Process wurde sie in 6 Lneb^i ange-
iraSen. Da bei I $3 Leiel&m die SefaädelhöUe nntersceiit werden konnte.
eTssbt säe& ein Procentrerläitnisis ron % 7.
Bei I IiTeii waren €S nur die nbereJnstimmend in aDaiFaEen vor-
IkaMdeate» Teränderm^en im CesdialnenreiisTstnn . wekbe« der Tod
xa^sAi^mfi w^erden konnte. Diese bestanden in deolHehem Gehirn—
sdhwimd, Wasserersoss in die AradanoidealrSame des Gehirns und
BStkenmarks und m die GeinmTeiitrikel;, Erwdtening der klzler^i
raätTerdötkiiBS ondGraraliniii^ desEpendynks. Eises dieser Indiridaen
haSie^ zwä Jahre lang die eharaktimstiscliefli Ejrsrbeinangim des pars—
iyttsc&es Midsinns dar»eboieii : d^ Besnhate der mefhodiscfa«: Cnter-
ssathmas des Geidms and Bäckenmarks werden späier veröflRntlieht
Im ^pedeüee Theil wird der Fdi einer Sljädir^ienFrao andnhrlidi
aeacUdat werden, weki^; ^leiehiialls in dem hiesaen Irrenhause, oner
rrahren Foni^rabe iitfereasanter Teränderan^n des Gentralnenrensj—
sae^o^ igfilwbiin war. Xc^ben dm Ersefaeinongen der £rot<Hnanie and
xamekmeadem^ Bfetdsmns ze%le sie scho« b«m Eintnfi io die Anstalt
«=ine a«flEdlmde Abmasmnis d^ eineB nnd Tersrö^serane der andren
Wade neben H um p ftMaw l H i iB i g beider Fasse. JDie Sccti— creab c»-
£acbe Alrophie and FettdeBeiieralian der M ot^eia des eäken . Atrap&öe
und LqMNnatose jener des andren üntcrKiienLeis nnd Fnsses, eine «b-
sdiriebene Verändemng om dm Cenl<;deanal im mtieren Absdbnitt des
LendenmartLS und hocfagradisen Hidrocephakis.
Frische Hämonbaeie in linken SeikbOael setzte bei einen Miähr.
:^Tii i^Dserer Zeit an tnboäver Nephritis und mäsäfer HerzrersrSsae-
mng leidenden Mann, eine uinC i ngf ei ch e Hänonbaeie h
Contnun semioTale bei einem Sifährieen bisher sesmiden
Leben ein ZieL In letzterem Eail Euid sieb ndien Tergr üafteinug nnd
Lipofnalose des Herzens mässis«radige Tq fetlnn g der Hin u rter i en-
Bet einem i jährnen Mäddien. «ner 6^ nnd einer 69 ^w. Fran
'änden sich im AnjM-hhwx an abgebnienc Endocanfitas dfe BrTJdrn
mbcrfiscber Ge&asrersiaplansai des Gehirns in Form gdberHeerde
:n den Frantahrindansai resp. d^m Homsiieif nnd der bak^ bcdL
Endlich wurden bä einem 6ljähr. Sann mehieie Ci&ii ag t eii m
redilen Stretfaihösel neben soSeisen im Muse, bieiects brachn dextn be—
•bachtet.
Circnlat ion SSV st em.
An die ^^tze der faieber sefaornm ; -
~^*roD an§ebor»ier Lonaenarteriems:
.idmi Knaben, w^ddser auf der Ebnä^
Beobachtong kam. Das Kind hatte tob _ 1 : i .
1er Venenslaonng darseboten and war cnier hochezadKer Cyanose
gestorben. Es &nd sieb aosgebnäieles Oed^ des Ci
vebes ntdien mäss^em Lan^enödem. Der fietxbeslel
Jmfians aJs normal frä Hegend, in seiner IKhie I CnhitCTfUitliLr klarer
-:§keit. seine beiden Blätter slatt and ^niewd. Herz etwas ircr—
., . ;.>^t. nindlicb. mit einer aromalen qoeren Einziebinie in der Ifitie
;es rectten TentrOLels. Ihe LageranssverhiftBisse der srassen Geiässe
.ormal. Herzmoskel braanroth, fest, in beidn&Yentr&elB T«a gläcber
ivriscboi 4 and 6 Mm. betraeender Dicke. Der recMeYoriaoCwcA. sein
Endocardgbtt and spanend. For^nen ovale mitToUständ^s^feienler
Klappe versehen, deren^tler nur imCmiu^ einer Linse anTerwacbsen
>iad. Ostiam T^iosam desiram von um m ih i Weile, Vatvoia tricaspi-
i^is normal gestahei, mit geringer Watstong ftrer Sander, die Sebnen-
fiden Iheilwebe vergeh molzen and etwas verkönt. Das Endccaxd des
nachten Ventrikels alimthdben setrübt and venückt, am Sinns, weleber
erweitert ist, 0. 4 Mm. messen d . im Coons in eine derbe :i Mm. dfeke
Schwiele verwandelt, welche denseHien linsftimis eänschKäft. Der
158 ^\illn.'llll Müller,
Conus beträchtlich verengt, an der Spitze auf eine Anzahl schmaler
zwischen den Trabekeln liegender Spalten reducirt. Osliuni arteriosuni
pulmonale verengt, 8 Mm. im Umfang betragend, dieSerailunarklappen
sowohl unter sich als theilweise mit der Gefasswand verwachsen, letz-
tere in Längsfalten gelegt. Die Lungenarterien jenseits des Ostium 16
Mm. im Umfang haltend, Ductus arteriosus olfen, nur am Ursprung un-
bedeutend verengt, 5 Mm. im Durchmesser. Seplum ventriculorum
ohne Veränderung. Der linke Ventrikel und Vorhof normal weit, weder
am Endocard noch an den Klappen eine Veränderung zeigend. Die
Aorta vor der Einmündungsstelle des Ductus arteriosus 18, hinter der-
selben 16 Mm. im Umfang messend, ihre Klappen normal gestaltet und
schlussfühig. Im übrigen Körper ausser hochgradigem Harnsäurein-
farcl beider Nieren nichts Bemerkenswerthes.
Die Unversehrtheit des Septum ergibt, dass dieser Fall zu der
dritten von Peacock in seinem bekannten Werke aufgestellten Gruppe
gehört, die Erkrankung des Herzens mithin erst nach der 12. Woche
des Fötallebens aufgetreten ist. Aus den Veränderungen am Klappen-
apparat, der Dicke der Schw iele, der unversehrten Beschaffenheit der
unterliegenden Musculatur schliesse ich, dass die Lungenarterienstenose
in diesem Fall lediglich durch Endocarditis bedingt ist; aus der Faltung
der im Stamm normal weiten Lungenarterie an der verengten Ursprungs-
stelle glaube ich schliessen zu dürfen, dass dieselbe erst in einer relativ
späten Periode des intrauterinen Lebens aufgetreten ist. Der Umstand,
dass das Kind von der Geburt an die Erscheinungen von Venenslauung
darbot, macht es wahrscheinlich , dass zu dieser Zeit die Veränderung
im Herzen bereits fertig ausgebildet war. Welche Momente 'die Endo-
.carditis hervorriefen, Hess sich nicht eruireu , da die Mutter während
der Schwangerschaft keine Anomalie darbot, welche als disponirende
Ursache hätte betrachtet werden können.
Daran schliesst sich an ein Fall von erworbener schwielenbil-
dender Endomyocardilis mit w ahrem Herzaneurysma bei einem 57jähr.
Mann, welcher während der Arbeit auf dem Felde plötzlich umfiel und
sogleich todt war. Ausser dumpfen Schmerzen in der Herzgegend,
welche schon seit längerer Zeit bestanden, halte derselbe keine abnormen
Erscheinungen dai-geboten. Die Seclion ergab das Gehirn normal, etwas
anäinisch, in den Lungen keine Veränderung. Herzbeutel mit dem
Herzen allseitig durch kurze bindegewebige Adhäsionen verbunden.
Herz normal gross, schlaf!", rechterseits massiger Fettgehalt im subperi-
cardialen Bindegewebe , am Endo- und Myocard einzelner Papillar-
muskeln schwielige Verdickung. Die Wandung des linken Ventrikels
normal dick, ausgedehnte Trübungen des Endocard neben Schwielen-
Beobaclituiigcii des piitliolügiselien liisliliits zu Jona im Jaliri' 1800. 1 ft9
bildung in den PapilUinnuskeln und der anliegenden llerzwiind. Die
Herzniusculalur an einer ihalergrossen Stelle der Vorderlläche unmittel-
bar über derHerzspilze vollständig geschwunden, die nur aus dem ver-
dickten Peri- und Endocard bestehende Ilerzwand daselbst flach aus-
gebuchtet. Sammlliche Klappen des Herzens unverändert, Aorta normal
v^'eit mit massigem Atherom.
Endocarditis wurde , abgesehen von dein schon erwähnten an-
geborenen Fall, in 12 Leichen beobachtet. = 8. S^/q. Als frischer
Process fand sie sich viermal, stets im linken Herz: bei zwei Kin-
dern neben Bronchopneumonie als Complication der Masern, bei einer
30jähr. Frau neben kruposer Pneumonie als Complication tubulärer
Nephritis, endlich fanden sich bei einer 40jähr. Frau fiische condylo-
malöse Excrescenzen an beiden Segeln der Bicuspidalis neben aller
Verdickung und Stenose des Oslium. Die Residuen abgelaufener Endo-
carditis wurde in 8 Leichen angetroffen : in 4 Fällen hatte dieselbe die
Bicuspidalis allein getroffen und zu Insufficienz durch Verkürzung ge-
führt, bei einer 40jähr. Frau \^ar das Ostium venosum sinistrum allein,
bei einer 55jähr. des Ostium aorlicum allein stenosirt durch Verwach-
sung der betreffenden Klappen ; bei einer GOjähr. Frau fand sich gleich-
zeitige Stenose beider Oslien des linken Herzens, bei einer 38jähiigen
Frau endlich hatte sich im Anschluss an Rheumatismus acutus hoch-
gradige Stenose beider Ostien des linken Herzens neben Erweiterung
des rechten Herzens und Insufficienz der Tricuspidalis ausgebildet.
Frische fibrinös-eitrige Pericarditis wurde viermal beobachtet: bei
einem 4jährigen Mädchen im Anschluss an l\achilis, bei einem 1 7jähr.
Tuberkulösen im Anschluss an difl'use eitrige Periostitis des Schenkels,
endlich bei einer 55- und einer GOjähr. Frau neben Thrombose derHerz-
ohren. Die Piesiduen abgelaufener Pericarditis fanden sich ausser bei
dem schon erwähnten 57jähr. Mann noch bei einer 58jähr. Frau.
fuidarleritis deformans im Aortensystem fand sich bei 29 Individuen,
13 Männern, 16 Frauen = 21. 4%. Das jüngste Individuum, welches
die fragliche Veränderung in deutlicher Ausbildung zeigte, war ein
40jälir. Mann. Im System der Pulmonalarterie fand sich der Process
in 8 Fällen , stets im Anschluss an Lungenemphysem oder chronische
Pneumonie.
Von den Erkrankungen des Venensystems ist zu erwähnen eine
hochgradige Erweiterung sämmtlicher am Thorax gelegener Kautvenen
im Anschluss an eine voluminöse substernalc Struma bei einer 74jäh-
rigen Frau.
Eitrige Phlebitis fand sich in 4 Fällen : bei 2 Neugeborenen in der
Nabelvene, das eine Mal neben eitriger Leptomeningitis des Gehirns und
\i]{) Wülii'liii Müller,
RUckonmaiks, das andere Mal neben Thrombose des Sinus longitudi-
nalis im Anscliluss an eine Infraction des Scheilelbeins. Bei einem
l/jähr. Mann hatte sich von einem Furunkel der Stirn aus diffuse
Phlegmone der Stirnhaut und linken Orbita, eitrige Phebilis der Vena
ophthalmica und des Sinus cavernosus neben eitriger Leplomeningitis
entwickelt; in denLungen fanden sich metastatische Abscesse; der ganze
Krankheitsverlauf hatte 5 Tage beli'agen. Bei einer Puerpera endlich
fand sich bei inlactem Perilonäum und ziemlich weit zurückgebildetem
Ulerus eitrige Phlebitis im Plexus vesico-uterinus neben Thrombose der
rechten Hypogastrica und Iliaca und diffuser Phlegmone längs beider
Gefasse bis zum Schenkelring.
Thrombosen im venösen Abschnitt des Gefässsystems fanden sich in
22 Fällen, davon kommen auf das Yenensystem 1 5, auf das rechte Ilerzohr
6 auf die Spitze des rechten Ventrikels 1 . In 1 6 von diesen Fällen war
es zuEmbolie in die Lungenarterie gekommen. Im linken Herzohr fanden
sich Thromben in 4 Füllen ; sie hatten dreimal zu Embolie von Körper-
arterien Anlass gegeben. Es fanden sich mithin im Ganzen 20 Throm-
bosen = i 9. 2 % und von diesen kam es bei 73 y^ zur entsprechenden
Embolie. In 9 von den 1 5 Fällen von Embolie der Lungenarterie war
es zu erheblicheren Folgeprocessen in den Lungen gekommen, wieder-
holt wurde in derselben Lunge bei vollkommen gleichartiger Natur des
eingeschwemmten Materials die Entwicklung vonAbscessen neben jener
von einfachen keilförmigen Hepatisationen und von hämorrhagischen
Infarcten beobachtet.
Eitrige Lymphangitis wurde in 5 Fällen beobachtet: Bei einem
73jähr. Mann erstreckte sie sich von einem Geschwür des rechten Unter-
schenkels aus längs des ganzen Lymphgefässstrangs bis zum Ligamen-
tum Pouparti , dieselbe Ausdehnung zeigte sie bei einem 67jäbr. Mann,
bei welchem von einer Excorialion am Unterschenkel aus ein wandern-
des Erysipel mit Blasenbildung und oberflächlicher Gangrän sich ent-
wickelt hatte. In zwei Fällen fand sich eitrige Lymphangitis des sper-
matischen Gefässslrangs neben Diphtherie des puerperalen Uterus und
weit verbreiteter eitriger Peritonitis. Es gehört hieher endlich ein Fall
von Periarteritis umbilicaUs bei einem Neugeborenen, bei welchem der
Tod durch Blutung in den Arachnoidealraum des Rückenmarks erfolgte.
Es ist hier der Befund bei einer früher schon erwähnten 55jährigen
Irren anzureihen, welche ein Neurom des linken N. peronaeus und eine
weit verbreitete Veränderung im Rückenmark hatte. Nebem eitrigem
Katarrh der Scheide und des Ulerus fanden sich die oberflächlichen
Lymphgefässe an der hinteren Wand des letzteren sowie jene des rechten
spermatischen Gefässstrangs varicös erweitert , die einzelnen Ectasien
Beoliiicliliiiiufii ili's piiilinloüisclicii liisliliits /,ii Ini.i im liiliri' 186(5, 1 (> I
llhei" seiifkorniiioss, (lilIln^^iln(liü„ mil einer zienilieh lesleii gelblichen
(luieliscIieinendtMi (lolloidiuiisse gi-lüill. Diese inei-kwilrdige Anomalie
wird im Zusainmenliang mil der ganz analogen Veränderung derGei'iiss-
seheiden ilesRiUkeninarks im speciellen Theil niihei" besprochen werden.
R e s p i I' a t i n s s y s t e m.
llnlei- den Erkrankungen dieses Syslems steht an Häufigkeit oben
iiu erupöse Pneumonie; ihr erlagen I • i Individuen oder I I " y. Nur in
einem Fall, hei einem :{:^jähr. Mann, hatte ausgedehnte Hepatisation
beider Lungen dtMiTotl herbeigel'ilhrt, ohne ilass anderweitige Verände-
rungen im Körper vorhanden gewesen vsären. In allen übrigen Fällen
war die l'neumonie in Individuen aufgetreten, deren Constitution durch
anderweitige Erkrankungen bereits deteriorirt war: vier von den Fällen
betrafen Irre, je /.wein)al waren tubuläre Nephritis und rundes Magen-
geschwür, je einmal Üy.senlerie, Echinococcus der Leber, Pyelonephritis,
Aneurysma der Aorta, Insufrtcienz der Bicuspidalis, Synechie der Pleu-
ren neben marastischem Emphysem und chronischer Bronchitis als
Complicationen vorhanden. Kein Fall kam vor dem dreissigsten Jahre
7ur Beobachtung; das weibliche Geschlecht lieferte ein genau doppelt
-SO grosses Conlingent als das männliche. Die Vertheilung desProcesses
auf die verschiedenen Abschnitte beider Lungen war dei'art, dass
lünfmal beide Inlerlappen, viermal doi- rechte ünlerlappen, dreimal der
linke Oberlappen, zweimal die ganze linke Lunge und nur (>inmal der
linke Intfü-lappen allein betroffen war.
An HäufigkeilVlie nächste Form ist die Bronchopneumonie; sie lie-
t'iMte 12 Todesfälle oder S. '^"q. Man kann die hieher gehörigen Fälle
in zwei Gruppen abtheilen. Die eine umfasst die Bronchopneumonien,
welche vorwiegend dem kindlichen Aller angehören und durch das
Lebergreifen von einfachem Katarrh oder Diphtherie der Bronchien auf
die Terminalbläschen herbeigeführt werden. Hieher gehören 9 Fälle:
einer bei einem einjährigen Mädchen nach Diphtherie, zwei nach Masern,
zwei nach Keuchhusten neben tubulärer Nephritis, drei bei rachitischen
Kindern, dazu kommt ein Fall bei einer (iOjähi-. iM'au , weicheneben
Kmphvsem intensiv enBronchialkalarrh mit bronchopneumonischenHeer-
den darbot. In die zweite Gruppe gehören jene Fälle, bei welchen ge-
wöhnlich in Folge sollkommener od(M- unvollkommenei- Lähmung dei-
Schlingmuskeln Fremdkörper in die Bronchien gelangen und dort iheils
auf mechanischem iheils auf chemischem Wege heftigere Katarrhe mit
peripherer Ausbreitung hervoirufen. Diese Form fand sich in drei Fäl-
len : bei einem iSjähr. Mann mit diffusem Sarkom des Coi'pus callosum.
Hau.i n.J. i\
1B2 - Wilhelm Müllor.
ferner bei zwei Irren, in beiden Fällen inil pulrider Zersetzung des In-
fi) trals.
An die Bronchopneumonie reiht sich an ihre gewöhnliche Folge,
die chronische Pneumonie mit Bronchialerweiterung. Sie fand sich in
sieben Leichen = •'). I %• ''^ niehroren dieser Fälle waren die Lymph-
drüsen im Lungenhilus in höherem Grade verändert: zweimal hatte
narbige Schrumpfung derselben zu Stenose von grösseren Bronchien
und Lungenartorienzweigen Anlass gegeben, in einem dritten Fall war
durch Vereiterung einersolchen gleichzeitigerDurchbruch in einen Haupt-
bronchus und in die Lungenarterie zu Stande gekommen mit tödtlicher
Blutung. Die Fälle werden mit einigen analogen im speciellen Theil
ausruhrlich geschildert werden.
Höhere Grade von Emphysem fanden sich bei fi Individuen. In
allen diesen Fällen war neben der chaiakteristischen Veränderung der
Terminalbläschen alter und frischer Bronchialkatarrh, hochgradige End-
arteritis in Aorta und Lungenarterie und Erweiterung des rechten
Herzen zugegen. In 4 Fällen konnte der Tod lediglich der recenten
Steigerung des Bronchialkatarrhs zugeschrieben werden, welcher einmal
mehrfache bronchopneumonische Verdichtungen herbeigeführt hatte.
In zwei Fällen halte sich zu dem Emphysem Thrombose des Herzens
mit ihren Folgen gesellt, in einem derselben, einer i7jähr. Frau, neben
rechtsseitiger eitriger Pleuritis.
Pigmenthypertrophie massigen Grades fand sich in den Lungen
einer 8ojähr. F>au im Anschluss an Insufficienz der Bicuspidalklappe
und Stenose des linken Ostiuui venosum.
Eitrige Pleuritis fand sich, von den ganz leichten die Pneumonieen
begleitenden Formen abgesehen, in 10 Fällen = 7. I %. Nur in einem
Fall, bei einer 47jähr. Frau, bei welcher eitrige Pleuritis neben Lungen-
emphysem und Herzthrombose beobachtet wurde, blieb die Entstehungs-
art dunkel, in allen übrigen Fällen war die Pleuritis secundär entstanden
und zwar dreimal im Anschluss an embolische Lungenabscesse, zweimal
im tuberkulöse Lungeneiterung und an Perforation des Zwerchfells von
der Leber aus, je einmal an Bronchiektasie und Rippenbruch. Der letz-
tere Fall ist von Interesse wegen derEigenthümlichkeit seines Verlaufs.
Bei einem 'iOjähr. Irren hatte während der Anwendung des Zwangs-
stuhls der Knorpel der rechten zweiten Rippe von letzterer sich abgelöst.
Es kam zu Eiterbildung an der Bruchstelle und da allseitige ziemlich
feste Verwachsung der rechten Lunge die Entstehung einer Pleuritis
verhinderte, zu einem Abscess im vorderen Mediastinum, welcher sich
in die linke Pleuraliöhle öffnete.
Die Residuen abgelaufener Pleuritis fanden sich in Form ausge-
Beobaehtiiiiüt'it tlos iiallioloüistlioii Iiisliliils im Iciiü im .lahio 186fi. \{V.\
(lehnternr Verwachsungon beider Biälter in i;i [.eichen = :n . ^^'/\,.
D.iNon waren 2(1 Miinnei" und 17 Frauen. Ks war deninnch das männ-
liche (ieschleclil untileieh häulim'r Processen unterworfen, welche mit
heträchtUcherer Reizung derPhniren verbunden sind, als das weibliche,
w ie dies die Vei'schiodcMdicil des Berufs von Nornlieiein wahrscheinlich
erscheinen lässl.
Es ist hier noch eines seltenen Leichenphänomens zu erwähnen,
welches bei einem halbjährigen an Intussusception verstorbenen Mäd-
chen sich fand. Magen und Dünndarm waren beträchtlich ausgedehnt
und mit reichlichen Mengen grünlich-gelber Flüssigkeit gefüllt, die
Wandungen des ersleren im Fundus hochgiadig gallertig erweicht.
Beide Lungen voUkonunen frei, die Pleurahöhlen leer, der Pleiira-
über/ug glaü und glän/end abei- an mehreren Stellen namentlich der
rückwärts liegenden Parthien eigenthümlich grünlich missfarbig. Die
Verfärbung erstreckte sich auf eine Anzahl Heerde des unterliegenden
Lungenparenchyms, welches in deren Bereicli iheils emphysematös
und hochgradig erweicht, theils geradezu in einen grünlich braunen
missfarbigen Brei verwandelt war. Diese Parthien der Lungen enthielten
gleich den zuführenden Bronchien und der Trachea dieselbe Flüssigkeit,
welche in Magen , Oesophagus und Rachen in reichlicher Menge sich
vorfand. Das Zwerchfell erwies sich inlacl. Ich kann in diesem Befund
Nichts sehen als eine cadaveröse Erweichung der Lungen, bedingt durch
das Eindringen von verdauungsfähigem Mageninhalt in die Bronchien
während der Todenstarre. Diese Ansicht gründet sich 1) auf den Mangel
jeder Reaction seitens der Pleuren, 2) auf die gleichzeitige Erweichung
des Magens, '■)) auf die Uebereinstimmung der in beiden analog verän-
derten Organen enthaltenen Flüssigkeit.
Digestionssystem.
In erster Linie sind die Lageänderungen der in der Bauchhöhle
liegenden Theile dieses Systems zu erwähnen.
Prolapsus ani fand sich bei 2 Frauen, er hatte in einem Fall das
disponirende Moment zur Ansteckung mit Dysenterie abgegeben.
Hernien waren in 8 Individuen vorhanden = 5. 8%, hievon waren
vier rechtsseitige Leistenbrüche, sämmtlich bei Männern, zwei links-
seitige Leistenbrüche bei einem Mann und einer Frau, bei letzterer
neben rechtsseitigem Schenkelbruch; aus.serdem fanden sich noch bei
zwei Frauen rechtsseitige Schenkelbrüche, wovon einer die Hernio-
lomie nothwendig gemacht hatte mit ungünstigem Ausgang. In einem
164 Wilhelm Müller.
(lieser Fülle fanden sich nebenbei noch zwei leere Bruchstücke in) Ca-
nalis obturalorius.
Innere Einklemmung war dreimal eingetreten: ein halbjähriges
Mädchen halle Inlussusception des lleumendes undCoecum in dasColon
ascendens.
Bei einer (I.Sjähr. Frau fand sich Kinklennnung einer Ileum-
srhlinge durch eine gesj)allent' Pseudoniend)ian , die von einer Cyste
im rechten breiten Muiterband gegen das Parietalperilonäum in der
liegend der rechten Synchoruirosis sacro-iliac-a sich erstreckte.
Besonders complicirl gestaltete sich dei- Befund l)ei einer (iOjährigen
iiau, welche wie die beiden vorigen unter den Erscheinungen deslleus
gestorben war. Es fand sich neben frischer Peritonitis das Duodenum
und der obere Theil des Jejunum betrachtlich ausgedehnt, das Lumen
mit einer enoi'uien Masse gelblich-grauer fäculenliiechender Flüssigkeit
erfüllt. Das Ende des Jejunum an einer umschriebenen Stelle sowohl
mit der vorderen Wand des Mesenteriums nahe dessen Anheftung als
mit einer anliegenden Ileumschlinge massig fest verwachsen. Das
lleum an der verwachsenen Parlhie in Folge alter Adhäsionen mehrfach
winklig geknickt. Die zwischen den verwachsenen Stellen liegende
I ;^() (4entimeter lange Parlhie des Darms dunkelblauroth, stellenweise
blutig suffündirt, allenthalben die Spuren alter Hyperämie in Form von
schiefriger Pign)entirung und Verdickung der Wand mit zahlreichen
ßindegewebsvegelationen zeigend. Die Verwachsung leicht trennbar,
nach ihrer Trennung kommt eine groschengrosse Tlceration der vorderen
Platte des Mesenteriums zum Vorschein, welcher analoge Ulcerationen der
anliegenden Darmschlingen entsprechen. Jene des Jejunum zeigt sich
auf die Serosa beschränkt, jene des lleum ist mit einer schmalen Per-
forationsöflnung versehen, diu'ch welche ein 'i Gentimeter langer Zahn-
stocher von Bein , un)geben von bräunlichem übelriechenden Eiter, in
die uicerirte Parlhie des Mesenteriums hineinragt. Letzteres verkürzt
und zwischen der Stelle, an welche)' die Perforation stattgefunden halte
und derDarminsertion zu einem halbfaustgrossen Tumor angeschwollen,
dessen Substanz iheils blulig iheils eitrig infiUrirl ist und mehrere blutig
suffundirle geschwollene Drüsen einschliesst. Nebenbei umfangreiche
Leisten- und Schenkelbruchsäcke, deren Inhalt augenscheinlich lange
Zeil hindurch das jetzt retrahirte lleum gebildet hatte.
lu zwei Leichen fanden sich Divertikel der vordem Oesopliaguswand
im Ni\eau der Trachealbifurcalion im Anschluss an narbigen Schwund
der anliegenden Lymphdrüsen.
Chronischer Magenkatarrh fand sich als Complicalion der verschie-
densten Processe in I <S Leichen = 13. 3 7y und zwar gleich häufig bei
Männern und Frauen.
Beobacliliingen des patholngisrlioii liisfiiiils ?,ii lona im Lihr? 1^66, 16ö
Das chronische Magengeschwür und seine Residuen wurde in 10
Fjillen beobachtet = 7. i "/o- ^'^ gewöhnlich stellte das weibliche
fiesrhlecht ein viel belräehlliehcics Contincenl als das männliche 'T:^:.
In neun von diesen 10 Fällen waren es die cliaraklerislisclien Narben,
welche die frühere Anwesenheit des Processes documentiricn. nur bei
einei- 'i.ijährieen Frau fand sich eine sanduhrförniige Verenizernng durch
eine alte Narbe neben einem frischen Geschwür. Bemerkcnswerth jst,
dass mit einer Ausnahme . welche den Fundus betraf, stets dieselbe
Stelle des Magens Sitz der Veränderun!j: war: die hintere Wand in der
Mitte zwischen P\lorus und Cardia nahe der kleinen Curvatur.
Eine interessante Form der Wurinfortsatzperforation wurde bei
einem TKJähr. Mann gefunden. Der Processus vermiformis war 'i Mm.
vor seinem etwas erweiterten Ende mit der vorderen Fläche des lleum
nahe der BAinixschen Klappe verwachsen und mtnidete durch eine
schmale seitliche \ on einem gewulsteten Schleimhautrand umgebene
Fistel in letzteren ein. Seine Schleimhaut war im Zustande chronischen
Katairhs.
Chronischer Darmkalarrh fand sich abgesehen von den Fällen , in
welchen er tuberkulöse Verschwärung der Darmschleimhaut begleitete,
bei lo Individuen, 5 Männern, (i Frauen: er fand sich in .{Fällen neben
Carcinose verschiedener Organe, eben so oft imAnschluss an chronische
Nephritis, in i Fällen trat derselbe als Theilerscheinung allgemeiner
Venenstauung auf.
Eine beschränkte Epidemie von Dysenterie, welche im Herbst auf-
trat, lieferte 7 Todte. Schon im August war ein Mann aus der Naum-
burger Gegend in das Landeskrankenhaiis aufgenommen worden, wo
rr nach kurzem Aufenthalt dei- Erkrankung erlag. Im October wurde
ein zw eitel' Fall aufgenonmien und wegen des Ausbruchs von Delirium
tremens auf die Irienabtheilung transferii-t. Daselbst haftete das Conta-
gi\nn und latfte zwei Angehörige dieser Anstalt hinweg. In derselben
Zeit starben in der gerade gegenüberliegenden Entbindungsanstalt zwei
Neugeborene an der gleichen Erkrankung. Ein siebentei- Fall kam in
einem benachbarten Dorfe vor, er war gleichfalls aus der Umgegend
von Naumburg eingeschleppt. Die Erkrankung erstreckte sich bei einer
der Irren auf das ganze lleum und den Dickdarm , ersteres mit einer
dicken in Zusanunenhang ablösbaren gelblichen Crupmembran über-
ziehend. Bei einem der Neugeborenen beschränkten sich die Belege
im Ileuih auf die PEYER'schen Drüsen neben ausgedehnter Diphtherie
des Colon.
Es ist hier der Fall eines :i;}jähr. Arztes anzufügen, welcher
in den Tropen einen umfangreichen Leberabscess mit Durclibrucii in die
rechte Pleurahöhle acquirirt hatte. Es fanden sich im Dickdarm neben
1 66 Wilhelm Müller,
schiefriger Pigmentirung der Schleimhaut zahlreiche sliahlige Narben
als Residuen einer abgelaufenen Dysenterie.
Eschinococcen der Leber kamen zweimal zur Beobachtung: bei
einem njähr. Mann mit Perforation in die rechte Pleurahöhle und eitriger
Pleuritis, bei einer 57jähr. Frau mit Perforation in die Gallenwege und
terminaler Pneumonie. Im letzteren Fall war es zu mehrfachen sack-
förmigen Ektasien der Gallengänge innerhalb der Leber gekommen,
welche sich ferner auch bei einem Mann mit Krebs des Nierenbeckens
und der Lymphdrüsen um die Leberpforte vorfanden.
Gallensteine fanden sich in 1 1 Individuen = 8. 1 "^/o. Auch hier
stellte das weibliche Geschlecht mit 9 Fällen das ungleich grössere
Gontingent.
Bei einer 64jähr. an Epitheliom der Blase verstorbenen Frau fanden
sich zahlreiche Stecknadelkopf- bis erbsengrosse gelbe käsige Einlage-
rungen in die Bindesubstanz zwischen den einzelnen Läppchen des
Pankreas, wahrscheinlich die Residuen früherer Eiterbildung im inter-
stitiellen Bindegewebe der Drüse imAnschluss an hochgradigen Katarrh.
Die Schleimhaut des Duodenum zeigte ausser schiefriger Pigmentirung
keine Veränderung.
Eitrige Peritonitis fand sich in 8 Fällen, stets als secundärerProcess
und zwar dreimal im Anschluss an innere Einklemmung , zweimal an
Diphtherie des puerperalen Uterus, je einmal an Bruchschnitt, Darm-
perforation durch Dysenterie und Uterusruptur.
Uro poetisches System.
An Wichtigkeit steht unter den hier abzuhandelnden Erkrankungen
die Nephritis obenan. Man kann 3 Formen unterscheiden. Die erste
begreift jene Fälle, welche wesentlich durch Veränderungen in der epi-
thelialen Auskleidung der Harncanälchen charakterisirt und bei acutem
Verlauf als crupöse Nephritis, bei chronischem als Fettniere bezeichnet
werden : für sie empfiehlt sich der von Dickinson vorgeschlagene Name
der tubulären Nephritis. Die zweite umfasst jene Fälle , bei welchen
neben den Veränderungen des Harncanälchenepithels, welche mit jener
der vorigen Form identisch sind , eine Wucherung der interstitiellen
Bindesubstanz der Niere zustande kommt, wodurch diese narbigen
Schwund verschiedenen Grades erleiden kann. Man wendet auf diese
als Cirrhose oder Granularatrophie der Niere bekannte Form zweck-
mässig die Bezeichnung der interstitiellen Nephritis an. Sie ist die ge-
wöhnliche Form bei Gichtischen; sie ist noch häufiger eine Folge der
katarrhalischen Nephritis d. h. einer vom Nierenbecken aus auf die
Beobaclitiiiigen des pntliologischen lusiituis zu leiia im .lahre 1866. 167
FlarncanäJchen sich fortpflanzenden EpilheliaKvucherung, denn nur in
dieser Auflassung erhält überhaupt die Bezeichnung »katarrhalischr
Nephritis« eine bestimmte und klare Bedeutung. Auf Grundlage dieser
Form entwickelt sich in der Regel die dritte, die suppurative Nephritis,
charakterisirt durch Eiterzellenbildung im interstitiellen Bindegewebe
des Organs.
Die acute Form der tubidären Nephritis wurde in o Fällen beob-
achtet: je einmal neben Diphtherie und Masern, zweimal neben Keuch-^
husten : in beiden letzteren Fällen waren Concremenle im Nieren-
becken nnd war der Tod unter den gewöhnlichen Erscheinungen der
Urämie erfolgt. Bei einer 3! jähr. Frau hatte sich die Erkrankung zwei
Monate vor dem Tod unter Oedemen entwickelt. Es fand sich neben all-
gemeinem Hydrops und der charakteristischen Veränderung der Niereu
eine linksseitigi^ Pneumonie und frische Endocarditis der Bicuspidalklappe.
Die chronische Form der tubulären Nephritis, sog. Fettniere,
kam dreimal zur Beobachtung: zweimal neben Caries, einmal neben
recenter Tuberkulose.
Interstitielle Nephritis fand sich im Anschluss an chronischen Ka-
tarrh des Nierenbeckens bei 2 Frauen, in einem Fall doppelseitig, im
andern auf die rechle Niere beschränkt. Unabhängig hievon fand sie
sich i)ei einem iojähr. Mann. Das Krankheitsbild war hier sehr dunkel
gewesen : öftere schmerzhafte Anschwellungen der Gelenke, fortschrei-
tende Abmagerung und Blässe, zum Schlüsse unstillbare Blutungen
aus Mund und Nase neben Coma und Convulsionen. Die Nieren fanden
sich auf V4 des Normalvolums reducirt , exquisit granular-atrophisch,
die Malpighischen Körper zum Theil kxstomatös erweitert mit Abplattung
der enthaltenen Gefässrudiniente . die Harncanälchen theils verengt,
mit fettigem Detritus und hyalinen Cylindern erfüllt, theils erweitert und
in beginnender Cystenumwandlung. Der Urin hatte bei einmaliger
Untersuchung keinen Eiweissgehalt darseboten.
Der suppurativen Nephritis erlag ein 41 jähr. Manu, welcher in
Folge eines Blasenst«ins schon längere Zeit an interstitieller Nephritis
gelitten hatte und \\enige Tage vor seinem Tod der Lilhotoniie unter-
worfen \Norden war.
Amyloiddegeneration der Niere fand sich in o Fällen : zweimal
neben Uleruskrebs, zweimal neben Tuberkulose. (Mumal neben Pyelitis.
Kalkinfarcle in den Pyramiden wurden bei i fast gleichaltrigen
<>i— 67 Jahr) Individuen beobachtet; in keinem Fall war eine Bezie-
hung zu Veränderungen im Knochensyst«m nachweisbar.
Kat<trrh des Nierenbeckens fand sich in massigem Grade l.»ei drei
Irren und einem Tuberkulösen ; in keinem dieser Fälle fehlten die Er--
16S . Wilhelm Malier,
scheinungen des chronischen Katarrhs in Blase und Urethra. Hochgra-
dige eitrige Pyelitis fand sich bei zvNci Frauen neben eitrigem Blasen-
katarrh, in dem einen Fall auf die rechte Niere beschrankt, f^ombinirt
mit Hydronephrose fami sie sich bei einer i Ijähr. Frau, deren linkes
Nierenbecken durch ein im Ureteranfang festsitzendes Concrement her-
inetisch abgeschlossen wai', während das rechte mehrere freie Concre- j
mente enthielt. Beide Nieren waren in kopfgrosse Säcke verwandelt, ^
das Parenchym bis auf geringe Reste geschwunden, die enthaltene Flüs-
sigkeit eitergemischt und ilbelriechend.
Bei i FraucMi hatte sich im Anschluss an Epitheliome des Uterus
mit Corapression eines odei- beider UreU^ren Hjdronephrose entwickelt.
Es ist hier noch ein Fall abnormei- Beweglichkeit und Tiefstandes
der rechten Niere mit Ausbildimg eines kurzen Mesonephrons zu er-
wähnen, welcher sich bei einer 69jähr. Frau fand.
Genitalsystem.
Granulöser Katarrh der hinteren Parlhien der Urethra fand sich bei
o Männern, worunter 3 Irre und I Tuberkulöser. In zwei von diesen
Fällen machte schiefrige Pigmentirung der Samenblasen mit bräunlich-
gelber Färbung der enthaltenen Flüssigkeit deren Betheiligung an dem
Process wahrscheinlich.
Katarrh der weiblichen Genitalschleimhaut war in 1 I Individuen
nachweisbar = 8. 1 " o> "^ "^ Fällen zugleich mit Schwellung und er-
heblicher Verlängerung des Cervix. Bei einer <i9jähr. Frau fand sich 9
im Anschluss an croupöse Pneumonie ein gelblicher in Zusammenhang
ablösbarer Croupbeleg in Uterus und Vagina neben beträchtlicher Röthe
und Schwellung der unterliegenden Schleimhaut.
Diphtherie des puerperalen Uterus fand sich in 5 Fällen, stets be-
gleitet von eitriger Peritonitis, in 2 Fällen zugleich von eitriger
Lymphangitis im Plexus spermaticus.
Lageänderungen des Uterus kamen in N Individuen zur Beobach-
tung = ö. 9*^/0 und zwar 1 Vorfall, I seitliche Beugung, 6 Rückwärts-
neigungen und Beugungen. Alle diese Individuen gehörten dem reiferen
Alter an.
Haut.
Es ist hier ein Fall von Wunddiphtherie seiner Complication wegen
zu besprechen. Bei einer 5:{jähr. Frau war wegen eines umfangreichen
Sarkoms der rechte Oberschenkel im unteren Drittheil amputirt worden.
Bpobarhlniicpii des patholooisrhpii InsiiliHs 7.11 .Ipiia im lahre 1866. 169
Es slellle sich inKoini (Miies graugelblichen fcslsiU«Mi(len übelriechenden
Belegs Wuntldiphtherie ein . welcher die Kranke erlag. Es fand sich
ausser der Wundaffection iiochgiadiger granulöser Katarrh dos Uterus,
der Blase und des rechten Meienbocken ; in allen diesen Theilen fanden
sich inselförnuge Grouphelege , vv.lhrend die normale Schleindiaut des
linken Nierenbecken \on der Aftection vollständig verschont blieb.
Hewegun gssysteni.
Bei einer Hijähr. Irren fand sich eitrige Bursitis patellaris ohn?
Coff)munication mit dem (ielenk. Die Wandung des Schleimbeutels war
hochgradig verdickt, sehr gefiissreich und mit /.ahlreichen bis erbsen-
grossen wuchernden Granulationen besetzt, der enthaltene Eiter dick,
gelblich und übelriechend.
Bei einem Hjähr. an chronischer tubulärei' Nephritis verstorbenen
Mann fand sich Eiterung des rechten Kniegelenks neben solcher am
Periost des Oberschenkelknochen ; der letzlere in seinem unteren Drit-
theil beträchtlich verdickt, von auffallend compacter Beschaffenheil , in
der Mitte scierotischen Gewebes zwei <'twa kirschengi'osse vollkommen
glaltuandige mit Eiter gefüllte Höhlen enthaltend, welche durch Fistel-
gange mit den anliegenden Abscessen und der Oberfläche der Haut
comnuinicirten. Der weitere Befund ergab keinen .4nhall für die Ver-
muthung, dass hier das Resultat constilutioneller Syphilis Norgelegen
habe.
Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1867.
Allgemeiner Theil.
■%
Vom 1. Januar bis 31. Decemberl867 wurden vom pathologischen
Institut zu Jena 148 Leichen secirt. Die Haupltodesursachen ergibt nach-
stehende Uebersicht:
Todesursache
0—1 2—10
11—20
21 -SO
81—40
41—50
51—60
I
61—70
71—80
Tuberkulose
der Lungen ....
» Knochen . . .
» Nieren ....
des Bauchfells . .
der Hirnhäute . .
Carcinom
der Brustdrüse . .
des Colon
Epitheliom
des Magens ....
der Mundhöhle . .
des Uterus ....
Sarkom
des Gehirns . . .
der Schilddrüse .
» Lungen . . .
Syphilis
Typhus
Erkrankungen des
Nervensyst.
Pachymeningilis .
Leptomeningitis .
Hydrocephalus . .
Vulnus raedullae .
Erkr. des
CirculationssNSl
Endocarditis . . .
Adiposis cordis . .
Phlebitis. ...
Arteritis
Insolation ....
—
2
1
1
1
li
1
1
1
—
i —
L
2
1
1
-
-
2
1
2
1
1
1
1-
i 2
2
1
2
1
1
1
1
3
1
~
—
-
1
1
1
2
1
1-
1
1
1
1
-
3
1
z
1
1
1
i
2
1
■ 2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
29
12
3
4
6
14
Beobaclitiiiit2:eii des patholothsclieii Instituts zu .leiia im Jahre 1867.
Todesursache
0—1
2—10
41—20
1
1
24—30
1
34—40
44—50
54—60
64—70
74—80
Erkr. d. Respirats.
Diphtheria ....
Pneumonia crup.
ßronchopneum. .
Pneumonia chron.
Emphysema . .
Pleuritis
Asphy.\ia
Erkr. des
Digestionss.
Catarrh.gastro-int.
Dysenteria ....
Ulcus rotund. . .
Perfora tio proc
verniiform. . .
Peritonitis ....
Incarcerat. hern.
Volvulus
Erkr.d.uropoet.S.
Nephritis tubul. .
» interstit.
» suppurat.
Diabetes
Erkr. d. Genitals.
Adhaes. placentae
Diphth. ut. puci^p.
Erkr. der Haut
Erysipelas ....
Phlegmone ....
Erkr. des
ßewegungss.
Kract. tibiae . . .
» costarura .
Vergiftung ....
Verhungert ....
5
1
4
i
1
3
1
3
_
1
1
4
1
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
5
4
1
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
4
2
2
1
4
4
4
4
~
4
4
4
1
4
4
34
20
9
8
3
4
4
4
17
8
3
4
4
5
4
8
.9
10
13
7
4
7
4
13
1
5
7
45
~2
8
43
5
0~
9
448
Tuberkulose
wurde in :?'.* Leichen conslatiit = 19. 6*'{,. Sic führte in 28 Fällen
(lirccl zum Tode, in (> Fällen durch Coniplicjitionen und z\n>h- dreimal
durch PcrlorHlion der Lungen mit darauf folgendiMu Pneumothorax.
KNveiiual durch Perforalion des Darms nnt darauf folgender Peritonitis.
Bei einem .j3iähi-. Mann war es im (iefolge \on tuberkulöser Caries des
i. und 3. Lendenwirbels zu umschriebener l'erforalion der Diua maler
spinalis gekommen mit nachfolgender bis in dieHirnhOlilen verbreiteter
eitriger Leplomeningitis.
172 Wilhelm Müller,
In 1 Fällen fanden sich neben der Tuberkulose Processe , welche
das disponirende Moment zu ihrer Entwicklung abgegeben haben konn-
ten und zwar dreimal Syphilis, zweimal chronische Pneumonie und fä-
cale Concremente im Wurmfortsatz, je einmal Manie, Diabetes, Ulcus
rotundum.
Von bemerkenswerthen Beobachtungen , zu vNelchen die Tu-
berkulose Anlass gab , hebe ich heraus das gleichzeitige Vorkommen
alter theiis verkäster theils vcrkreideter bis erbsengrosser Tuberkel in
der Pia derHirnoberflächc neben frischem miliaren Nachschub bei einem
28jähr. Mann und J.Jjähr. Mädchen.
Bei einem '(6jähr. Mann zeigte sich der Kehlkopfeingang xladurch
deform, dass die rechte Cartilago corniculata mit der überziehenden
Schleimhaut der vorderen Fläche der Gart, arytaenoidea auflag. Es fand
sich an der Basis der letzteren ein linsengrosses zackiges Geschwür,
welches die Schleimhaut nach oben unlerminiit und die vordere Parlhie
des Bandapparates zwischen Cart. arytaenoidea und corniculata zerstört
hatte, wodurch letztere ihrer Schwere folgend nach vorne und abwärts
gesunken war.
Bei einem I9jähr. Mann fand sich eine stecknadelkopfgrosse von
einem schwarzen Pigmenthof umgebene Oeffnung im rechten Haupt-
bronchus, aus welcher bei Druck Eitei- sich entleeile. Die Präparation
zeigte, dass eine anliegende tuberkulöse Lymphdrüse vereitert und in
den Bronchus durchgebrochen war.
In zwei Fällen fand sich neben w eit verbreiteter Tuberkulose Ver-
schwärung der Oesophagusschleimhaut. Bei eine«- :i4Jähr. Frau war
letztere im Anfangsthcil von spärlichen, im weiteien Verlauf von zahl-
reichen rundlichen und zackigen bis groschengrossen Geschwüren be-
setzt, deren Bänder glatt, deren von der Submucosa gebildete Basis hie
und da durch netzförmig vorspringende Bindegew cbszüge uneben war.
Die zwischenliegende Schleimhaut war flach gewulstet und mit ver-
dicktem Epithelüberzug versehen. Die Uebereinstimmung dieser Ver-
schw'ärungen des Oesophagus mit zahlreichen gleichzeitig vorhandenen
in der hinteren Wand dei- Trachea war unverkennbar. Auf das untere
Drittheil des Oesophagus beschränkt wurde derselbe Befund bei einem
19jähr. Mann beobachtet. In letzterem Fall waren längere Zeil hindurch
Schmerzen beim Schlingen vorhanden, welche constanl im unteren
Theil des Oesophagus angegeben wurden und von dem behandelnden
Arzt, Geh. Hofrath Biku, schon während des Lebens mit Wahrschein-
lichkeit auf eine Verschwärung der Oesophagusschleimhaut bezogen
worden waren.
Bei einem 27jähr. Mann war es imAnschluss an inveterirte Syphilis
Beobachtiiii^t'ii (Ips iiatlutlouisclipii Inslitiits 7,11 .Ipiih im .lalire 1867. 17H
und alte Tuberkulose der Lungen und I^ymphdriisen /u acuter Tuber-
kulose gekonunen. welche sich aui' das Peritonäuni beschi-jlnkle.
Tuberkulose der Meren in Form discreter Knoten fan(i sich bei
einem i2jjihr. Mann. In inhltrirter Form und zwar von den Spitzen
einzelner P\rainiden aus auf deren Basis und die Kiiulensubstanz übei-
tii'eifend fand sie sich bei einem lOjähr. und einem ^tSjähi-. Mann, bei
letzlerem mit Bildune; einer umfangreichen Caverne. In beiden Fällen
warder Process auf die rechte Niere unti den rechten Ureter beschränkt:
es fanden sich in letzteiem und dem Nierenbecken, in Blase, Prostata
und den hinleren Parthien der Urethra theils frische Tubeikelknötchen,
iheils rundliche und zackige Geschwüre neben hochgradigem chronischen
Katarrh. In beiden Fälh^n waren Vas deferens. Nebenhode und Hode
beiderseits vollkommen frei geblieben.
K r e b s.
Zwei Fälle von Uarcinom der Brustdrüse boten übereinstimmenden
Befund: Oertliches Recidiv an der Operationsslelle, secundäre Carcinoma
in den Achseldrüsen, Kippen, Pleuren, Lungen und der Leber.
Bei einei- 73jähr. Frau fand sich ringförmiges Carcinom des Colon
transversum neben solchem beider Eierstöcke , dabei acute Carcinose
des Peritonäum.
Epitheliale Neubildungen.
Pflaslerepitheliom des Uterus, vom Scheidegewölbe ausgehend, fand
sich bei einer iHjähr. Frau. Die Neubildung hatte in ausgedehnter
Weise auf die Blase am Trigonum übergegriffen und sowohl eine ab-
norme Comnmnication mit dei- Vagina als doppelseitige Hydronephrose
herbeigeführt. Das Rectum war bis auf einige submucöse Knötchen
frei ; dagegen fanden sich secundäre Epitheliomknoten in den retrope-
rilonäalen Lymphdrüsen und der Leber.
Bei einem .5K jähr. Weib hatte ein ausgedehntes Ptlasterepilheliom
der Mundhöhle zu Kntfernung der linken Unterkieferhälfte Anlass ge-
geben. Nach dem i Wochen später an Bronchopneumonie erfolgten
Tod zeigte sich der ganze weiche Gaumen von der Neubildung substi-
tuirt, welche sich längs der linken beiden Gaumenbögen bis zum Kehl-
deckel eistreck le und iheil weise in die Zungenbasis übergriff. Die be-
nachbarten L\mphdrüsen waren frei geblieben.
Drei Fälle von Cylinderepitheliom fanden sich im Magen, zwei im
Pylorustheii bei einem fiOjähr. Mann und einem Tijähr. Weib, ein dritter
174 Wilhelm Mfiller.
in der Nähe der Cardia bei einer iSjälir. Frau. In den letzteren beiden
Fällen war die Neubildung auf den Magen Ijeschränkt, im ersteren waren
die Lymphdrüsen um Magen und Leberpforte und die Leber selbst von
zahlreichen secundären zuniTheil sehr grossen Epitheliomknoten durch-
setzt. Das Resultat der methodischen Untersuchung dieses Falls wird
der specielle Theil bringen.
Bei den Adenomen ist zu erwähnen die sog. Hypertrophie der Pro-
stata. Sie fand sich in höherem Grade bei o Individuen, stets im An-
schluss an chronischen Katarrh der hinteren Parthien der Urethra und
mit Bildung eines sog. mittleren Lappen. Die Untersuchung voq dreien
dieser Fälle und die eines früheren , in welchem die Prostata im An-
schluss an einen alten periurethralen Abscess über apfelgross war, hat
ergeben, dass an der Bildung des mittleren Lappen , welcher in einem
Fall über wallnussgross und deutlich abgegrenzt war, eine Neubildung
von Drüsenbläschen den wesentlichsten Antheil hatte. Nur in einem
Fall trat das Drüsengewebe gegen die verdickte Musculatur zurück.
Vergrösserungen der Schilddrüse in Form der verschiedenen Modi-
ficationen des Kropfs wurden in 27 Individuen angetroffen = 18. S'Vo.
Auch in diesem Jahre stellte das weibliche Geschlecht mit 1 6 Fällen das
grössere Contingent.
Kystome der Nieren fanden sich bei 7 (4M., 3 W.) , solche der
Ovarien bei S Individuen , von letzteren eines mit derraoidem Inhalt.
Bei einer 33jähr. Frau hatte ein colossales multiloculäres Kystom des
rechten Ovarium dessen Entfernung durch die Operation nothwendig
gemacht : der Tod erfolgte ö Tage später durch allgemeine eitrige Pe-
ritonitis.
Bindesubstanz- Neubildungen.
Fibrome der Uterusscbleimhaut fanden sich bei 5 Individuen, vier-
mal in Form polypöser Fibrome desCervix, im fünften Fall in Form eines
gestielten myxomatösen Fibroms des Uterusgrundes.
Myome und Fibromyome in der Dicke der Uteruswandungen kamen
in i Individuen zur Beobachtung , während Ovarium , Wandung des
Magens und der Vagina je einmal diese Neubildung darboten.
Besondere Erwähnung verdienen mehrfache flachhöckerige breit
aufsitzende bis erbsengrosse Fibrome des Ependyms derSeitenventrikel
eines r)7jähr. Mannes , welcher den Folgen des Bruchschnitts erlegen
war. Während des Lebens war kein Symptom vorhanden, welches auf
die Anwesenheit der Neubildung hingedeutet hätte. Die Weite derVen-
Beobachtungen des patliolojjisrluMi Instituts zu lenji im Jahre 1867. 1 75
trikel zeigte sich normal, die anliegende Hirnsubslanz unverändert.
Die Geschwülste waren von derber Consistenz, reinweisser l'arbe : sie
bestanden aus sehr zarten wohl ausgebildeten Bindegewebsfibrillen mit
massenhaft dazwischen liegenden starkgeschlungenen feinen elastischen
l'asern und zarten elliptischen Zcllelementen , welche stellenweise mit
Zurücktreten der Intercellularsubstanz dicht^M- zusammenlagen.
In viel grösserem Maassstabe fanden sich ganz ahnliche Geschwülste
in Form einer handgrossen 2 — 8 Mm. prominirenden Gruppe auf der
linken Costalpleura einer 60jähr. Frau, wo sie das hinlere Drittheil iles
"). bis S. Inlercostalraums bis zur Wirbelsäule einnahmen. Sowohl in
der äusseren Beschaffenheit als im Bau stimmten diese Geschwülste mit
jenen des Ependym vollständig überein.
Noch interessanter sowohl hinsichtlich der Symptome als des Be-
fundes ist die Beobachtung zweier freiliegender neben einem gestielten
Fibrom in der linken Pleurahöhle eines oSjähr. Mannes. Derselbe war
nur wenige Tage in Behandlung gewesen, die Erscheinungen waren
Präcordialangst , Puls von 18 Schlägen, Kühle der Extremitäten. Die
Section wies ziemlich beträchtliche Fettdegeneration derHerzmusculatur
nach. Im Nervensystem des Herzens wurde Nichts gefunden , was die
auffallende Pulsverlangsamung erklärt hätte: Vagus und Accessorius
sow ie ihre Ursprünge im verlängerten Mark , die sympathischen Ge-
flechte längs der Art. vertebralis sowie die Herzgeflechte selbst wurden
mit völlig negativem Resultat mikroskopisch untersucht. Nun fand sich
aber ein kirschengrosser derber freier Körper von weisser Farbe und
etwas höckeriger Oberfläche im linken Pleurasack neben der Wirbel-
säule gerade über der Zwerchfellskuppe , ein zweiter eben so grosser
gerade auf der Mitte der vorderen Fläche des Herzbeutels, während ein
dritter etwas über erbsengrossei" durch einen schmalen bindegewebigen
Stiel an die Pleura über dem i linken Rippenknorpel nahe seinem An-
satz an die Rippe angeheftet war. Im Bau stimmten alle diese Körper
sow ohi unter sich als mit den schon beschriebenen des Ependym über-
t'in. Es muss dahin gesteUt bleiben, ob die auffallende Pulsverlangsa-
mung mit der Anwesenheit der freien Körper an der vorderen und liin-
teien Fläche des Herzbeutels in Beziehung gesetzt werden kann oder ob
das Zusammentreffen beider Befunde ein zufälliges darstellt.
Bei 2 Männern fanden sich rundliche Fibrome an der Innenfläche
der Dura mater vom Umfang einer massigen Kirsche, welche wie an
dieser Localität gewöhnlich, mit concentrisch geschichteten Kalkkörnern
in)prägnirt waren. In dem einen FaU fand sich daneben ausgedehnte
\ frkalkung der Bindesubstanz selbst, in dem andren waren zahlreiche
1 76 WiHM-lm Mnllf r.
FelUellen^rupjien ume^eluiassig zwischen die Bindegewebsbündel ein-
gestreut.
Ein erbsengrosses Lipom an der InnenQäche der Nierenkapsel
fand sich bei einem 60jähr. Mann.
Kleinzellige Sarkome des Gehirn Nviirden bei ^Männern zur Todes-
ursache, ihr SiU war das einemal der linke Stirnlappen, das andremal
der Balken. Sie werden später beschrieben werden.
Ein kleinzelliges Rundzellensarkom mit Figmeutgehalt fand sich
in Form zahlreicher Geschwülste im Sternum . Meiliastinum . beiden
Pleuren und Lungen eines ^Ojähr. Mannes.
Bei einem 66jähr. Mann war die ganze Schilddrüse in ein kopf-
grosses lappiges Spindelzellensarkom verwandelt mit Perforation 'der
Trachea und zahlreichen metastatischen Geschwülsten in den Hals-
hmphdrüsen und Lungen.
Es sind endlich hier noch mehrfache Exostosen zu erwähnen,
welche sich bei einer öOjähr. Frau an Rippen. Wirbeln und der Innen-
fläche des Schädels fanden.
A n g i m e.
Cavernöse Angiome der Leber fanden sich bei £ Männern von ."iT
und 60 Jahren, in dem einen Fall zahlreich und bis zu Apfelgrösse. in
Form lappiger Geschwülste über das .Niveau der Leber prominirend.
Varixbildung wurde bei 31 Individuen eonstatirt = 20. 9" ^ und
zwar lieferten die hämorrhoidalen Venen 25 . jene des breiten Mutter-
bands und des Unterhautbindegewebes der untern Extremitäten je ö,
jene der Pia mater 2 Fälle, während einmal eine hochgradige Varicocele
im rechten Samenstrane eonstatirt wurde.
N e u r m e
fanden sich in Form von knotigen Anschwellungen sämmtlicher Nerven
eines Amputatiünsstumpfs des rechten Oberarms bei einem iijährigen
Mann.
Syphili s
wurde in 9 Leichen eonstatirt = H. 08«,^. Unter den hieher gehörigen
Fällen ist her\orzuheben die Beobachtung multipler tief eindringender
Narben der Leber l^iei einem iojäbr. In-en. . Bei einem Neugeborenen,
welcher ' jStundt- lebte, fand sich neben Pemphigus Bronchopneuinonie
Beobachtaugeb d«s patbologischeti lostitats la Jeiu im Jakr»: IS<ii. 1 77
beider LungeD mit umschriebenen käsigen Uepatisalionen. Der Fall
wird seiner Wichtigkeil wegen im speciellen Theil ausfilbrlicher be-
schrieben werden.
Typhus
war in den 4 Fällen, welche zur Obduction kamen . durch Complica-
tionen tödtlich geworden und zwar zweimal durch Verschwärung des
Kehlkopfs mit nachfolgender Bronchopneumonie, je einmal durch Darm-
perforalion und durch Venenthrombose mit nachfolgender Lungen-
arterienembolie.
Nervensystem.
Pachymeningitis interna fand sich in chronischer Form und mit
beträchtlichem Blulerguss zwischen den gallertigen Pseudomembranen
bei I , in acuter bei T Leichen, darunter 6 Männer, i Frauen. 5 von
den Individuen waren Irre . 2 Potatoren. Auf 1 1 1 Leichen berechnet,
deren Schädel eröffnet wurde, ergibt sich ein Verhältniss von 7. ^'^o-
Eitrige Leptomeningitis wurde in 4 Individuen beobachtet : bei einem
oTjähr. Mann in Form von Cerebrospinalmeningitis mit protrahirtem
Verlauf: bei einem 33jähr. Mann nach Durchbruch der Dura spinalis von
einer tuberkulösen Wirbelcaveme aus: bei einem 51 jähr. Mann trat
sie im Anschluss an Pneumonie, bei einer 38jähr. Frau im Anschluss
an Diphtherie des puerperalen Uterus raitLymphangitis des Plexus Sper-
ma ticus auf.
Bei einem Todtgeborenen und 3 Irren war innerer und äusserer
Hydrocephalus die einzige Veränderung, welche als Todesursache be-
trachtet werden konnte. In einem der letzteren Fälle waren neben den
Erscheinungen des paralytischen Blödsinns öfter wiederkehrende An-
fälle von ßewiisstlosigkeit mit halbseitiger Lähmung vorhanden gewesen,
welche stets im Lauf weniger Tage wieder verschwanden: die Lähmung
wechselte einmal mit Veränderung der Lage des Kranken.
Bei einer 67jähr. Frau fand sich neben den Resten abgelaufener
Endocarditis der Bicuspidalklappe der \iereckige Lappen des Kleinhirns
beiderseits zum grossen Theil in eine orangegelbe narbige Masse ver-
wandelt . mit welcher die verdickte Pia fest verwachsen war. Beide
zuführende Arterien waren durchgängig und ohne Veränderung, so dass
der Beweis für die embolische Natur der schon lange bestehenden Ver-
minderung sich nicht führen' Hess.
Ein 36jähr. Mann hatte vor längerer Zeit den i. Lendenwirbel ge-
brochen und eine unvollstäntlige Lähmung der unteren Extremitälen
/!u rückbehalten, welche ihn zum Gehen an der Krücke nölhigte. Die
B«ad IV. 2. 12
178 WUk«lB Maller,
Section ergab deutlichen Ci\llus im Körper und Bogen dieses Wirbels,
die Dura mit demselben verwachsen, eine strafte bindegewebige Pseudo-
membran querdurch die Wirbelhöhle gespannt mit Einschnürung sämrat-
licher Nerven am Anfang des Filum terminale. Ausserdem fand sich
alles abgesacktes linksseitiges Empyem: der erste Lendenwirbel in sei-
nen unteren ä Drittheilen eine grosse mit käsiger Masse gefüllte Höhle
enthaltend, welche beiderseits mit ausgedehnten verkästen eine Anzahl
Knochenfragmente und Kalkbrocken enthaltenden Psoasabscessen in
Verbindung stand.
Ein überaus wichtiger Fall von partieller Verwundung des Rücken-
marks im Niveau des 4. Dorsalwirbels wird im speciellen Theil geschil-
dert werden.
Circulationssy Stern.
Frische fibrinös-eitrige Pericarditis wurde in 3 Leichen constatirt,
einmal neben Thrombose des rechten Herzohrs bei Uterusepilheliom,
einmal neben frischer Endocarditis im linken Ventrikel bei Diphtherie
des puerperalen Uterus, endlich bei einem 51 jähr. Mann neben Pleuro-
pneumonie und eitriger Leptomeningitis.
Die Residuen abgelaufener Pericarditis fanden sich in Form mehr
oder weniger ausgedehnter Verwachsungen zwischen beiden Herz-
Ijeutelblättem in 5 Leichen.
Vergrössemng des Herzens mit Hyperplasie der Musculatur war in
19 Leichen ausgebildet. Sie war in 8 FälÄa durch Klappenfehler be-
dingt: in 5 Fällen war lediglich das rechte Herz Sitz derVergrösserung,
dreimal imAnschluss an Emphysem, je einmal an chronische Pneumonie
und Tuberkulose. In 6 Fällen war die Vergrösserung beiderseitig und
dreimal mit Struma . zweimal mit interstitieller Nephritis , einmal mit
(ironischer Pneumonie und gleichzeitig vorhandenem rundem Magen-
geschwür combinirt-
Vorgeschrittene Felldeseneration des Herzmuskels fand sich in s
Leichen: bei einem 68jähr. Mann war sie mit beträchtlicher Lipomatose
combinirt und die einzige Veränderung, welcher der auf dem Heimweg
von einem benachbarten Dorfe plötzlich erfolgte Tod zngeschriel>en
werden konnte.
Endocarditis mit ihren Folgen wurde lomal beobachtet = 10. 4 *'/0.
Als frischer Prooess war sie in 5 Individuen nachweisbar, zweimal neben
jauchenden Epitheliomen , einmal neben Diphtherie des puerperalen
Uterus und neben Tuberkulose. Während in diesen Fällen der linke
Ventrikel allein betroffen war, waren bei einem 44jähr. Kutscher mit
Ausnahme der Semilunaren der Lungenarterie sämmlliche Herzklappen
Beobadituign des palkokgisBkea Institats lo Jeu u iikn 1867. 179
betheilifit mit ausgedehnter Thrombose beider Ventrikel und multiplen
Eintx)iien, ohne dass ein disponirendes Moment für die Entwiddung der
Erkrankung sich halle nachweisen lassen. Der ganze Verlauf halte 14
Tage in Anspruch genommen.
Die Residuen abgelaufener Endocarditis fanden sich in <0 Lei-
chen und zwar fünfmal (I M. 4 W.; in Form von Insufficienz der
Bicuspidalis. zweimal ^i M.j in Form von InsufBcienz der AorLa-
klappen , zweimal (2 W.) waren beide Klappen insufficienl ; endlich
war in einem Fall die Bicuspidalis insufficient neben Stenose
des Oslium. Die beiden Fälle von Insufficienz der Aortaklappen ver-
dienen nähere Erwähnung : in dem einen war bei einem 43jähr. Mann
während des Aufsitzens zum Behuf der Untersuchung des Herzens der
Tod plötzlich eingetreten ; es fand sich die hintere Semilunarklappe
narbig verkürzt, hochgradige Endarteritis deformans mit Verengerung
der Coronararterien und vorgeschrittene Fettdegeneration des Herz-
muskels: im zweiten Fall (oTjähr. Mann) war die hintere Klappe be-
trächtlich verdickt und verlängert mit einer queren Einschnürung Inder
Mitte, von welcher an das peripheriscbe Stück gegen den Ventrikel um-
geklappt w ar.
Es ist hier der Ort. die übereinstimmenden Veränderungen zu er-
wähnen, welche bei 2 auf dem Marsche von Weimar nach Jena resp.
Lobeda der Insolation erlesenen 21 jähr. Soldaten sich vorfanden. Die
Erscheinungen waren die gewöhnlichen : Bew^isstlosigkeit. ConMÜsionen,
äusserst frequenter Puls, ihre Dauer in dem einen Falle 2, im andren
' Stunden. Bei beiden lndi\iduen ergab die Section Cyanose des Ge-
sichts, umschriebene Sugillalionen im Mesenterium, den Lungen, dem
Visceralblatt des Herzbeutels und imEndocard des rechten, ausgedehnte
!i jenem des linken Herzens, wo sie bis zu \ Mm. Dicke erreichten.
Das Gehirn eher anämisch und etw as weich , Lungen , Milz und Nieren
venös h\^erämisch, das Blut allenthalben dunkel und flüssig , nur im
rechten Herzen ein lockeres Leichengerinnsel. Ausserdem fanden sich
in dem einen Fall mehrfache zum Theil mit käsigem Inhalt gefüllt«:-
Bronchiectasien im Oberlappen der linken Lunge und ein Fäcalconcre-
ment im Processus vermiformis, im andren chronischer Rachen- und
Larynxkalarrh mit Vergrösserung beider Tonsillen, mehrfache narbige
Verdichtungen in den Oberlappen beider Lungen nnd Verkalkungen
der bronchialen Lymphdrüsen. Stücke der Lungen, Nieren, dt-s Gehirns
und Rückenmarks wurden theils frisch, theils nach mehrwöchentlicher
Härtung in einer I "^ Lösung von doppell chromsaui^em Kali auf Fell-
einbolie und parenchymatöse Verfettung uulersucht. mit negativem Er-
folg. Ich lege auf dieses Resultat gegenüber den Angaben von E.Wag-
180 Wilhelm Müller,
NER um so mehr Gewicht, als dieselbe Methode in drei sogleich zu er-
wähnenden Fällen mit positivem Erfolg zur Constatirung vorhandener
Fettem bolie verwendet wurde.
Versucht man auf Grund beider Beobachtungen die Theorie der
Insolation zu prüfen, welche Obernier aufgestellt hat, so findet allerdings,
wie ich glaube, sowohl der Befund in der Leiche als die Symptomen-
gruppe im Leben eine genügende Erklärung auf Grund der Hypothese,
dass die schweren Erscheinungen bei beiden Soldaten eintraten, nach-
dem das zur Verdunstung resp. Abkühlung des Körpers disponible
Wasser in Blut und Lymphe bis zu einem gewissen Grad veibraucht
war. Zweierlei Folgen leiten sich ungezwungen aus dieser Hypothese
ab: eine Erwärmung des Körpers resp. Blutes über die Norm und eine
Reduction des Blutvolums. Von diesen Factoren ist der erstere kein
Gegenstand pathologisch anatomischer Beobachtung ; seine Wirkungen
sind zudem von Obernier genügend beleuchtet. Der letztere war jeden-
falls ein begünstigendes Moment für den Eintritt der Herzlähmung, als
deren Resultat die Anämie des Gehirns und die stärkere Füllung des
Venensystems sich betrachten lässt. Als Folgen der letzteren erscheinen
die Blutungen in den serösen Häuten; ihr Auftreten imEndocard konnte
begünstigt werden durch eine beträchtliche Verminderung des Drucks,
welchen bei normaler Füllung der Ventrikel das enthaltene Blut auf das
Kntlocard ausübt. Mit dieser Annahme steht völlig im Einklang, dass
diese Blutungen viel ausgedehnter im Endocard des linken als in jenem
des rechten Herzens sich vorfanden , denn das Volum des im linken
Ventrikel enthaltenen Blutes, welches die gewaltige Verdunstungsfläche
der Lunge passirt hatte, konnte in Folge dieses Umstandes sehr wohl
eine grössere Menge Wasser verloren haben als ein gleiches Volum
Körperblut.
Endarleritisdeformans fand sich im Aortensystem in 27 =18.2 70)
in jenem dev Pulmonalis in 10 Fällen, in letzteren fast stets neben Em-
physem oder chronischer Pneumonie.
F^ilrige Phlebitis derllmbiliealvene führte bei 2 Neugeborenen zum
Tod unter den Erscheinungen der Pyämie, das eine Mal neben Leber-
abscess und Gelenkeiterung, das andre Mal neben Lungenabscess und
eitriger Pleuritis.
Thrombosen wurden im Ganzen 27mal constatirt = 18. 1 "/o ;
es waren deren Sitz die Körpervenen in 20, die Pfortader in 1, das
rechte Herz in 4, gleichzeitig das rechte und linke Herz in 2 Fällen.
In 21 von diesen Fällen wurde die zugehörige Embolie constatirt
^77. 7"^„. In einem Falle wurden in der Placenla eines Todtgebo-
.renen mehrfache deibe theils braunrolhe theils gelbliche Stellen ge-
Rpnbaflitiiiiat'ii dos piitlinlniiisolicii lusliliils 7,11 .Ipiiü im .lahre 1867. 181
fuiidcn ; die Untersuchung ergab, dass es sich um Thi'ouibosen in ver-
schiedenen Stadien der Rückbildung handelte.
Drei Fälle von Fetteinboliereihen sich hieran, welche im Anschluss an
complicirleFracturenderTibia und Fibula sich ereigneten. Ein :J()j. Dienst-
kneclU wurde d(Mi o. Januar im trunkenen Zustand überfahren und erlitt
einen Splillerl)ruch der rechten Tibia und Fibula. Er wurde ])ald nach sei-
ner Aufnahme ins Spital soporös und starl) den 6. .Januar. DieSeclion er-
gab ausser der Örtlichen Zerstörung beträchtliche llypei-ämie beider
Lungen, zahlreiche capilläre llämorrhagien in Gehirn, Pleuren, Lungen,
Endocard, Nieren. Die mikroskopische Untersuchung sowohl der fri-
schen als der in Lösung von chiomsaurem Kali gehärteten Organe zeigte
colossale Feltcmbolie in den Lungen und Nieren, so dass in letzteren
förmliche Injeclionspräparate der Malpighischen Knäuel entstanden
waren, weniger intensive in den Capillaren des Gehirns, Darms, Herz-
muskels und der Haut. Eine tTjähr. Irre war den 15. Juni aus dem
l"enster gesprungen und hatte die linke Tibia und Fibula gebrochen.
Auf grosse Unruhe in der ersten Zeit nach der Verletzung folgte zuneh-
mendes Coma und am Morgen des Ü». der Tod, nachdem noch blutige
Sputa aufgetreten waren Die Section ergab enorme Hyperämie beider
Lungen mil zahlreichen capillaren Hämorrhagien , die mikroskopische
Inloisuchung ausgedehnte Feltembolie der kleinsten Arterienzweige
und (kapillaren der Lungen, sehr unbedeutende der Malpighischen Kör-
per der Nieren und dos Gehirns. Genau denselben Befund ergab die
Obduction und nachfolgende mikroskopische Untersuchung bei einem
iljähr. Potator, welcher den i.Juh einen Gomminulivbruch der rechten
Tibia und Fibula duich Ueberfahren erlitten hatte. Am Tag nach der
Verletzung stellten sich die Flrscheinungen von Delirium tremens ein,
wozu sich zuletzt einige letanische Anfälle gesellten, welchen der Kranke
den 7. erlag. Diese Fälle stimmen sowohl unter einander als mit den
von dem Entdecker der Fettembolie , E. Wagner , veröffentlichten so
Nollkonnuen überein, dass sie eines weiteren Commentars nicht bedürfen.
Eitrige Lymphangitis fand sich imCruralstrangeines G7jähr. Mannes
un Anschluss an ein Erysipel des Unterschenkels, bei 3 Frauen im Plexus
spermaticus im Anschluss an Diphtherie des puerperalen Uterus.
Eitrige Lymphadenitis fand sich einmal in den retroperitonäalen
Drüsen neben eitriger Lymphangitis spermatica, in einem zweiten Fall
Ml einzelnen Drüsen der Mesenterialwurzel neben eitriger Phlegmone
des Mesenteriums und retroperitonäalen Bindegewebs, welche zugleich
mit Thrombose der Pfortader von einem Ulcus rotundum duodeni aus
sich entwickelt hatte.
Pigmentiruiig und narbige Schiumpfung sämmtlichcr inguinaler
und lumbarer Drüsen fand sich bei einem mit Elephantiasis beider
1 82 Wilhelm Müller,
unteren Extremitäten behafteten 1 5j<ähr. Jüngling. Auf die Bronchial-
driisen beschränkt fand sie sich mit oder ohne gleichzeitige Verkreidung,
abgesehen von den durch Tuberkulose bedingten Fällen , 1 I mal vor, in
fi von diesen 1 I Fällen war chronische Pneumonie mit Bronchialerwei-
terung das disponirende Moment gewesen. Die Lymphdrüsen-
schrumpfung hatte zweimal zu Stenose grosser Bronchien , einmal zu
solcher eines grösseren Lungenarterienzweigs geführt, während in einem
vierten Fall eine pigmentirte Narbe einen früheren Durchbruch einer
eiternden Drüse in den anliegenden Bronchus vcrmuthen Hess. Bei
einer 73jähr. Frau fanden sich mehrfache Verkalkungen der mesente-
rialen Lymphdrüsen neben chronischem Katarrh des Wurmfortsatzes.
Respiratioussystem.
Eitrige Pleuritis fand sich, von den leichten die Pneumonie beglei-
tenden Formen abgesehen, in 13 Fällen =8. 7"/,,. Sic war stets se-
cundärer Process und zwar bestand das disponirende Moment je vier-
mal in embolischem Lungenabsccss und in Peritonitis, zweimal in Rippen-
brüchen, je einmal in Bronchiectasie, Tuberkulose und Sarkomatose der
Lungen. Die Häufigkeit ist auffallend, mit welcher eitrige Peritonitis zu
eitriger Pleuritis führte ; man wird unwillkürlich versucht, dabei eine
massenhafte Durchwanderung von Eiterzellen oder den Erregern der
Eiterung überhaupt durch das Zwerchfell im Sinne von Cohnheim und
V. Recklinghausen anzunehmen um so mehr, als auch der umgekehrte
Fall nicht selten ist, dass an eitrige Pleuritis eine Peritonitis des Zwerch-
fells sich anschliesst, welche zur Verwachsung des Zwerchfells mit Milz
oder Leber schliesslich führen kann.
Die Residuen früherer Pleurareizungen fanden sich in Form mehr '
oder weniger ausgedehnter Synechien beider Blätter in 4 i Leichen = 29 "^/q.
Crupöse Pneumonie war bei 16 Individuen nachweisbar = 10.
H'Yo. Ihr Sitz war sechsmal in beiden, eben so oft im rechten
Unterlappen, zweimal in der ganzen rechten Lunge, zweimal im
linken Unterlappen. Bemerkens werth ist das Auftreten einer Pneu-
monie, welche sich sowohl hinsichtlich der Körnung und Farbe der
Schnittfläche als hinsichtlich der gleichförmigen Verbreitung von dei-
gewöhnlichen crupösen nicht unterscheiden liess, in beiden Lungen
eines achtwöchentlichen vorher vollkommen gesunden Knaben,
welcher fünf Tage vor seinem Tod unter den üblichen Erscheinungen
erkrankt war. In allen übrigen Fällen fand sich der Process ne-
ben anderweitigen Affectionen oder doch in Individuen , deren Con-
stitution erhebliche Störungen bereits erlitten hatte. Das disponirende
Moment bestand Je dreimal in eitriger Lymphangitis und in chronischer
I
BcobacliliiiißPii Jps p.illiologisclK'ii liislitiits zu .li'ua im Jiihrc 1867. 183
Pneumonie mit Bronchialeivveileiung, zweimal in Manie, je einmal in
Syphilis, Alkoholisnms, Narben des Kleinhirns und Magens, Epitheliom
des Magens, chronischer Dysenterie, interstitieller Nephritis, Arthritis
deformans.
Bronchopneumonie war in 19 Individuen vorhanden = \'i. f<%.
Bei sieben Kindern und einem iijähr. Emphysematikei- stand sie im
Anschluss an acute Bronchitis, bei vier Individuen im Anschluss an
Diphtherie. Augenscheinlich durch Ilerabüiesscn von Racheninhalt in
Tiachea und Bronchien bedingt fand sich der Process bei einem viertel-
jährigen Knaben mit Labium und Palatum fissum , einer 38jähr. Frau
mit Ei^itheliom der Mundhöhle und des Gaumens , zwei Madchen mit
T^phusgeschwüren des Larynx und einem fünfmonatlichen Kind, welches
der Dysenterie nach acutem Magen- und Darmkatarrh erlegen war. Bei
einer ÜOjähr. Kranken mit Diabetes fanden sich zahlreiche broncho-
pneumonische llecrdc in beiden Lungen mit brandigem Zerfall , ohne
tlass die tuberkulöse Natur der Affection mit hinreichender Sicherheit
sich hatte erweisen lassen , wie dies in einem zweiten Falle möglich
war. Endlich fand sich bei einem 51 jähr. Mann eine sehr merkwürdige
bronchopneumonisehe Verdichtung des Unlerlappens der rechten Lungen
mit ausgedehnter Cholestearinmetamorphose. Der Fall wird imspeciellen
Theil ausführlich beschrieben werden.
Chronische Pneumonie mit Bronchialerweiterung fand sich bald
auf einzelne Lappen der Lungen beschränkt, bald weiter verbreitet in
|.'i Fallen = IO"/„. Vorwiegend waren es Individuen in der vorge-
schritleneien Lebensperiode. Auffallend häufig war der untere Abschnitt
des rechten Obcrlappen betroffen mit gleichzeitiger Synechie des unteren
und oberen Lappen und beträclltlicher schwartiger Verdickung der
Pleura.
Emphysem höheren Grades fand sich in 9 Individuen = 6. %•
Nur in 4 Fällen konnte es als eigentliche Ursache des Todes betrachtet
werden , der zweimal durch recentc Steigerung des Bronchialkatarrhs,
zweimal durch Ilerzlhrombosc erfolgte.
Von den zwei Asphyxien erfolgt die eine während der Geburt, die
andre durch Ertränkung bei einem 57jähr. Irren.
Digestionssyste m.
Von den oberhalb des Zwerchfells liegenden Theilen dieses Systems
sind zunächst die Tonsillen zu erwähnen. Sie fanden sich einmal bei
einer 2 i jähr. Puerpera mit frischen Abscessen versehen; in '< I eiclion
184 Wilhelm Müller,
= 5. i% waren sie vcrgrössert, zweimal bei jugendlichen Individuen
bis zum Umfang grosser Kirschen.
Der Oesophagus fand sich in 7 Leichen mit ausgedehntem Soorbeieg
versehen. Chronischer Katarrh fand sich in ihm fünfmal , stets neben
chronischem Katarrh des Magens. In 2 Fällen hatte narbige Schrumpfung
der Lymphdrüsen an der Trachcalbifurcation zur Entstehung kleiner
Divertikel seiner Schleimhaut geführt.
Von Lageänderungen der in der Bauchhöhle liegenden Theile des
Digestionssystems wurden Hernien in 7 Leichen conslatirl = 4. 7 %.
Ilievon waren je 2 rechtsseitige, je 1 linksseitige Leisten- resp. Schen-
kelbrüche, ein 47jähr. Mann hatte doppelseitigen Leistenbruch. Zwei
Schenkel- und ein Leistenbruch der rechten Seite halten durch Ein-
klemmung die Hernintomie erforderlich gemacht mit ungünstigem
Ausgang.
Eine complicirte Form innerer Einklemmung mit Achsendrehung
fand sich bei einer 78jähr. Frau. Eine Schlinge vom Anfang des Ileum
war an ihrem freien Rand durch eine strangförmige 3 Centimeler lange
Adhäsion divertikelartig ausgezogen und an die innere Oeffnung des
linken Schenkelrings befestigt. Der darauf folgende Abschnitt des Ileum
halle sich unter diesem Pseudoligament von links nach rechts durchge-
schoben und war in dieser abnormen Lage wahrscheinlich seit längerer
Zeit, wie aus den ein halbes Jahr lang vor dem Tod vorhandenen Er-
scheinungen hervorging, welche in zeitweiser Schmerzhaftigkeit des
Unterleibs und hartnäckiger Stuhl Verstopfung mit Diarrhoe abwechselnd
bestanden. Zwischen dem Mesenterium dieser Darmparthie und dem
Pseudoligament hatte sich schliesslich noch eine Strecke des Ileum von
links nach rechts durchgeschoben, welche 20 Centimeter über der Bau-
HiN'schen Klappe endigte. Durch letztere Verlagerung war die Stelle des
Ileum, welche das Pseudoligament trug, nicht nur beträchtlich gedehnt,
sondern auch bis zum Verschwinden des Lumen um seine Längsachse
gedreht worden. Der Tod erfolgte unter den gewöhnlichen Erschei-
nungen der Darmstenose; der ganze Dickdarm war collabirl und leer,
.lejunum und Duodenum enorm aufgetrieben, mit graugelblicher trüber
Flüssigkeit reichlich gefüllt.
Eitrige Peritonitis fand sich in 19 Fällen = ii. 8%. Sie war stets
secundärer Process; das veranlassende Moment war fünfmal Diphtherie
des puerperalen Uterus mit Forlpflanzung des Processcs auf die Tuba,
in je 4 Fällen operative Verletzung des Bauchfells und Perforation des
Wurmfortsatzes, in je 2 Fällen ulcerirende Divertikel der Harnblase mit
kleinen Pci'forationsslellen, Perforationen des Magens und solche des
Darms Bei einem todlgcborcnen siebenmonatlichen männlichen Kind
fand sich frische fibrinös-eitrige Peritonitis als alleinige nachweisbare
Rcobaclitiinneii des patliolnuisclioii Instituts 7,11 .Iciia im lahre 1867. 185
Todesursache. Weder von Seite des Kindes noch von Seite der Mutler
konnte eine genügende Entstehungsursachc dcsProcesses eruirt werden.
Chronischer Katarrh des Magens fand sich in \'] Leichen, worunter
9 Männer. Auch bei dem Ulcus rotunduni , welches sich im Ganzen
neunmal fand = 6. 07%, stellte abweichend von der Regel das männ-
hche Cicschlecht mit o Fällen das grössere Conlingent. Sitz des Ge-
schwürs war achtmal der Magen , einmal das Duodenum ; in (} Fällen
wurde der Process durch die charakteristischen Narben constatirt, in 3
Fällen lagen oflene Geschwüre vor. Bei einem Oojähr. Mann ei-folgte
der Tod durch Blutung, bei einem 60jährigen waren zwei Geschwüre
vorhanden, das eine an der gewöhnlich betrolVencn Stelle der hinteren
das andere gerade gegenüber an der vorderen Wand, das letztere hatte
durch Perforation zu eitriger Peritonitis geführt. Ein groschengrosses
kurz oberhalb des VATER'schen Divertikels sitzendes Ulcus duodeni hatte
zu Phlegmone der Mesenlerialwurzel und des relroperitonäalen Bindege-
webs, Lymphdrüsenciterung im Mesenterium . Thrombose der V. me-
senterica superior bis zur Pfortader und embolischen Leberabscess ge-
führt: ausserdem fand sich im erweiterten Ende des Ductus choledochus
ein voluminöser braunrother Gallen farbstoffpfropf ; ähnliche Concremente
fanden sich in einer Anzahl sackförmiger Gallengangerweiterungen
innerhalb der Leber.
Chronischer Katarrh des Dünn- und Dickdarms wurde von den
mit Tuberkulose verbundenen Fällen abgesehen in 7 Leichen = 4. 7%
constatirt. Er war viermal im Anschluss an allgemeine Vencnslauung,
dreimal im Anschluss an chronische Nephritis ausgebildet: in einem der
letzteren Fälle fand sich neben schiefrigerPigmentirung weit verbreitete
kystomatöse Umwandlung der Drüsen.
Acute Dysenterie war Todesursache bei einem ;37jähr. Mann und
einem neugeborenen Knaben ; beide Fälle schliessen sich an die im vor-
jährigen Bericht erwähnte kleine Epidemie an Der chronischen Dysen-
t(M'ie erlag ein 27 jähr. Mann aus den Oslseepi'ovinzen Russlands. Die
Erkrankung halte seit 2.1ahrcn bestanden und zu drei fistulösen Durch-
bohrungen der äusseren Haut vom Colon descendens aus geführt; da-
neben fand sich ausgebreitete Amyloid degeneration derUnlerleibsorgane
und eine terminale crupöse Pneumonie.
In 7 Individuen = i. 7% fanden sich iheils wirkliche Kothsleine,
theils Veränderungen, welche auf deren frühere Anwesenheit bezogen
werden mus^ten, im Processus vermiformis. Bei zweien von den 6
Fällen der ersleren Kategorie war es zu Perforation gekonjmen, in einem
derselben fanden sich gleichzeitig -i Concrenjonte, welche Barihaare des
Individuums enthielten. Zu erwähnen ist die Beobachtung eines Koth-
186 Wilhelm Müller,
Steins im Wurmfortsatz einer 24jhr. Tuberkulosen, deren einige Jahre
früher verstorbener Bruder die gleiche Affection dargeboten hatte. Als
wahrscheinliche Folge eines früher vorhandenen Goncrements fand sich
Obliteration der peripherischen Hälfte des Wurmfortsatzes mit Pigmen-
lirung bei einem 51jähr. Mann.
Ein vcrkreideter Echinococcus fand sich in der Leber eines 43jahr.
Mannes.
Gallensteine waren in 10 Leichen vorhanden; wie im Vorjahre
stellte das weibliche Geschlecht mit 7 Fallen das grössere Gontingent.
Uropoetisches System.
Tubuläre Nephritis wurde in S Fällen beobachtet; zweimal als
chronischer Process mit Verfettung der Epilhclien und amyloider Dege-
neration des Gefässapparats; sechsmal acut und secundär und zwar
dreimal neben Diphtherie, zweimal neben crupöser Pneumonie , einmal
bei Typhus neben acutem eitrigem Katarrh des Nierenbeckens und der
Blase bei einem 1 7jähr. Mädchen.
Interstitielle Nephritis wurde in 8 Fällen constatirt, welche sich
gleichmässig auf beide Geschlechter vertheilen. ihr Sitz waren in i
Fällen beide Nieren, davon einmal die rechte stärker als die linke, in 3
Fällen war die rechte, in I Fall die linke Niere ausschliesslich betroffen.
Ohne Ausnahme fand der Process im Anschluss an chronischen Katarrh
des Nierenbeckens und der Blase. In 7 von den 8 Fällen war in letz-
terem Organ und der Urethra der Ausgangspunct; im achten, dem einer
77jähr. Frau, war derselbe im Nierenbecken gelegen, welches reich-
lichen Harnsäuregries enthielt; die rechte Niere enthielt gleichzeitig in
ihrer oberen Parthie ein kirschengrosse Cyste, welche von analogen Ab-
lagerungen ganz erfüllt und wahrscheinlich aus der Abschnürung eines
Niercnkelchs hervorgegangen war.
In zwei Fällen von chronischem Urethralkatarrh mit Prostatahyper-
plasie hatte suppurative Nephritis an die interstitielle sich angeschlossen.
Dasselbe hatte bei einer 65jähr. Frau statt, welche mit chronischem
Katarrh der Blasen- und Genitalschleimhaut behaftet war. Es fand sich
die Schleimhaut beider Nierenbecken beträchtlich verdickt, schiefergrau,
stellenweise oberflächlich ulcerirt, der enthaltene Harn citrig trübe und
übelriechend, die rechte Niere bis auf einen unscheinbaren 8Gcntimeter
langen, 5 Gent, breiten Rest geschwunden , die Oberfläche narbig
höck(!rig, im Innern zahlreiche disseminirtc Abscesse ; die linke Niere
1 8 Gentimeter lang, I I breit, die Oberfläche grob granulirt uiit adhä-
renter verdickter Kapsel, das Parenchym derb, von zahlreichen verdich-
ßeobaclitiincon dos paniolocischcii Insfitiils 7,11 .Iciia im .lalirc 1867. 187
tclcn Bindogcwcbszügen durchsetzt, gleichfalls eine Anzahl luncUicher
und streifiger Eitereinlagerungcn enthaltend.
Aniyloiddegeneration höheren Grades fand sich in 6 Leichen: sie
stand je zweimal im Anschluss an Tuberkulose und chronische tubuläre
Nephritis, ju einmal an chronische Dysenterie und Elephantiasis.
Ilarnsaureinfarct wurde in den Nieren von 4 Neugeborenen,
Kalkinfarct in jenen von drei Erwachsenen angetroffen; in keinem der
letzteren Fälle war eine Veränderung des Knociiensystems vorhanden.
Ein enormer Grad von Hydronephrose fand sich bei einem GOjähr. an
Epitheliom des Magens verstorbenen Mann. Die rechte Niere stellte einen
dünnwandigen kindskopfgrossen Sack dar, welcher röthlich gelbe klare
Flüssigkeit enthielt und in der Wandung einzelne Reste des Parenchyms
zeigte. Der Ureter war kurz nach seinem Ursprung aus dem Nieren-
becken an einer umschriebenen Stelle obliterirt, die Ursache der Obli-
teration liess sich nicht ermitteln. Geringere Grade fanden sich bei einer
Frau mitEpitheliom und einem Ijähr. Knaben mit angeborenerPhimose.
Concremente im Nierenbecken fanden sich in 3 Leichen, 2 Frauen
und einem halbjährigen männlichen Kind ; stets war die Goncrcment-
bildung mit eitrigem Katarrh des Beckens verbunden.
Katarrh der Harnblase fand sich in 14 Fällen = 9. 4%, hieven
stellte das weibliche Geschlecht mit (S Fällen das grössere Contingent.
In 1 Fällen hatte der Process von der Urethra auf die Blase sich fort-
gepflanzt, in je einem Fall waren Typhus und Verletzung des Rücken-
marks mit Blasenlähmung die veranlassenden Momente. Besondere Er-
wähnung verdienen die übrig bleibenden zwei Fälle, bei welchen neben
den Erscheinungen des chronischen Katarrhs mehrfache Ulcerationen
auf der Blasenschleimhaut sich vorfanden und zwar im Anschluss an
hochgradige variköse Erweiterung derBlasenvcncn, welche in dem einen
Fall eine fast zusanniienhängende blauschwarze wulstige Schichte auf
der Innenwand des Organs bildeten.
Genitalsystem.
Von Erkrankungen der männlichen Genitalien ist zu erwähnen der
chronische Katarrh der Urethra. Er fand sich bei 10 Individuen = 11.
% '^^'cr männlichen Leichen, darunter 4 Irre mit periodischer Manie.
Der Process war in 5 Fällen mit Vergrösserung der Prostata , in 1 mit
Strictur der Pars membranacea und Fistelbildung complicirt. In vier
Fällen waren tlic Sariienblasen nachweisbar beiheiligt, ihre Wandungen
verdickt und schiefrig pigmentirl, die enthaltene Flüssigkeit gelblich
und von eitrigem Aussehen. Ucbcreinslimmend ergab die Untersuchung
188 Willielin Müller,
dieser Flüssigkeil als Ursache der gelben Färbung zahlreiche grosse mit
gelbem Pigment erfüllle Körnchcnzellen , welche wahrscheinlich den
bekanntlich normal gelbes Pigment führenden Epilhelien der Samen-
blasen entstammten. Daneben fanden sich ausser wohl ausgebildeten
Samenfäden sparsame Eiterzellen und grosse concentrisch geschichtete
weiche mattglänzende Kugeln, ähnlich den Concretionen , wie sie ge-
wöhnlich in der Prostata sich finden. Gelbliche Färbung des Sperma
ist die -gewöhnliche Art, durch welche die Betheiligung der Samenblasen
am granulösen Katarrh der hinteren Parthien der Urethra sich kundgibt;
sie ist ungleich häufiger bedingt durch Beimischung pigmenthaltiger
Körnchenzellen als durch solche von Eitci'zellcn und es ist entschieden
unrichtig, wenn selbst in neueren Abhandlungen über diese Erkrankung
gelbes und eitriges Sperma ohne Weiteres als identisch genommen werden.
Hydrocele wurde in 2 Fällen beobachtet, das eine Mal rechts, das
andre Mal links; in einem dritten Fall fand sich Synechie beider Blätter
der Scheidenhaut als Folge der Badicaloperation.
Katarrh der weiblichen Genitalschleimhaut fand sich von den neben
Neubildungen entwickelten Formen abgesehen in 8 Individuen = 1 2.
5"/'o aller weiblichen Leichen. liier ist der Fall eines 22jähi'. Mädchens
zu erwähnen, welches einer jauchigen Peritonitis nach Durchbohrung
des Wurmfortsatzes erlegen war. In Tuben und Uterus, in letzterem
vom Fundus gegen den Cervix hin abnehmend, fand sich Schwellung
und graue Verfärbung der Schleimhaut mit graugelben übelriechenden
Secret, Scheide und Hymen unverändert. Der Befund stimmt nut der
Annahme , dass die Veränderung des Uterus durch Uebei'greifcn der
Jauchung vom Perilonäum auf die Schleimhaut der Tube vermittelt
wurde.
Bei einer 57jähr. an crupöser Pneumonie verstorbenen Fiau fand
sich ein gelblicher in Zusammenhang abziehbarer Croupbeleg auf der
Schleimhaut der Vagina in ihrer ganzen Länge.
Diphtherie des puerperalen Uterus lieferte nicht weniger als 7 Todes-
fälle. Der Befund war in allen Fällen derselbe: Verlauf von i bis 8
Tagen, gelblich-grauer oder bräunlicher übelriechender Beleg an der
Innenfläche des Uterus, enormer Katarrh, in einem Falle deutliche Diph-
therie im peripherischen Theil der Tube, allgemeine eitrige Peritonitis,
eitrige Lymphangitis [im Plexus spermaticus, wozu sich in einem Fall
Eiterung der retropcritoliäalen Drüsen gesellte. Wiederholt nahmen
Pleuren und Gelenkhöhlen in einem Fall auch die Meningen an der
Eiterung Antheil.
Bei einer 35jähr. Tuberkulösen fand sich eine thalergrosse etwa
I Mm. dicke orangegelbe Auflagerung auf der RUcküäche des Uterus,
Beobachtnngoii des [lalliolojrisclM'ii Insliliits 7,11 .Iciia im .lalirf 1867. 189
welche durch reichlichen Häniatoidingehalt auf ein früheres Extravasal
hinwies.
Von Gestalt und Lageänderungen des Uterus fand sich Verlängerung
des Corvix und Vergrösserung des ganzen Uterus in je einem Fall neben
fhronischoni Katarrh. Bei einer Sijähr. Frau war der Cervicalcanal an
seinen beiden Enden oblilerirt mit Erweiterung der Höhle und Erfüllung
mit farblosei' opalisirender Flüssigkeit. Schiefe Gestalt des Uterus be-
tiingt durch Zurückbleiben der linken Hälfte mit gleichzeitiger Verkür-
zung des linken breiten Mutterbands fand sich bei einem ITjähr. Mäd-
chen. Beugungen und Neigungen des Uterus nach vorwärts fanden sich
in 7, nach rückwärts in 4, nach der Seile in 2 Individuen.
Hydrops der Tuben mit beträchtlicher Verengerung ihrer Üslien
fand sich bei einer 41 jähr. Frau.
Haut.
Erysipel wurde in 4 Leichen beobachtet, sein Auftreten hatte ein-
mal spontan, dreimal im Anschluss an Wundflächen der unteren Extre
mitäten stattgefunden. Stets wurden die zu der erysipelatösen Haut-
parthie gehörigen Lymphdrüsen geschwellt und intensiv hyperämisch
gefunden, in zwei Fällen fand sich überdies eitrige Lymphangitis im
betreffenden Gefässslrang. Besondere Erwähnung verdient ein Fall von
Erysipel neben Elephantiasis der unteren Extremitäten. Bei einem
1.")jähr. Jüngling von früher guter Gesundheit waren im Sommer 1865
mehrfache rothe Anschwellungen der Haut aufgetreten an den unteren
Extremitäten, welche einige Tage standen, dann bräunlich sich färbten
und im Lauf von 2 bis 3 Wochen wieder verschwanden. Im Herbst
traten neben Fiebererscheinungen Schmerzen im rechten Unterschenkel
und der rechten Hüfte auf. In beiden Gegenden bildeten sichAbscesse.
Bald darauf kam es zu Eiterung der Leistendrüsen der rechten Seile
mit Aufbruch an fünf Stellen, aus welchen längere Zeil hindurch grosse
Quantitäten von Eiter sich entleerten. An Weihnachten 1865 begann
die rechte, etwas später die linke untere Extremität zu schwellen , die
Schwellung nahm allmählich so colossale Dimensionen an, dass sie den
Gebrauch der Extremitäten unmöglich machte. Dabei dauerte die Eile
rung am rechten Unterschenkel , in der Hüfte und Leistengegend fort
mit gelegentlicher Entleerung von Knochensplittern am ersteren Ort,
während die Constitution sich verschlechterte. Kurz nach der am
I.'). .luli 1867 erfolgten Aufnahme des Kranken in das Spital brach ein
Erysipel um eine Excorialion des linken Unterschenkels aus, welchem
der Kranke in wenigen Tagen erlag.
1 90 Wilhelm Müller,
Die Section ergab l)elrächtliche Abmagerung der oberen Körper-
hälfte, Schwund und Verfettung der Muskeln, Oedem des Sero tum, As-
cites, frische Embolie einzelner Lungenarterienzweige. Die Haut in den
oberen zwei Driltheilen des linken Oberschenkels und am Bauch ge-
röthet und stellenweise in Blasen erhoben. In der Leiste , Hüfte und
unter demKniee der rechten Seile mehrere von wulstigen Granulationen
umgebene Fistelöffnungen, aus welchen bei Di'uck Eiter sich entleert.
Beide Füsse und Unterschenkel , von letzteren namentlich der rechte,
vergrössert, der Umfang des rechten Fusses 49, jener des linken 52,
der der rechten Wade 52, jener der linken 41 Centimeter betragend.
Die Volumzunahme auf Haut und Unterhautbindegewebe beschränkt,
deren Dicke an den Unterschenkeln zwischen 4 und 6 , an den Füssen
8 Centimeler beträgt. Die Oberfläche der Haut theils glatt, Iheils warzig
und knotig uneben, die Schnittfläche von beiden weiss und reich an
far])loser spontan sich entleerender und alsbald gerinnender Flüssigkeit.
Die Muskeln beider Unterschenkel und Füsse gelblich verfärbt und atro-
phisch. Die Nerven sowie die Blut- und Lymphgefässe soviel von letz-
teren überhaupt aufgefunden werden konnte, ohne nachweisbare Ver-
änderung. Die Knochen des Fusses durch Rarefaction des Knochenge-
webes weich und leicht schneidbar. Die rechte Tibia nahe derTubero-
sitas an ihrer vorderen Fläche durch Osteophytauflagerungen verdickt,
stellenweise rauh, im Inneren mehrere haselnussgrosse glatlwandige
Abscesse enthaltend mit Sclerose der umgebenden Knochensubslanz
und mehreren zur Oberfläche der Haut führenden Fistelgängen. Das
Kniegelenk frei. Der rechte Schenkelkopf mit der Pfanne durch
knöcherne Vereinigung verbunden, sein Gewebe sclerotisch , die Rinde
des Femur an mehreren Stellen von Periost entblöst und rauh, letzteres
allenthalben verdickt, in den umgebenden Weichtheilen mehrere Abs-
cesse. Die Nerven beider Oberschenkel unverändert. Die rechtsseitigen
Venen mit Leichengerinnseln versehen, die linke V. saphena thrombosirl,
ebenso die Gruralis von der Einmündung der Profunda bis zur Verei-
nigung mit der Hypogastrica. Das subcutane Bindegewebe der rechten
Leistengegend mehrere narbig verdickte Stellen zeigend , ebensolche
finden sich unier dem Parietalperitonäum der vorderen Beckenwand.
DieGefässscheiden längs des ganzen Verlaufs der Art. iliacae namentlich
rechterseits beträchtlich verdickt, schwärzlich grau pigmenlirt, stellen-
weise von narbiger Beschaffenheit, die spärlichen dazwischen liegenden
Lymphdrüsen auffallend schmal, derb, graupigmentirt, augenscheinlich
in narbiger Umwandlung. Die lumi)aren Drüsen zum Theil geschwellt
und im Zustand intensivei- Ilyperämii'. Ich glaube, dass Verlauf und
Leichenbefund in diesem Fall zu der Annahme führen, dass dei Aus-
RpobachdiiißPii dos inilholo^isclion Iiistidils zu Jona im Jahre 1867. 191
gangspuncl des Processos in einer eitrigen Feriostilis und Endoslilis von
Tibia und Femur der rechten Seite zu suchen ist, woran secundär die
Eiterung der rechtsseitigen Leistendrüsen und, wahrscheinlich als Folge
einer Thrombose, der narbige Schwund der Lymphbahnen und Lymph-
drüsen im Verlauf der Art. iliaca ext. sich anschloss. Dass im Veilauf
des gleichnamigen Lymphgefässstrangs der linken Seite analoge Verän-
derungen sich vorfanden wie auf der rechten, erklärt sich durch die
Annahme, dass nach eingeleiteter Lymphstauung der rechten Seite mit
abnormen Stoffen beladene Lymphe (iurchCoUaleralbahnen dem Lymph-
gefässslrang der linken Seite zugeleitet wurde. Damit stimmt die Be-
obachtung, dass die rechte untere Extremität früher anfing sich zu ver-
grössern als die linke. Wenn wir mit G. Ludwig annehmen, dass in
Form der Lymphe ein wesentlicher Theil der Ernährungssäfte den Kör-
pergewel)en geboten wird, so erscheint die Volumzunahme der beiden
unteren Extreuntäten als eine nolhwendige Folge der Lymphstauung,
welche durch den narbigen Schwund der Drüsen und Lynphbahnen
im Becken bedingt war.
Bewegungssystem.
Von Verletzungen der Knochen ist ausser den schon besprochenen
Unlerschenkelbrüchen mit nachfolgender Fettembolie hier zu erwähnen
ein Fall von Bruch der 6. bis 9. rechten Rippe durch Ueberfahren mit
enormer Zerreissung der Abdominalorgane. Ein 21 jähr. Knecht wurde
von einem Lastwagen überfahren und erst einige Zeit nachher todt auf-
gefunden. Es fand sich eine breite ringförmige Sugillalion an der un-
terenParlhio des Thorax. Die 6. bis 9. Rippe in derGegend der grössten
Gonvexilät gebrochen, die Weichlheile des sechsten Intercostalraumes
von der Bruchstelle bis zum vorderen Ende durchrissen, in der Brust-
hohle etwa 200 CG. Blut. Der grosse Leberlappen vom Aufhängeband
und Kreuzband sowie vom kleinen Lappen abgerissen, frei beweglich
und so gedreht, dass der abgerissene obere Rand nach unten im Meso-
gastrium, der untere Rand mit der Gallenblase nach oben unter dem
Zwerchfell lag. Das Ligamentum hepato-duodenale, Leberaiterie ,
Pfortader und Gallengänge unverletzt. Ein querer Riss in der vorderen
Fläche der Milz, ebensolche in beiden Nieren. In der Bauchhöhle min-
destens 2 Kilogramm geronnenes Blut.
Bei einem iOJähr. Mann wurde eine Luxation des linken Ober-
schenkels gefunden, welche seit dem \ierten Lebensjahr bestanden
hatte. Die Exlremiläl Z(Mgte sich verkürzt und im Kniegelenk gebeugt
mit Ilerablreten der Patella auf die vordere Td)iakante und Umlegung
192 Wilhelm Müller, Beobiichtuiigen des piithol. Instituts zu Jena im .lahre 1867.
der letzleren nach Aussen. Die Gelenkflächen des Kniees unversehrt,
Extension jedoch nach Durchschneidung sämmtlicher Flexoren nicht
ausführbar, da augenscheinlich die hinteren Parthien der Gelenkkapsel
geschrumpft waren. Sämmtliche Oberschenkelmuskeln hochgradig atro-
phisch neben Verdickung der Fascien und Oedem des intermusculären
Bindegewebes. Die ursprüngliche Pfanne in einen dreieckigen mit ge-
wulsleten Knochenrändern versehenen etwa ^/y des normalen Umfangs
einnehmenden flachen Hohlraum vervvanilelt, welcher von Fett erfüllt
war. Dielncisura acetabuli mit der Anheflung des Ligamentum teres er-
halten, letzteres continuirlich zu dem nach hinten und oben dislocirten
Schenkelkopf verlaufend, welcher an seiner vorderen dem Darmbein
anliegenden Fläche abgeplattet und mit einer groschengrossen Schlifl-
fläche versehen war, während sein Knorpelüberzug allenthalben rund-
liche flache theilweise verkalkte Knorpelwucherungen zeigte, ganz ähn-
lich jenen eines an Arthritis deformans leidenden Schenkelkopfs. Die
neue Pfanne zeigte sich gebildet durch beträchtliche Osteophytwuche-
rungen auf dem Darmbein, der Grund in der Peripherie mit sehnigem
Bindegewebe überzogen, in der Mitte gleichfalls mit einer groschen-
grossen spiegelnden Schlifffläche versehen ; durch Verdichtung des Pe-
riosts und der ihm anliegenden Bindegewebsschichten war ein unvoll-
kommenes Labrum cartilagineum der flachen Pfanne zu Stande ge-
kommen.
Bei einer 7 /jähr. Frau fand sich Arthritis deformans fast aller Ge-
lenke, eines grossen Theils der Schleimbeutel und der Sehnenscheiden.
Der Fall wird im speciellen Theil ausführlich mitgetheilt werden.
^
Caspar Friedrich Wolff.
Sein Leben und seine Bedeutung; füi' die Lehre von der organischen
Entwickelung.
Von
Alfred Kirchhoff.
Es gibt wenig Männer, deren Gedanken und Werke für alle naeh-
koinmenden Geschlechter denkender Menschen so unstei'blich und deren
persönliches Forlleben in der geschichtlichen Erinnerung doch ein so
verküuuiierles ^^äre wie beides bei dem grossen deutschen Physiologen
Wolff der Fall ist. Auch ohne die Betrachtung der wissenschaftlichen
Bedeutsanikeil dieses Mannes voranzustellen düifen wir daher wohl
für den Versuch, das Andenken an seine Person unverdienter Ver-
gessenheit zu entreissen, ja selbst für die kleineren Züge seines Lebens-
ganges ein entgegenkommendes Interesse voraussetzen. Schon bei einer
früheren Gelegenheit 'y suchten wir einiges llierhingehörige zusammen-
zuslellen und waren so glücklicheinige, iheils für Wolff's Berliner Lehr-
Ihätigkeit entscheidende, theils für den an der Berliner medicinisch-
chirurgischen Schule zu Wolff's Zeiten herrschenden (ieisl charakteri-
stische Schriflslücke in alten Actenslossen des königl. preussischen
(lultusminisleriums zu entdecken. Indem \\ ir hinsichtlich dieser und
andeier schon damals benulzlen Ont^"*"'^ <'i'f .jc'ne Schrift verweisen,
schliessen wii- in die gegen wiirlige Darstellung die ]>ishei' ganz übersehenen
1 Mitlheilungen des Dr. Murslnna*'') (eines Ammanuensis von Wolff und
praktischen Arztes, dessen in Berlin noch mancher Lebende dankbar
gedenkt) und Selbstbekenntnisse Wolff's aus seinem Biiefwechsil ein,
den er mit IIallkk geführl hat und auf den wir erst durch einen Becen-
1) Die lilee der Ptlanzen-Metatnorpliose i)ei Wolif und bei Goethk. Boilin 1S67.
•i] Abgedruclit in Goethe's Werlie »Zur Morphologie« 1. Ud. pag 25^(1'. der
Ausgabe von 181 7.
Band IV. 2. 13
194 Alfred Kirclihoff,
senten unserer Abhandlung in Goeschen's Zeitschrift für wissenschaft-
liche und praktische Medicin des Näheren aufmerksam gemacht wurden.
VVolff's Leben.
Caspar Friedrich Wolff ist ein Berliner Kind und hat mit unserm
grossen Dichter-Naturfürscher Goethe , dem er in der Entdeckung der
Pflanzen-Metamorphose den Rang al)lief, das gemein, dass seine Vor-
fahren dem ehrsamen Schneiderhandwerk angehörten. Wie (iOethe's
(irossvaterein Schneiderin Artern an der Unslrut, so warWoLFp's Vater ein
Schneider in Berlin. Glücklicherweise war jedoch auch der Schneider-
meister Wolff wohlhaliend genug, um dein kleinen Caspar Fiuedrich,
der schon frühzeitig Talente zeigte, einen gelehrten Schulunterricht an-
gedeihen zu lassen. Wissen wir auch nicht, auf welcher Schule Berlins
Wolff seine allgemeine Vorbildung erhielt, so ist es uns doch um so
sicherer, nämlich durch seine eigene Erzälilung, bekannt, dass er auf
dem Collegium medii^o-chirurgicum seiner Vaterstadt in sein Special-
Studium, das der Medicin und Naturwissenschaft, eingeweiht wurde.
Im Jahre 1733 geboren, war er kaum 20 .lahre alt, als er unter .Iohann
Friedrich Meckel, dem I^rofessor der Anatomie an dem medicinisch-
chirurgischen Institut, sein erstes Präparat — ein Muskelpräparat vom
Fuss eines Hydropischen — fertigte. Er scheint mehrere Jahre Zuhörer
undPracticant im Collegium geblieben zu sein, bis er zur Erlangung tie-
ferer und allgeuieinerer Wissenschaft die Universität Halle bezog. Hier
reiften bereits in ihm die Ideen der grossen Revolution, die er auf dem
Gebiete der organischen Naturwissenschaft verursachte ; nicht als
Wunderkind, aber doch als junger Mann von 2l(i Jahren vollzog er in
seiner berühmten Dissertation mit jugendlicher Entschlossenheit den
Bruch mit der seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts herrschend ge-
wordenen , jetzt aber von dem grossen Haller so glänzend vertretenen
Theorie der Evolution. Am 28. November J 759 war es, wo er unter
den solennen akademischen Feierlichkeiten seine Theoria Generationis
d. li. seine Theorie von dem wirklichen Werden der Organismen aus
einem Keim, der den fertigen Körper noch nicht in mysteriöser Präfor-
mirung birgt, also die »Epigenetik«, die Lehre von der wahren «Ent-
wickelunga öffentlich vertheidigte und die Doctorwürde als Siegespreis
davontrug.
In der nächsten Folgezeit find( n wir ihn wieder in Berlin, von wo
er kurz vor dem Weihnachtsfest I7ü9 seinem grossen und von ihm stets
mit tiefster Ehrfurcht genannten Gegner Albrecht von Haller die Dis-
sertation zusendet. Vielleicht hatte er jetzt noch einen Cursus am
Caspar Kiiedricli Woltl". 195
n»ediciniscli-elnringischon Colleiiium zu absolviren , da ihm jene Voi-
sludieii der l'i iilicren .lalii'e wolij nicht als (Mn solcher t^eiTchnil wui'den
und nach allgemein gültiger Vorschrift dem »Obercollegium medicum«
das Testat über die Absolvirung jenes Cuisus wegen Zulassung zur
n)edicinischeu Staatspiüfung vorgelegt werden mussle.
Nun war damals in dem mörderischen Krieg der sieben Jahre eben
die goldene Zeil für Aerzte und Chirurgen erschienen. Der vortreflliche
CoriiKNius halle die Leitung des gesammlen Fcldlazarelhwesens üb r-
nommen und war nicht gesonnen durch das gewissenlose Naluralisiren
gar nicht wissenschaftlich gebildeter Feldscheere die Opfer des Kriegs
zu vermehren: er forderte deshalb im Berliner Gollegium wie in den
Lazareth-Lehranstalten Studien in Osteologie, Myologie und Splanchno-
logie, die allem Operiren vorangehen sollten. So war es ihm denn ge-
rade recht, in dem 1761 von ihm als Feldarzt beim BreslaiierFeldlazareth
angestellten Dr. Woi.ff den iMann zu linden , der mit logischer Klarheit
und \ ollster Beben schung des wissenschaftlichen Materials den jungen
Feldwundär/.len Vorlesungen über Anatomie halten konnte; er enthob
ihn daher bald von dem gewöhnlichen Lazarelhdiensl, um sein Lehr-
talent desto vollständiger vervverthen zu können. Damals (1762) war
es, wo ihn nach der Eroberung von Schweidnitz Mursinxa zuerst sah
um! ihm alsbald, obgleich erst ein Siebzehnjähriger, als Ammanuensis
bei seinen Vorträgen vor mehreren Hunderten von angehenden Feld-
wundärzten hilfreich zur Hand ging. An Cadavern war nie Mangel,
und auch mit aus diesem Grunde waren Woi.fk's ausgezeichnete Vorträge
dermassen anziehend, dass bald sämmtliche Militär- wie Civilärzle der
Stadt Breslau sich zu seinem Auditorium drängten.
Aber so vortrelTlich die Leistungen Wolff's nach Ausweis der
monatlichen Examina seiner Schüler waren — das Friedensjahr kam,
und mit den andern wurde auch das Breslauer Feldlazareth aufgehoben,
Docenten und Aerzte entlassen. Wolff hatte sich zwar schon im Früh-
jahr \lQf2 an seinen hohen Gönner GornKNUis mit der Bitte gewendet,
ihm die Erlaubniss zu öffentlichen Vorlesungen über Physiologie in Beilin
auszuwirken, die engherzig zünftigen Professoren des dortigen Golle-
giums weigerten sich jedoch mit eifersüchtiger Betonung ihrer ))Privile-
gia und Prärogativen^ energisch den Störenfried in ihren freiinds elter-
lichen Verband der Schwagerschafl und des Nepotismus aurzunchmeii.
Jetzt, nach Auflösung der BresIau<M' Lazareihschule , war daliei' Wt)LFF
trotz dei- unschätzbaren Dienste, die er dem Staat in traurigster Zeit
geleistet, brodlos. Er zog nun ins elterliche Haus nach Berlin zurück,
und hier fand ihn MrRsiNNx, den sein Genius auch bald danach hieiher
fühi-le, im engen Schneiderstid>cli(Mi unter Büchern \ ergraben. Trüli-
13*
1 96 Alfred Kirchhoff,
selig scheint WoLFF indessen den Gefährten von Breslau nicht empfangen
zu haben, denn schon hatte er von Cothemvs dieErlaubniss zuPrivat-
voriesungen erhalten, und, konnte er auch bei der sich zu offener
Feindseligkeit steigernden Abneigung der Collegiuuisprofessoren gegen
ihn zu keiner, auch noch so bescheiden dotiitcn, Professur, zu keiner
Mitbenutzung weder der Apparate des CoUegiums noch der aus oti'ent-
lichen Kranken- und Armenhäusern dorthin gelieferten Cadaver ge-
langen, so ging er doch rüstig ans Werk, machte den jungen >li rsinxa
abermals zu seinem Ammanuensis und liess ihn zunächst die Zettel \er-
tlieilen, auf denen sich zu seinen angebotenen Vorlesungen die Anneh-
menden eintragen sollten. Und in Kurzem gab es der Unterschriften
auf diesen Zetteln so viele, dass man Noth hatte, einen die Zuhörer
fassenden Saal ausfindig zu machen.
Es mögen Wolff's freudigste Jahre gewesen sein, wo er immer
neue jugendliche Anhänger für seine immer tiefer durchdachten, immer
klarer dargestellten Theorien sich erwarb, wo er zugleich für seine
wissenschaftliche Stellung und für seine persönliche Lage den >^Kampf
ums Dasein^c in frischester Manneskraft durchkämpfte. Er las mit
Meislerschaft ein Colleg über Logik und wusste die Medicin wie eine
angewandte Logik vorzutragen, was der damaligen medicinischen Wissen-
schaft zu mancher Säuberung von phraseologischer Tradition und von
unklaren Zuthaten neuer Hypothesen genützt haben wird. Daneben
soll er Pathologie und specielle Therapie gelesen haben, als wenn er
der grössle praktische Arzt gewesen wäie; zumal aber seine Generatious-
Theorie verfolgte er mit erneutem Eifer und gab I 764 eine deutsche,
ursprünglich nur für einen engeren Freundeskreis berechnete, Bear-
beitung derselben für seine Zuhörer in Druck. Seine treusten Gefähiten
waren und blieben ilie Hühner, die ihm um die Wette Eier legen nmss-
len, damit er jede Viertelstunde eins aufbrechen und das Werden und
Wachsen des Embryos unter dem Mikroskop verfolgen konnte.
Natürlich brachten seine physiologischen Ketzereien die alten Per-
rücken des CoUegiums in immer grössere Aufregung. Der ältere Meckel,
sein früherer Lehrer, und Professor Walther zogen auf dem Katheder
gründlich über ihn los, und ihre Schüler wie die Wulffs lebten in
förmlicher Fehde. So sehr man es aber selbst dem kurzen Berichte
Mlrsinna s anhört, mit w ie frischem Muthe dieser Kampf geführt wurde
bei seiner inneren Siegesgewissheit und seinen entsprechenden äusseren
Erfolgen »der Bekehrung und Versanmilung der Meisten zu den Fahnen
des Wolfs« — endlich erlahmte bei den ewigen neidischen Intriguen
seiner Gegner, bei dem ewigen Erw ledern seiner offenen, freilich
r aspar Friedrich Woltr. 197
scharfen Sohwertstroiche mit hoiintUckisch»-!! Nadolslirhen auch Wolffs
Lnsl am \V>ilPrk;iriipf inil tlonirliti iincleichen Watren.
FUi' dio (iewinuung einer iiusserlirli cesichorten Kxislenz wurde
somit dieser Kampf immer aussichtsloser, und um so freudiger wurde
dahfrderHufdor grossen Kaiserin aus fernen» Norden von ihm willkommen
gehrissen, der im Jahre 1 76(3 an ilin gelangte. Kine heftige Augenent-
zündune, an derer im Winter H 766 zu 67 litt, scheint ihn von derReise
noch einige Zeit zurücksehalten zu haben, aber sein Entschluss, dem
Rufe der Kaiserin Katharina nach Petersburg Folge zu leisten . stand
bereits bei ihm fest. Wohl war es ein Entschluss, der n)it Resignation
verbunden war: fern von der Vaterstadt . im kalten Nordlande, ohne
den ewig frischen Kranz l)egeisterter Schüler um sich zu haben und
ausser allem näheren Verkehr mit europciischer Wissenschaft sollte er
von nun au leben I — In einem Rrief an Haller verzichtet er schraerz-
lieh auf die verheissene Zusendung des :?. Theiles von dessen Opera
niinora , da er nunmehr, wi» seine Abreise vor der Thür stehe, «kein
L'ebersendungsmiltel in die Ferne« absähe. Aber ein Unterpfand der
Heimath erkor er sich, da er zum letzten Mal in seinem Leben deutsche
Frühlingsluft alhmete: er liess sich »ein armes aber schönes Mädchen«
in Berlin antrauen und trat mit ihr etwa gegen Ende April 1767') die
Reise an.
Hatte er bis jetzt vorwiegend als Lehrer gewirkt und nach Mirsi>>a's
Versicherung viele grünclliche Aerzte gebildet, die den Segen der von
ihm erhaltenen klaren imd praktischen Unterweisung der leidenden
Menschheit weit und breit zutrugen durch die Länder Europas. — so
begannen nun ruhigere .Jahre stillen Familienglücks und unablässiger
Forschung auf dem Gebiete der blos theoretischen Wissenschaft. Noch
stand ja Wolff in der Blüthe seiner Jahre, und war er auch nur mit
NOO Rubeln neben iOO Rubeln Reisegeld) nach Petersburg berufen,
so konnte er doch bei aller Bescheidenheit seiner Verhältnisse mit seiner
anspruchslosen Gattin, zumal seine Ehe kinderlos blieb, ungestört fleis-
sige und in so fern herrliche Jahre verleben. Man vermag wohl nicht
mehr d;ts Häuschen zu zeigen, wo der grosse Mann in stiller Zurück-
zogenheil vor dem Thore der modernsten Kaiserstadt der Welt w ohnte :
jber die Werke, die er hier schuf in fast :'7 arbeitreichen Jahren, wer-
den der Stolz der russischen Akademie bleiben , als deren Mitglied er
berufen war und für deren Denkschriften er sie schrieb.
Am ... Feliruar 1701 machte ein Schlagfluss seinem Leben plötz-
«) McRSiSNAb Angabe, d>«>s er bis l TöS in Berlin docirt halle, kann nur auf
einem Irrihum berulieo.
1 08 Alfred Kirchhoif,
lieh ein Ende; in dem fremden, eisii^en Botlen grub man sein Grab, und
Deutschland mussle es gescliehen lassen , dass einem seiner besten
Söhne Fremde den Nachruf widmeten; doch sie Ihaten es in edler
Weise, indem sie seine Werke für ihn reden Hessen und indem sie ver-
sicherten, dass die Grösse eines solchen Verlustes über jeder Phrase er-
liaben sei, dass sie nur eins zu sagen vermöcliten: er habe »Alles ge-
Ihan für den Fortschritt seiner Wissenschaft.«
Versuchen wir es, die Wahrheit dieser Worte der Petersburger
Akademie durch die Charakteristik von Wolff's Stellung in der Ge-
schichte der organischen Naturwissenschaft zu erhalten.
Die Prädelineations- Theorie.
Nichts hat in dem Studium über die Natur desOrganismus so sehr
Kpoclie gemacht als die F^rlindung des Mikroskops. Als das 16. Jahr-
hundert diese Erfindung in ihren ersten Anfängen dem 17. zu weiterer
Vervollkommnung vererbte, fühlte man sich mit immer wachsendem
Staunen einer neuen, nie geahnten Welt gegenüber. An die Entdeckung
überseeischer Welten hatte man sich seit mehr denn hundert Jahren
gewöhnt, und dass es in weiten Fernen Wunderdinge gäbe, hatte man
ja längst geträumt; das Wunder war eigentlich nur dies: dass der
Traum zur Wahrheit geworden. Dass es aber in der altbekannten Welt
unzählbare Wunderwelten in dem schlichten Gewand der alltäglichsten
Erscheinungen gäbe, dass nur die Unvollkommenheit des menschlichen
Gesichtssinnes tausend und aber tausend Geschöpfe, ja die üppigste
Fülle winziger Keime der schon vordem bekannten Wesen im Innern
dieser selbst übersehen hatte, die jetzt nun dem scharf bewahrten Auge
offenbart wurden, — das erfüllte mit solchem Stolz gegen alle Vorzeit,
dass man in Pflanzen- und Thierforschung am liebsten jede Beziehung
zu der älteren Wissenschaft abbrach. Man fühlte sich plötzlich ganz
emancipirt sogar von den höchsten Autoi'itäten des Alterthunis , denen
das ganze Jahrtausend des Mittelalters so blind gehuldigt hatte. Und
besass man nicht das vollste liecht zu sagen : was bindet micii die alte
Theorie, und wenn sie auch dem Genie eines Auistotkles entstammt ist,
meine Reobaelilungen sind durchaus neu, von ihnen ausgehend muss
ich ganz natürlich zu neuen Schlüssen geführt \\ erden , deren gründ-
lichster Widerspruch mit der alten Theorie niicli nur mit Stolz auf den
Fortschritt unsrer Zeit zu erfüllen braucht !
Des grossen Haiivky Ausspruch »ümne vivum ex ovo«, dieses Er-
gebniss der mühsamsten und für jene Zeit unübertrefflichen Unter-
suchungen, duifte man sicherlich ohne Ueberhebung den aristotelischen
fiispar Friedrich WolfT. 199
Ansichten von Enlstohunj^ (lc>r A;iIo, Milck(>n. I'löiir, ;uis Scliliimin oder
Staub, siegesbew usst entgegenhalten. Aber man ging auf dem Wege
der Erklärung des Grossen aus dem Kleinen weiter inul weiter, w i(!
auf einer abschüssigen Bahn, und endlich überstürzte man sich. Man
kam auf den verhängnissvollen (ledanken: das thierische Ei und, was
man demselben irrthümlicherweise analog glaubte, der Same der
IMlanze schliesse , wenn auch in kaum sichtbarer Kleinheit, nicht nur
die Anlage zum Organismus, sondern diesen selbst in ein(M- derailigen
Zusammengedränglheit der Theile ein, dass uns daraus der trügerische
Schein unförmlicher Bildung der einen, ja völligen Fehlens der andern
Organe erwüchse. Recht charakteristisch ist für diese psychologisch
sehr wohl erklärbare Verirrung aus der kaum eroberten Welt der mi-
kroskopischen Wunder in die der völlig unsichtbaren oder wenigstens
fiu" die doch immer nur i'elative Vollkonunenheit der eben zu Gebote
stehenden optischen Instrumente unsichtbaren W>lt ein Ausspruch eines
Schülers Lin.n6's, der im Kampf für die noch zu erwähnende Prolepsis-
Theorie äusserte: »Was wir mit den Augen sehen, das müssen wir doch
für wahr halten, dass nämlich im Samen das winzige ürgebilde der
neuen Pflanze verborgen ist sammt ihren Blattknospen, die noth wen-
diger Weise (!) wieder Knospen und Knöspchen in sich haben«'].
Man hatte in den Cotyledonen verborgen die Plunmla entdeckt, in der
That schon das junge Pflänzchen mit all seinen wesentlichen Organen,
den Blatlspitzchcn am Rudimente des Stengels, der an seiner Basis so-
gar schon das Würzelchen zeigte. Hatten die Früheren auch die That-
sache längst gewusst, dass aus der Eichel, ein Eichbaum erwüchse, —
das hätten sie doch nie geglaubt, dass der Eiche Stamm, Wurzel und
Laubkrone nicht erst aus der Eichel neu entstünde, sondern bereits
in ihr enthalten gewesen, dass alles Wachsen nui' dem Herausschieben
der Röhrenstücke eines Fernrohrs gleiche. Da schien es doch fürwahr
unberechtigte Skepsis, in den Blattachseln des Keims kleinere Knospen,
in diesen noch kleinere, auch Blülhenknospen, folglich auchl'^ichbiiume
fernerer Generationen in infinitum, in ihnen zu unsichtbarer Klciidieit
zwar zusammengezogen, aber nichts desto \\eniger doch voihanden —
leugnen zu wollen I Man ahnte gar nicht die Falschheit dieser Analogie-
Schlüsse, man glaubte völlig auf dem Boden der Erfahiung zu stehen
und hatte doch so ganz entschieden die einzig mögliche Richtschnur
aller Naturwissenschaft verloren: die sinnliche Wahrnehmung.
Die beslcMi Köpfe sehen wir denn auch in die Zauberkreise dieser
Trugschlüsse verfangen, mamlic mit glühendem Enthusiasmus die
1) LiNNE, .\moenitates academicae. VI, p. 340.
200 Alfred Kirchlioff,
Grossai'tii^keit dieser )iEntfleckun2;« preisen, andre sich wenigstens in
unbefangenster Hingabe mit diesen Ideen befreunden. Wenigstens
höchst »wahrscheinlich« dünkte diese J^ehre vom unsichtbaren Dasein
organischer Wesen in allen ihren Theilen, und wie leicht vertraut der
Mensch in Fällen, wo er die W^ahrheit nicht erforschbar wähnt, der
^^'ahrscheinIichkcit, die ihm zuletzt der Wahrheit gleichwerthig er-
scheint. Eine treffliche Benutzung dieser angeerbten Seeleneigenthüm-
lichkeit hörte ich einmal den redegewandten Jesuitenpater Hassl.vcher
zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele machen ; in rhetorischer
Anaphora lingirte ei' ein Evangelium, das an den Staub erginge, der
da einePtlanzc norden solle und doch die unfassbare Höhe dieses (ilücks
nicht glauben will, ferner nach Verwirklichung des unglauljhaft ersciiie-
nenen Wunders ein ähnlich misstrauisch aufgenommenes Evangelium
an diese Pflanze, dass sie einThier werden solle, ein ferneres an dieses
Thior, dass sein Stoff einst die Anlage eines Menschen werden solle,
und nachdem er sich sogar in verfänglich physiologischer Evangelisten-
Anrede an den Fötus gewendet, der gewiss die Freude das Licht der
Sonne dereinst zu schauen in seinem engen Kämmerlein nicht hätte
fassen können, schloss er mit emphatischen Hinweis darauf, dass es
auch bei den dem Fötuszuslande entwachsenen Menschen die ent-
sprechende Erscheinung nur zu allgemein gäbe, dass es wie auf den
Vorstufen sehr natürlich, aber ebenso thöricht sei, dem Glück der Ver-
heissung misstrauisch entgegenzusehen. Natürlich überzeugte er damit
viele, denn in der That war es ad hominem gesprochen. Die Wissen-
schaft der beiden vorigen Jahrhunderte ging unl)cwusst den gleichen
Weg.
Ehe wir jedoch bei dem uns beschäftigenden trügerischen Analogie-
schluss den Mann auftreten lassen, der es njuthig ausspricht: »die Bot-
schaft hör' icli wohl, allein mir fehlt der Glaube!« — ist es nothwendig
genau die Form zu charakterisiren, zu dvr sich di'r Glaube an das un-
sichtbare Sein im Laufe des 17. und I S. Jahrhunderts ausgebildet hatte.
Das Mikroskop lehrte das Vorhandensein von Dingen , die man in der
Zeit des unbewaffneten Auges dcshall) für nicht vorhanden ge-
halten hatte , weil n'ian sie nicht gesehen , man hatte irrthümlich da
von einem Neuwerden geredet, wo es sich wirklich nur um ein Aus-
wachsen des schon vorhandenen Thieres, dei' schon vorhandenen
Pflanze handelte, und wenn alle Oiganismen aus elterlichen Organismen
hervorgehen, so müssen (li(\se die junge Brut als Theile ihres Inneren
schon bergen, diese wicdtM- eine folgende Generation u. s. f. Selbst
beider bisaufs Aedsserste getriebenen VerbessennigderVergrösserungs-
gläser können uns diese Einschachtelungen unsichtbar bleiben , denn,
Caspar Friedrich Wolll". 201
\\\c ihr Nanio s;\u,[, können diese (ilUser vamw zfuiborpleieh (las Kloinn
uross orselioinon losson, — ;iber nienmls d.is Dn i'ch s i ehli go iin-
(In rchs ich t i". Und inil dicseni so nnzweifolhafl wahren Satze stand
iiKin iUM H.'indo des Abiirundes und wieder hatte der Sulz, der über alle
(Frenzen der Wissensehafl in das freie Luftreich der Hypothesen hinaus-
trieb, eine scheinbare Berechtigung durch die auf diesseitigem Gebiet
gemachte Erfahrung, dass dieJugendzustiinde den Organismus in feinster
Durchsichtigkeit seiner Theile unter dem Mikroskop erscheinen Hessen,
oft selbst Injeelionen die farblose Krystallhelie nicht zu ändern ver-
tiioehten. Wir sehen : man traute ganz sicher dem Schluss, dass die
sinnliche Wahrnehmung unzureichend sei, dass die Verkennung dieser
Th.ilsaclie ganz irrig zur Theoiie von einem Neuwerden , von einem
wirklichen Werden der Dinge geführt hätte, dass da, wo man wegen
nicht zu grosser Kleinheit und Durchsichtigkeit vermein tliciies Werden
belauschen könne, nur Grösser- und Undurchsichtigwerden Thatsache,
\\ («rden also überhaupt nur Dogma, eitles Phantom sei.
Nicht ganz genau pllcgl man heutzutage die auf solcher Grundlage
errichtete Lehre von organischer Ausbildung die Theorie von der Evo-
lution zu nennen. So wurde vielmehr nur die eine AuH'assung der
Theorie vom sichtbaren Darl)ilden des unsichtbar Dagewesenen genannt,
die nämlich, welche den Organismus in der Periode seiner Unsichtbar-
keit im VA sich latent dachte; diesen )iOvistenc(, an deren Spitze
MAi.PKiiM und Malebranciie standen, traten die )iAnimalculisten« gegen-
ul)er, welche, geführt von Hartsoekkr und Leklwenhoek, ein System der
I'räf orma t ion aufbauten, in welchem die Zoospermicn (»animaicula
seminis«) die Stelle der Eier vertraten. Entscheiden Hess sich dieser
Streit ebensowenig wie die Frage, ob die Engel in dem östlichen oder
westlichen llinunelsraume wohnen. Und schon darum, weil auf dem
Gebiet der Pllanzcnforschung beide Richtungen nicht deutlich aus ein-
.mdertr.'iten, können wir hier mit dem alten Namen derPrä del inea tion
beide Hichtungen zu einem wesentlich auf dasselbe hinauslaufenden
System verbinden, nach welchem das Leben des Individuums durch
die Zeugung nicht begründe l, sondern nur zu einer neuen und zwar
dem menschliehen Auge sichlbaren Form erw eckt wird.
Die vollständigste Ausbildung erreichl(> dieses System im vorigen
Jahrhundert durch Leibmz, Bü>xkt und ILvller. Obgleich Leibniz
keine neuen Untersuchungen zur weiteren Begründung der merkwür-
digen Theorie iinslcllte, war er doch nicht nur durch sein unzweifel-
haftes Genie ein unschätzbarer Parteigänger, der kleinere Geister mäch-
tig mit forlriss, sondern er Inig auch wesentlich zur Enlw ickUing dieser
Lehre bei, indem er sie consequent ausdachte und der Daseinsgeschichte
202 Alfred kirchhoff,
des Körpers die der Seele hinzufügte. Aller lebendige Stoff ist ihm be-
seelt, er ist lief durchdrungen von dem unlösbaren Band zwischen
Seele und lebendigem Körper, die in ihrer Zweieinigkeil das Individuum
(»die Monade«) bilden. Wenn aber, wie er den grössten Forschern seiner
Zeil glaubt, der Organismus schon vor der Geburt da war, so war auch
seine Seele da, und wenn es nur für den blöden Sinn des Men-
schen ein Werden, in der That nur ein Sein gibt, so ist nicht bloss die
Geburl ein nur scheinbarer Anfang, es ist vielmehr auch der Tod
ein nur scheinbares Ende, das Leben nichts als ein Durchgang aus einem
unsichtbaren Zustand durch den dem Menschen sichtbaren in einen
anderen unsichtbaren. »Die Philosophen«, sagtLEiBMz in der Monadologie
(Op. phil. p. 71 1), »haben sich viele Schwierigkeilen gemacht mit dem
Ursprünge der Formen, Entelechien oder Seelen. Indessen haben gegen-
wärtig genaue Untersuchungen, angestellt mit Pflanzen, Inseclen und
Thieren , zu dem Ergebniss geführt, dass die organischen Körper der
Natur niemals aus einem Chaos oder einer Fäulniss hervorgehen, son-
dern allemal aus Keimen (semences) , in denen ohne Zweifel schon
eine Präformation vorhanden war ; so hat man geurtheill, dass in dieser
Anlage nicht blos der organische Körper vor der Zeugung exislirte, son-
dern auch eine Seele in diesem Körper, mit einem Wort das Indivi-
duum selbst, und dass vermittelst der Zeugung dieses Individuun»
nur fähig gemacht werde zu einer grossen Formwandelung, um ein
Individuum anderer Art zu werden. Man sieht selbst etwas Aehnliches
ausserhalb der Zeugung, wie wenn die Würmer Fliegen und die Raupen
Schmetterlinge werden.« Leibniz war also ganz consequenter Anhänger
der Präformations-Theorie, glaubte, dass das Individuum aus der un-
sichtbaren in die sichtbare Welt durch eine Art Metamorphose übergehe,
und natürlich erlaubte sein echt w issenschafllicher Monismus auch kei-
neswegs den Menschen anders zu betrachten als die übrigen Organis-
men. An einer Stelle seiner Theodicee , in der er sich auf die mikro-
skopischen Beobachtungen Lkeiwenhoek's ausdrücklich beruft, sagt er
(p. 527 der Op. phil.) : «So sollte ich meinen, dass die Seelen, welche
eines Tages menschliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von
anderen Species , dagewesen sind , dass sie in den Voreltern bis auf
Adam, also seit dem Anfang der Dinge immer in der Form organisirter
Körper existirl haben.«
Hatte die Prädelinealions-Theorie in Leibmz einen ausgezeichneten
Befürworter gefunden, dessen bewundernswerlhe Darstellungen in
weitem Umfang Einfluss gewannen, so fand sie in Bonxet einen uner-
müdlichen Forschei-, der in seinem Eifer, dieser Lehre immer mehr
empirische Stützen zu schaffen der Naturwissenschaft bleibende Güter
fiispar Kriodrich WollT. 203
pewnnii. Wir oriniiciii mir ;in seine iiieislerhaflen rntersueluingen über
die Blaltläuso (verölVenllicht 1 7 i') in seinem Tniite d'iiiseclologie I, pag.
2(1 f.). Es war vielleicht der werthvollsle Gewinn für die Theorie der
Kinschachleluni; kUnl'liger Generationen in früheren, dass Bonnet durch
Absperrung und fasl stündliche Beobachtung eine« Exemplars der Aphis
rosae dasselbe nach viermaliger Häutung am 11. Tage trotz absoluter
Jungfräulichkeit eine lebendige Tochter, ja innerhalb weiterer 20 Tage
neben der ersten nicht weniger als Oi zur Welt bringen und diese die
Parthenogenesis der Mutter treulich nachahmen sah. Das war zugleich
ein Sieg der Ovislen über die Animalculisten. Wollte man den Werth
der Befruchtung durch Zoospermicn in diesem Falle nicht gänzlich in
Abrede stellen, so blieb nichts übrig als zu thun was Haller that: an-
zunehmen, das Urexemplav einer weiblichen Aphis sei befruchtet wor-
den von dem Samen eines Männchens, der kräftig genug gewesen wäre,
alle Hüllen der unzähligen in einander gekapselten Thierc der folgenden
Generationen zu durchdringen und diese für Jahrtausende zu befruch-
ten'). Auch versäumte Haller bei Erwähnung dieses Vorgangs, der
wenigstens den Schluss auf vielfache Einschachtelung nicht einmal
der Befruchtung zur Evolvirung bedürftiger Thiere zu gestatten schien,
nicht auf dasLieblingsthier derEinschachtelungstheorie, aufVolvox glo-
bator zu verweisen, wo man sich in der That von der Coexistenz meh-
rerer Generationen in je einem Individuum der jedesmal älteren Gene-
ration durch den Augenschein überzeugen konnte.
Dass sich Albrecht von Haller, dieser Johannes Müller des vorigen
Jahrhunderts, der Theorie mehr und mehr annahm, trug nun vollends
zu ihrer Befestigung und Verbreitung bei. In früheren Schriften hatte
er ihr noch gar nicht das Wort geredet, erst seine 1758 erschienenen
Beobachtungen über die Bildung des Herzens im bebrüteten Hühnerei
zeigen ihn im Lager der Ovisten, als entscheidenden Vertreter der Mal-
i'iGHi'schen Ansicht. Und im darauf folgenden Jahrzehnd konnte man
sagen, dass durch Bonnet's Aufsehen erregendes Werk unter dem Titel
»Gonsiderations sur les corps organises«, vor Allem aber durch die den
ganzen physiologischen Wissensschatz der Zeit in sich sammelnden Ele-
menta Physiologiae des grossen Schweizers die Theorie ihren vollen
Ausbau gefunden habe.
Die präciseste Fassung der Sache steht im 8. Theil der Elemente
unter der siegesgewissen Ueberschrift: Nulla est epigenesis — es gibt
kein Wertlen! »Nulla in corpore animale pars ante aliam facta est,
et omnes simul creatae exislunt.« Da ist Hallkr Evolutionist vom rein-
\^ Halleri Elemei)ta IMiysiolo^ia''. VI p. 155. —
204 Alfrpd Kirchlinff,
sten Wasser: kein Cotnprnniiss inil irj^ciul piner gegnerischen Ansicht,
wenn es noch irgend wo eine solche gibt, Absagung selbst von den
eigenen früher gehegten Zweifeln gegen die Theorie der Ovisten. Was
konnte mehr wirken, als wenn ein Haller selbst sagte, was er früher
gegen die Theorie der Evolution vorgebracht habe, wie z. B. die Un-
ahnlichkeit des Fötus im Vergleich mit dem ausgewachsenen Thiere,
beweise nur für dieselbe (ib. p. I iS), denn eben weil nicht gleich alle
Theile des sich evolvirendcn Thieres in die Erscheinung träten , müsse
der Fötus nolhwendig missgestaltet aussehen. Wenn der eine Forscher
behaupte, zuerst entstehe das Herz, der andre dasselbe vom Hirn , ein
dritter dasselbe vom Hirn und Rückenmark behaupte, so sollten sich
doch diese Männer bescheiden, dass sie eben diese Theile »zu der Zeit
mit Augen gesehen, wo die übrigen Theile verborgen waren«, die aber
in Wahrheit mit jenen seit dem Schöpfungstage coexistirt hätten. Da})ei
schrickt Hallkr indessen auch vor keiner Gonsequenz zurück, die sich
mit Nothwendigkeit aus dem Leugnen des irdischen Werdens ergab.
So behauptet er die (nur latente) Existenz des Geweihes beim eben ge-
borenen Hirsch, des Bartes beim Knaben, alles dies mit derselben Zu-
versichtliclikeit wie das Dasein des Darms oder der Nieren und des
Herzens zur Zeil des vielleicht noch allein sichtbaren Rückenmarks.
Ausgehend von der Annahme eines OOOOjährigen Bestandes von Erde
und Menschheil, einer 30jährigen Durchschnittsdauer des Menschen-
lebens und einer Kopfzahl von 1000 Millionen gleichzeitig lebender
Menschen, berechnet er endlich das Minimum der von Golt auf einn)al
erschaffenen Menschen auf 200,000, 000, 000, wobei er es dem Ge-
schmack der Zeit überlässt, sich dieselben entweder als Animalculist in
Adams Hoden oder als Ovist in Eva's Eierstock zu denken (ib. p. 150).
All solche Gedanken waren aber noch vielmehr der Wissenschaft
nachtheilig als einfach unnütz. Was nämlich nuisste die Folge da-
von sein, dass Haller in dem Zeugungsact nichts anderes als eine »In-
stimulalion« sah, durch \\ eiche im weiblichen Körper irgend ein Graaf-
sches Bläschen des Eierstocks einen Riss bekam und durch diesen Riss
in unsichtbarer Kleinheit das Junge in den Eileiter und weiter in die
Gebärmutter schlüpfen liess , .um sich da endlich zur Sichtbarkeit zu
evolviren ? Ganz abgesehen \on der hierin ausgesprochenen Unklarheil
über das Yerhältniss des Eies zum GRAAp'schen Bläschen und iler fal-
schen Beziehung vom Loslösen des Flies zur Begattung, was ja fortge-
setzte Untersuchungen so wie so berichtigt haben würden, lag hier doch
unverhUllt die Ansicht zu Tage: es sei eine Thorheil nach dem Werden
zu fragen. Wo man aber nicht nach dem Weiden eines Dinges fragt,
schliesst man jede wirkliche Erkenntniss desselben aus. Die Evolulions-
t'aspiii- iMieilncli Wulll'. 3^5
Tlieoiio oireichte in IIallf.r's Physiologie ilnen unzweideutigsten Aus-,
(iiuik und l)e\Nies zugleich ihre (>ig(U\e rniniiglichkeil. Denn eine
Theorie soll wissenschjilihi'h erkl.iiin, mithin den l ispiung (JeiObjecte,
mn die es sieh Itiunlelt, auldeeken ; und diese 'rhcorie l»('\\i(>s oder
glaubte doch zu beweisen, dass dieser liis|)iung ausseihalb aller Kr-
lahiung d. h. ausserhalb der Naturwissensehaft lüge. Dabei konnte die
anatomische Forschung die alleiNorzüglichste sein, sie brachte doch
nur Material für eine wiikliche Erklärung des Organismus, diente
mithin einer zukünftigen Zeit, der Wissenschaft auf ihrem gegenwär-
tigi'U Slandpuncle, gegen dessen Erreichung sie aber gerade ankämpfte.
Nicht genug jedoch, dass man in dem blossen Wahn begriffen war,
eine Theorie der organischen Bildung zu besitzen , wiihrend man den
Organismus doch nur »wie die Wilden ein Linienschilf« betrachtete, —
es gab die bodenlos luftige Hypothese auch Anlass zu ganz v&rfehlten
Erklärungsversuchen. Abstand eines so grossen Meisters, wie Haller
war, von jeder- Erklärung konnte dem, der nicht an die absolul(> Un-
möglichkeit einer solchen glaubte, gerade ein S{)orn sein, sie zu eifor-
scIkmi, aber eine Eiklärung, die scheinbar rationell w irkliche und ver-
meintliche Erfahrungsthatsachen zu einem Trugsystem vereinte, dessen
eigentliche l'undamente in dem Noli me tangei'e jenes Mysteriums der
Involution sich unnahl>ar dem kritischen Blick entzogen, hätte auf fernste
Zeiten die Wissenschaft verwirren können. Ein solches Trugsysten»
war aber das der LLNNfi'schen Prolepsis, dessen evolutionistische Basis
meist verkannt worden ist*). Hier führte man den ganzen Entwick-
lungsvorgang der Fllanze, nämlich der kormophytischen, auf das blatt-
bildende Emporsehieben der concenliischen Cylinder von Rinde, Bast,
Holz und Mark des Stengels zurück, die sich je nachdem stärkeren oder
schwächeren Zutritt des Nahrungssaftes in blosse Laub-, oder Laub-
iiud Bliiliieidiläller \ erwandelten, und zwar letzteres einfach dadurch,
dass die inneren (eigentlich für eine ganze Reihe künftiger Jahrgänge
beslinunten^ ßlattgebilde gerade bei magerei' Nahrung (in unvollkom-
mener Eorm) anticipirt würden. Beweis für das Vorhandensein einer
Knospe in jeder Blaltachscil war ja bei der Voraussetzung eines jedem
scheinbaren Werden vorausgehenden unsichtbaren Seins die unleugbare
Fähigkeit jeder Blattachsel, eine Knospe hervorzutreiben; jedes Blatt
derselben musste wieder seine Achselknospe haben und so im Sinne der
Einschachtelungstheorie weiter. Dem Axiom des unsichtbaren Daseins
unzähliger Knospen in den Blallachseln (nicht nur der sichtbaren sondern
1) Vergl. LiNNE, Syst. nat. [eJil \'II) If, p. 9. I.inne, AiiKiciiit. aead. IV, pp.
368 ü' utul VI, pp. 3i5, 34U I.
206 Allred KircliliotV,
auch der unsichtbaren BläUeij fügte man dann, um zum Zweck zu c;e-
langen, die gewaltsame Behauptung zu, dass unlei' den bestiiimiten Er-
nährungsverhältnissen die Anticipirung von den Knospen der eigentlich
der Zukunft vorbehaltenen Jahrgänge nur je ein Blatt zum Vorschein
kommen lasse ; man musste sich auch bei Pflanzen mit spiraliger oder
decussirter Blattstellung zur Erzeugung etwa einer pentamerenAlsineen-
blüthe zuletzt einmal eineKreisstellung von je öLaubblätlern denken,
die ihre eigentlich nächstjährigen Achselknospen in blosser Blattform
und zwar nicht zu Laubblätlern sondern zu Deckblättern (Bracteen) ge-
formt verfrüht vorschöben, und halte nun die Freiheit weiter zu schlies-
sen, dass bei den abnormen Zuständen einer solchen »Prolepsis« aus
der Achsel der Bracteen die Laubhiattknospen eines zweitfolgenden
Jahres als blosse Pseudoknospen in der Form der Kelchblätter hervor-
wüchsen, die des 3. Jahres als Kr'onen-, die des i. als Staub-, die des
5. als Fruchtblätter. So war denn jede Blüthenpflanze ein thalsächlicher ,
Beweis der Evolutionstheorie geworden: beim Schmetterling war es
schwerei' die Elemente seines Körpers in der Baupe nachzuweisen, da
sie den latenten Zustand erst überwanden, wenn die Baupenhaut längst
ausgezogen war, — bei den Gewächsen aber konnte sich ja jeder
überzeugen, dass der bunte Schmetterling derBlüthe aus seiner grünen
Baupenhaut ganz allmählich hervortrat, im Larvenzustand der Vegetation
also sicherlich die Ptlanze das Imago der Blüthe lange vorher schon ge-
borgen hatte. Durch äussere Umstände allein- war es bedingt, ob sich
die Stengelinternodien ausdehnten und Jahr füi" Jahr ihre Knospen in
der Totalität der Blattgebilde ans Tageslicht brächten, oder ob jene Pro-
lepsis dieinternodien zusammengezogen liess, und nur je ein Blalt aus
jeder Knospe, aber bei dieser Verfi'ühung in der merkwürdigen Lim-
wandelung zu einem Blülhenblatt dem Auge sich zeigte. Man bildete
sich wirklich ein, diese »Metamorphose« damit auf ihreUrsaclien zurück-
geführt zu haben, und man hatte allerdings die beste Ausrede für den
Fall des völligen L'nterbleibens der Blüthenbildung bei reichlicherei-
Nahrungszufuhr, — dann schob sich eben nicht simultan der Schmetter-
ling, sondern successiv Baupe auf Baupe Jahr füi- Jahr hervor; ein Ge-
genbeweis aber gegen das latente Vorhandensein des einen oder des
anderen lag niemals vor.
Zur nämlichen Zeit hatten also die bedeutendsten Forscher auf dem
Gebiet der Pflanzen- und Thiernatur die Wissenschaft in bedenklicher
Weise gefährdet: Hallkr hatte ihr mit der Frage nach dem Werden
gleichsam den Herzschlag verboten, LrNNfi eine Theorie geschaflen, die
mit trügerischem Gaukelspiel eine gewisse Befriedigung des dem Men-
schen so tief eingeprägten Bedürfnisses, die Ursache der Dinge zu
Caspar Friedriili WollF. 207
suchen, (huliircli orknnfle, dass sie dio izesotzniiissilien drundlaeon der
Ixtliiiiischen Mol pliolot^ic und Auiiloiuie in soliNNiiukende Bewegung
brachte.
Wolff's Gegenbeweis.
Es ist eine merkwürdige Thalsnche, dass diogiüs.slen Uuiwiilzungen
in tler (ieschichte der menschlichen Geistesenlwicklung oft du ich blosse
Krneuerung allbekannter Sätze herbeigeführt werden , durch Zurück-
gehen auf eine für irrthümlich gehaltene Wahrheit, die einst naiv hin-
genommen, dann verdanunt worden und nun plötzlich durch den Er-
weis ihrei' Rechlsbeslandigkeit sogar eine neue Ejioche herauHuhrt. So
lief istdas naiv dogmalische und das kritische Fürwahrhalten veischieden.
Die Alten h.itten längst das Leben als wirkliche Veränderung , das
Werden als wiikliche Entstehung von etwas xNeuem , vorher nicht Da-
gewesenem begriffen, und doch ist nicht Aristoteles , sondern Wulff
der Vater der Entwicklungsgeschichte: Aristoteles behauptete,
Wulff bewies das Werden.
Was Kant für. die Philosophie, ist W^olff für die Physiologie: der
kritische il. h. der allein den Namen verdienende Begründer. Man
hat viel vor K.wt philosophirt und die Ideen früherer Systeme sind uns
\ on hohem Werthe, aber eben dass sie es noch für uns sind, dass man
mit IIcme's völlig berechtigtem Zweifel an der Zulässigkeit der Ideen-
verbindung zwischen Ursache und Wiikung nicht den Schritt unab-
sehbarster Tragweite that und das Streben nach philosophischer Er-
kenntniss als Unsinn bei Seite that, — das verdanken wir Kant, der
den Beweis von der Möglichkeit, von der Thatsache der menschlichen
Eikenntniss in» höchsten Sinne des W'orts führte. Wir können Wolff's
i5(Mleutung für die Wissenschaft vom organischen Leben nicht genauer
bezeichnen, als wenn wir von ihm das Analoge sagen : er begründete
die Lehre vom Werden, indem er die Thatsache des Werdens bewies.
Man stosse sich nicht an unsre nothwendig bildliche Ausdrucksweise:
er begründete die längst vorhanden gewesene Lehre, nicht etwa von
neuem, nein ganz itn eigentlichen, jede Concurrenz ausschliessenden
Sinne. Wohl sollte man meinen, die Frage nach der Wirklichkeit des
Objecls müsse jeder Untersuchung des Objecls vorangehen. Aber das
ist einmal nicht der Gang menschlicher Geistesregungen; die dogma-
lische Periode lässt tausend Fragen, vielleicht auch glücklich eiledigen,
ehe die logisch erste daran kommt Dass jedoch die Erledigung der letz-
leren deshalb nicht eine nutzlose Nachträglichkeit ist, beweist das 17.
und If^. .Jahihunderl durch seine Theorie \on der Prädelineation. Der
208 Allred Kirchhoff,
Baum des physioloe;isclien Wissens war im Alterlhum gleichsam
verwildert gewachsen , nach der Winterruhe des Mittelalters hatte er
frische junge Triebe bekommen , und doch würde er nur noch kurze
Zeit ein wahres, dann nur ein Scheinleben gefristet haben, wenn seine
Wurzeln in dem Boden, in den sie sich tiefer und tiefer einsenkten und
in dem sie mit Naturnothwendigkeit absterben mussten , nicht neue
Quellen zuströmender Nahrung durch Annahme einer neuen Richtung
gefunden hätten.
Dass ihnen Wulff diese neue Richtung gab, dass er sie in die
Lage brachte nun den Baum so lange ununterbrochen zu nähren , als
denkende Menschen auf Erden leben werden, — das ist jetzt auch im
Ganzen wohl unbestritten. Und doch waltet über Wolff's Werken seit
Alters ein eigenthümlicher, die Berechtigung solchen Lobes nicht recht
erleuchtender Unstern. Botaniker haben Wulff, wie schon Schleidfn
klagte, fast nie gelesen, Zoologen kennen ihn wesentlich als den Ent-
decker der Darmbildung bei den Wirbelthieren , Dank dem Ueber-
setzungsverdienst, das sich der jüngere Meckel ISIS um die bei reffende
akademische Abhandlung Wolff's erworben hat; für jene im Allge-
meinen hingestellte Grösse citirt man die berühmte Theoria Generationis,
gewöhnUch aber ohne sie zu lesen, während man mit dem eigentlich
beweisenden deutschen Werk desselben Titels consequenter ver-
führt: das liest man weder, noch citirt man es.
Es sei daher hier versucht , in kurzen Zügen die Methode dieser
e|)ochemachenden BeweisfUiuung zu charakterisiren , durch die Wolef
ähnlich wie Lessing eine viel höhei'e Bedeutung hat als durch die er-
zielten Forschungsresultate, obwohl letztere ihm als echtem, nie vom
festen Boden derEmpirie loslassenden Naturforscher die unentbehrlichen
Waffen in die Hand gaben. Eine ins Einzelne gehende Wiedergabe
seiner Generationslheorie d. h. Entwicklungslehre des höheren Pflanzen-
und Thierorganismus iliirfen wir hier um so eher unterlassen , als die
heutige Physiologie des Wirbelthierkörpers die wichtigsten hierhin ein-
schlagenden WoLFF'schen Entdeckungen in glücklicher Fortbildung in
sich trügt, die heulige Botanik zwar in ähnlicher Weise Schleidkn's
statt Wolff's Entdeckungen forlentwickelt, Wolff's Pflanzenonlwick-
lungsgeschichle aber anderen Orts von uns dargestellt worden ist').
In der Theoria Generationis sehen wir den jugendlichen Forscher
in feierlichem Ernst das Werden von Pflanze und Thier mit Woit und
Bild darstellen, in festgeschlossener logischer Schlusskelte deductiv und
1) \a der Eingangs erwähnten Schrift über die »Pflanzen-Metamorpliose bei
WoLKK und bei Goethe »
Caspar l'iifMlricli WollT. 200"
inducliv Satz für Satz begründen, ohne den nihig objecllven Ton einer
sich bloss in den (iegenstan d vertiefenden Üaislollung durch pole-
mische Ausfälle gegen seine Gegner zu unterbrechen. Man würde aus
den Worten der )Hiissei"tation profonde«, wie sie der Eloge der Peters-
burger Akademie nannte, die Existenz der Prädelinealionslheorie gar
nicht aimen. In dei- deutschen »Theorie von der Generation« tritt da-
gegen WoLFF bereits im Bewusstsein des Triumphes nicht nur mit ge-
wandlerem Darstellungstalent und wichtigen neuen Entdeckuncen an
sein Werk von Neuem heran, sondern er geht auch der gegnerischen
Theorie, die soeben in Bonnkt und Halle« mit Wünschenswerther Ent-
schiedenheit geredet hatte, muthig zu Leibe.
Er ist bei aller Hochachtung vor der wissenschaftlichen Grösse
Haller's aller frommen Verehrung des vermeintlichen Mysteriums un-
endlich fern, er gibt viehnehr seinem natüilichen Widerwillen gegen
die unnatürliche Hypothese herzhaftesten Ausdruck. »Wie sehr, sagt er,
ändert sich nicht dadurch der Begriff, den wir von der gegenwärtigen
Natur haben, und wie viel verliert er nicht von seiner Schönheit!
Bishero war sie eine lebendige Natur, die durch ihre eigene
Kräfte unendliche Veränderungen herfürgebracht. Jetzo ist sie ein
Werk, welches nur Veränderungen herfürzubringen scheint, in der
That aber und dem Wesen nach unverändert so liegen bleibt, wie es
gebauet war, ausser, dass es allmählich immer mehr und mehr abge-
nutzt wird. Zuvor war sie eine Natur, die sich selbst destruirte, und
sich selbst von neuem wiederschuf, um dadurch unendliche Verän-
derungen herfürzubringen, und sich immer wieder auf einerneuen Seite
' zu zeigen, .letzo ist sie eine leblose Masse, von der ein Stück nach
dem andern herunter fällt, so lange bis der Kram ein Ende hat Eine
solche elende Natur kann ich nicht ausstehn, und dieSamen-
thierchen, in Ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein Werk des un-
endlichen Philosophen, sondern sie sind das Werk eines Leuwex-
noECK's, eines Glasschleifers.« Das sind die schönen Worte, die er an
seinen (beim Druck der Schrift bereits verstorbenen) Freund Gustav
Mathias Ludolf richtete, in dessen persö?dicher Anrede die geistreichen
»zwo Abhandlungen«, die das Büchlein bilden, wie eine Privalunterhal-
tung (ohne Scheu vor Berolinismenj sich ergehen.
Darauf führt er aus, wie unwahrscheinlich die Hypothese dadurch
erscheinen müsse, dass in dem übrigen Natu rieben kein einziger phy-
sikalischer oder chemischer Process aufzuHntlen sei, der nur entfernt
auf ein erst unsichtbares, dann sichtbares Sein deute ; wohl sei zu Wol-
ken, Regen und Schnee der Stoft" vorher da, aber der Stoff des Wassers
sei so wenig die Wolke, als diese der Regen oder Schnee, den sie er-
Bd IV. 2. U
210 Alfred Kirchhoff.
zeuge, ja selbst Schwefelsäure — setzt er treffend hinzu — kann wohl
zur Pioduction von Schwefel dienen, aber sie enthält ihn doch nicht
in dem durch seine bestimmten Merkmale zu charakterisirenden Wesen,
folglich gar nicht.
Und nun rückt er, auf die Knospenentfaltung der Gewächse über-
gehend, derEnlwirrung der unklaren Gedankenassociationen schon sehr
nahe: freilich, sagt er, existirt hier eine Entfaltung, eine Evolution jün-
gerer Gebilde aus der bergenden Hülle älterer hervor, aber man darf
nie diese «Entwicklung in der Natur« milder »Entwicklung in der Hy-
pothese« verwechseln; zum Schulz der zarten Neubildungen, die
sonst allen Unbilden bloss gestellt wären, dient die Einschachtelung, die
bei keinem Thier in solcher Weise sich findet (da hier Eischale oder
Uterus schützt), die selbst den Farnen mit ihrer Entrollung (»Entwick-
lung« im wörtlichsten Sinne!) fehlt, da hier die Schneckenwindung des
Wedels nebst der seiner Seitenfiedern den jedesmal jüngsten Theil selbst
lange genug beschirmt. Wer darf schliessen , weil aus Knospe oder
Samen (vielmehr dem darin befindlichen Keim) jüngere Theile sich er-
heben, diese ewig vorhanden gewesen seien? Das wäre derselbe hals-
brechende Schluss, als wenn Bonnet auf die Knospeneinschlüsse der
Hyacinthenzwiebel »jusqu'ä quatrieme generation« mit den Worten hin-
weist: da sieht man die Evolution vor Augen.
Als Haller 1760 in den Göttinger Anzeigen Wolff's Dissertation
recensirte, fand er ganz richtig heraus, dass der Verfasser im botanischen
Theil seiner Arbeil besonderes Gewicht auf den Nachweis lege, die Ge-
fässe seien im jugendlichsten Zustand eines Pflanzenlheils »nicht zu
klein oder zu durchsichtig, sondern gar nicht vorhanden.« Denn in der
Thal ist diese erste Thatsache, die die Theoria Generationis empirisch
feststellt, gleich die entschiedenste Widerlegung des Salzes von Haller :
»Nulla est epigenesis.« Der junge Stengel, das junge Blatt, nicht mehr
zu klein um selbst in allen seinen Theilen deutlich gesehen zu werden
zeigte nichts als rundliche Zellen unter dem Mikroskop, die nachher
vorhandenen Gefässe konnten sich hier unmöglich dem Blick entzogen
haben, mussten also durch fortgesetzte Saftströmung nachträglich
entstanden sein.
Wolff's schöne Untersuchung der Blallbildung beim Weisskohl, der
Blüthenbildung bei der Bohne referirt Haller ohne irgend welchen Ein-
wurf: das ganze Pflanzenleben war aufVergrösserung und Verzweigung
von Stengel und Wurzel, sowie auf Bildung von Laub- und (metamor-
phosirten) Blülhenblättern zurückgeführt, der Ursprung all dieser Theile
in unendlich kleinen Hügel- oder Conusformen genau aufgefasst, auch
das Auftreten fernerer Hervorwachsungen wieder aus ihnen, z. B. der
Zähne aus dem Blattrand, vortrefflich gezeichnet und beschrieben, —
Caspar Friedrich Woltt". 211
aber vetite sich denn nicht bei Hallkr der Argwohn, das sei Alles nur
ein Hervorschieben in die Sichtbarkeit von lauter Dingen, die vorher im
Stengel oder in der Keinianlag«" unsichlb;u' vorhanden gewesen, selbst
die Gefässe nicht erst nach der rein cellulosen Perlode neu gebildet,
sondern nur da eist durch Eintreten der Nahrungsflüssigkeit sichtbar
gewoi'den, verlier zusannnenschliessende Höhren, dünn wie das feinste
Haar, dabei völlig durchsichtig und ohne Lumen?
Kl' gesteht uns diesen Argwohn erst beim Uebergang auf den zoo-
logischen Theil des Werkes. Da heisst es auf den ersten Zeilen : »Beider
Erzeugung der Thiere mussman wohl auf einen Grund-
satz merken, der gleich am An fange steht, und nach wel-
chem dasjenige nicht da ist, was man nicht sieht.« Wie
unstatthaft aber dieser Satz sei, werde ein geübter Mikroskopiker
zumal von den Gekröseadern des Frosches wissen , die sich selbst bei
Anwendung chemischer Reagentien durch Farblosigkeit und Durchsich-
tigkeit dem Blick des Beobachters entzögen.
WoLFF blieb indessen völlig Herr der Situation. Scharfer Logiker,
wie er war, gestand er sofort ein, dass, wenn er diesen Satz zum
Träger seiner Theorie gemacht hätte, »nicht Salomons Weisheit« ihm
helfen würde, sein System kritisch zu rechtfertigen. In völliger Ge-
müthsruhe legt er selbst die Gründe aus einander, warum jener Satz
einen Unsinn enthalte. Ganz anders gestalte sich jedoch die Sache,
wenn man daraus den Satz mache, den er w irklich zum Leitstern seiner
Untersuchungen gew ählt habe : ein Ding von bestimmten sinn-
lichen Merkmalen ist da nicht vorhanden, wo man diese
Merkmale nicht durch die Sinne wahrnimmt. Ganz schalk-
haft belegt er diesen echten Naturforschergrundsatz mit den populärsten
Nutzanwendungen: »Auf diese Art, sagt er, kann ich zumExempel sehr
leicht beweisen , dass in meinem Geldbeutel kein Friedrichsd'or sey ;
dass Doris jetzo nicht in meiner Stube sey. Sie sehen leicht, alle diese
bestimmten Dinge sind mit gewissen Erscheinungen verbunden, die
ihrer Natur nach nicht verborgen bleiben können. Den Friedrichsd'or
müsste man im Geldbeutel sehen und fühlen können , wenn er darin
wäre; und wenn Doris hier wäre, so würden wieder andere Erschei-
nungen statt finden.«
So enthüllt er halb scherzend die Walle, die der Prädelineations-
chimäre den Todesstoss versetzen musste. Freilich bedurfte es müh-
samer Studien auf dem noch so öden Felde der embryonalen Entwick-
lungsgeschichte, denn nur in den frühen Lebensmomenten konnte er
jenen Grundsatz zum Beweis eines früheren Nichtexistirens , eines erst
späteren Werdens und somit zum endlich entscheidenden Siege an-
14 ^
212 Alfred Kirclihoir,
wenden. Es war schwerer die Abwesenheit des Herzens im soeben
erst an2;eleglen Embryo des Hühnchens zu entdecken als — Doris' Ab-
wesenheit zu beweisen. Und doch gelang es vortrefflich. Bekanntlich
zeichnet sich die embryonale Entwicklung der Wirbelthiere ül>erhaupl
durch die so frühe Ausbildung des Herzens aus , und es war deshalb
für Wulff, der sich nach der Sitte der Zeit wesentlich auf die Tnler-
suchung dieses Entwicklungstypus beschränkte, ein ^^ahres Meister-
stück, Haller's Lehre zu stürzen, dass die ganze «Evolution« eines
Tliieres darauf beruhe, dass in dem unsichtbar kleinen und durchsich-
tigen Pünctchen auf der Aussenseite des Dotters das Herz zu pulsiren
anfange und dadurch sich alsbald zum Centrum eines schon wohl or-
ganisirten Ganzen mache, da es nur gelte die »zusammengefallenen«
Häute der längst vorhandenen Gefässe auszudehnen , die dann durch
das Roth der einströmenden Blutkörperchen sichtbar würden. Erst
während seiner letzten Berliner Jahre machte Wulff die Entdeckung,
dass in der allerersten Zeit der Bebrütung des Hühnereis , nicht nur
neben der Wirbelsäule mit ihrem Rückenmark kein Herz vorhanden
sei, w^ährend der Embryo schon stark ernährt werde, sondern dass
auch die Zusammenziehung des kaum gebildeten Herzens anfangs eine
ganz langsame sei, das Blut aber unabhängig davon seinen Lauf voll-
führe, längst ehe das Herz »der hüpfende Punct« ge\^orden. Damit war
jeder Widerspruch aus dem Felde geschlagen: sein Mikroskop war nicht
unfähig gewesen, das Herz zu sehen, sondern im Gegentheil völlig aus-
reichend das Herz in einem der Hypothese Haller's widersprechenden
Zustand zu sehen; dabei tauchte es als zelliges Körperchen auf zu einer
Zeit, als noch gar keine Brust vorhanden war, wurde nachweislich erst
später in den Brustkasten vor dessen Schliessung hineingezogen , kurz
es war nicht ein unsichtbarer Mittelpuncl des Embryo, sondern es
.wurde erst mit der wachsenden Selbständigkeit des werdenden Thieres
dessen Centralorgan.
Einen specicllen echt evolutionistischen Einwurf hatte Haller gegen
Wolff's Entstehungsgeschichte der netzförmigen Nabelgefässe in der
area umbilicalis erhoben. Haller glaubte natürlich an das unsichtbare
Dasein auch dieser Netzgefässe, die nur auf das Erwachen des Herz-
pulses warteten , um durch eingepumpte Säfte in die Erscheinung zu
treten. Wolff hingegen hatte genau gesehen, wie in der ursprünglich
homogenen körnigen Masse der area Trennungen anfangen , die mehr
und mehr zur Verwandlung derselb<'n in lauter ungleiche, drei- oder
mehreckige Inseln führen, zwischen denen eine flüssigere Materie eine
Art Netz bildet. Die gröber körnige weissliche Masse sah er zuletzt die
blossen Zwischenräume eines Svstems von Gefässen bilden . die sich
fftspar Friedrich Wolff. 213
mit deiillichfn Wandungen versahen untl so schliesslich das Netz 6er
Nabeigefasse forniiiten. Es war sthon eine Entstellung , wenn Hallkr
diese Darstellung insofern billigte, als rede sie von »vorgezeichnclen
Wegen« in der area ; das erinnerte schon zu sehr an Priideiineation,
und dazu fügte er noch den Zweifel, ob es zur Evidenz zu bringen sei,
dass diese »Wege zwischen dem körnigten Wesen« wirklich ursprüng-
lich ohne Wandung seien. — Da bewährte sich dennWoLFp's kritischer
Grundsatz in aller nur wünschenswerthen Schärfe: nicht gassenartig
waren in der area »Wege« aufgetaucht, sondern es hatten sich blosse
Lacunen gebildet, die kein Merkmal mit fertigen Gefässen gemein hatten,
folglich auch keineGefässe in diesem Primitivzustand waren; ihreCom-
munication hatte sicli nicht dem Auge entzogen, sondern ihre ursprüng-
liche Isolirtheit dem Auge ganz klar gezeigt; die W^andungen traten
auch nicht in kristallklarer Durchsichtigkeit, sondern in recht augen-
fälliger opaker Derbheit auf; endlich war wegen der anfänglichen Zu-
sammenhangslosigkeit der Lücken, die sogar nach dem Amnium zu
imoier kleiner wurden und dicht an demselben die area gar nicht
durchbrachen, ein Einfluss etwa vom Herzen her immiltirter Säfte zur
Ausweitung »vorgezeichneter Wege« vollkommen unmöglich, selbst
wenn man ein von Anfang an vorhandenes, nur nicht sichtbares Herz hätte
annehmen wollen.
Es kann hier nicht weiter verfolgt werden, wie Wolff in Peters-
burg diese Untersuchungen so rüstig fortsetzte, dass — kaum ein Jahr
nach seinem Abschied von Berlin — gerade jetzt vor hundert Jahren
jenes classische Werk über die Bildung des Darmcanals im Hühnchen
fertig wurde, von dem Ernst v. Baer urtheilte : »es ist die grössle Meister-
arbeit, die wir aus dem Felde der beobachtenden Naturwissenschaften
kennen.« Bis auf verhältnissmässig geringe Irrthümer (wie die Wulff
nicht geglückte Unterscheidung der »Darmrinne«, seiner fistula intesti-
nalis, von der Höhlung des Darms: hat die ganze Folgezeit nichts daran
zu bessern gefunden, wohl aber diente diese Arbeit Wulffs, seitdem
Meckel sie zugänglicher gemacht hatte, um wesentliche Irrthümer in
der ISOfi von Oke\ (ohne Bekanntschaft mit seinem grossen Vorgänger)
nur nach — natürlich weil unvollständigeren — Suiten von Entwick-
lungssladien der Säugelhierembr\onen gegebenen Naturgeschichte der
Darmentwicklung zu berichtigen.
Als im 14. Band der Novi Commentarii der Petersburger Akademie
der letzte Theil dieser berühmten Abhandlung De Formatione Intesti-
norum erschien, durfte Wolff mit Befriedigung auf das noch nicht ein-
mal ganz beendete Jahrzehnd hinblicken, das er seit der Vorbereitung
zur Doctor-Promotion an Saale und Oder, an Spree und Newa in uner-
214 Alfred Kirchhoff,
müdlicher Arbeit durchlebt hatte. Er sagte nicht mehr als die Wahr-
heit, wenn er in dem Büchlein von ITGi behauptete, es habe nie in der
Welt eine wirkliche Theorie organischer Entwicklung gegeben ausser
der von Cartesus und der seinen; von diesen aber wäre die cartesia-
nische ohne irgend zureichende Beobachtungsgrundlage erträumt,
nur die seinige wahr
Er verhehlt sich nirgends die Schwächen seiner Leistungen, die er
vielmehr gegenüber der unendlichen Natur auf dem noch so ganz un-
betretenen Boden der Entwicklungsgeschichte stets als der Besserung
bedürftig anerkennt. Aber der Würfel war gefallen : die Theorie von
der lebendigen , sc ha ffe nden Natur hatte die Aftertheorie von der
nur in lebendiges Gewand verkleideten, geschaffenen Natur be-
siegt, — dem Berner Schreckens wort oNulla est epigenesis« war glück-
lich Paroli geboten mit dem Berliner Jubelruf »Est epigenesis!«
Wolff's Materialismus.
Nachdem die lebenden Wesen als unter unsern Augen entstehende
erkannt worden waren, erhob sich ganz von selbst die Frage nach den
Ursachen solcher Entstehung. Haller halle das Recht, sein Mysterium
des unsichtbaren Seins von dorn Mysterium des Schöpfungsacles ada-
mitischer Urzeit abzuleiten ; Wolff's Epigenesis rückte dagegen das
Wunderspiel tausendfältiger Neubildungen aus dem Dunkel der Urzeit
ins Licht der Gegenwart, und da galt es nun der Schöpfung mit allen
Hülfsmitleln rationeller Wissenschaft auf den Grund zu kommen.
Hatte Wulff das Werden der Organismen in mühsamen Unter-
suchungen und mit logischer Schärfe zur zweifellosen Gewissheit er-
hoben, so fügte er diesem Verdienst ein zweites hinzu: er brach die
Bahn für die einzig mögliche naturwissenschaftliche Erklärung des Le-
bens, nämlich für die mechanische oder materialistische , die auf dem
felsenfesten Satz beruht , dass die organische Welt als ein Theil der
Welt überhaupt an einem gewissen Quantum von Materie participirt,
ihre Lebens-) Erscheinungen daher nicht anders als aus der Materie
und deren unveräusserlicher Kraflsumme erklärt werden können.
Dieses zweite Hauptverdienst Wolff's hat man deshalb bisher nicht
zu würdigen gewusst. weil seine »wesentliche Kraft« (Vis essentialis) ,
die er gleich in den ersten Paragraphen der Dissertation aufführt, ohne
nähere Charakteristik nicht viel zu bedeuten schien , und das beinahe
letzte Werk Wolff's, das diese »wesentliche Kraft« zum alleinigen Ge-
genstand nahm, so gut wie völlig unbekannt geblieben ist.
Auf seinen Antrieb hatte die Petersburger Akademie eine Preis-
Caspar Friedrich Woiff. 21 5
-lufeabe gestellt »über die eigenlliüinliche und wesentiielie kuilt der
vegetabilischen sowohl als der animalischen Substanz.« Aus Frankreich
und Deutschland \Aaren Lösungen von sehr verschiedenem Wcrth ein-
gegangen, und als I7<S9 die kaiserliche Akademie die besten davon in
Druck gab, fügte Wolff eine an Klarheit und Gedankenreichthum alle
jene Beantwortungsversuche weit überflügelnde Abhandlung über das-
selbe Thema in deutscher Sprache zu ') . in schonender Kritik wandte
er sich hauptsächlich an die beste Lösung, weiche die Preisaufgabe von
Blumenbacii erfahren hatte. Dieser hatte darin jene Ansicht entwickelt,
die dann in Deutschland so viele Anhanger erwarb : G r u n d k r a f l j e d e s
Organismus sei der Bildungstrieb.
Wulff legte nun mit seiner seit dreissig Jahren so oft geübten
klaren Gedankeneinfalt dar, dass I) dieser Satz in folgerechter Anwen-
dung sich augenblicklich selbst widerlege, denn jede Kraft müsse sich
in ihren Wirkungen gleich bleiben , mithin müssten alle Organismen
einander gleich sein und auch aus völlig gleichartigen Theilen bestehen ;
2) aber mit der von Blumexbach angew endeten Glausel , dass »die be-
sonderen Umstände«, unter denen diese Kraft wirke, die Verschieden-
artigkeil ihrer Wirkungen erkläre, der Satz einfach zurückgenommen
sei, denn in diesem Fall seien dann offenbar »die besonderen Umstände«
das Wirkende, die Bildungskraft nur das Bedingte, folglich keine
»Grundkraft.«
Dann folgte der positive Theil der Abhandlung : Begründung seiner
eigenen Ansicht von der Causa Uta t des Lebensprocesses. Hier drang
er mit einer Art Vorahnung von der Bedeutung unsrer heutigen Cellu-
larpathologie für die Enthüllung biologischer Bäthsel tief in die morpho-
logische und functionelle Natur der Drüsenge^^ebe ein, betonte die
wunderbare und doch gewiss so natürliche Verschiedenheit in der Stofl-
aneignung und Stoff^bsonderung der verschiedenen Organe eines und
desselben Körpers, überall seine früheren Beobachtungen anziehend
und neu gemachte Erfahrungen dazufügend. Was aber die Resultate
dieser Erörterungen angeht, so dürfen wir sie hier in folgende einfache
Schlussreihe mit Cilirung der Seitenzahlen dej" genannten Abhandlung
zusammenfassen.
Das organische Leben steht unter der Herrschaft der allgemein und
ausnahmslos gültigen Naturgesetze, wie wir sie auch in der anorga-
nischen Welt iLätig finden (40, 71, 74). Wollen wir die Ursache oder
1 Gedruckt 1789 in 4" zu Petersburg; gewölinlicli mil den iihrigen Abliand-
lungen zusammengebunden und bo oft durcti den Titelaufdruck »Blumenbach und
Born« auf den Gesaiiuntband, also durcti reines Buchbinderversehen versteckt.
216 Alfred KirclilinfT.
die wirkende Kraft ermiltelii, welche die Erscheinung des Lebens her-
vorruft, so müssen wir hier wie anderwärts die Wirkung genau unter-
suchen, denn anders als in einer Wirkung ist es unmöglich eine Krafl
zu erkennen (Tj. Nun ist der Lebensprocess ein ewiges Anziehen und
Abstossen von Stofflheilchen, die jedem Theile jedes organischen Kör-
pers zukommt (.U). Das ist jedoch nicht die allgemeine Attractions-
erscheinung in der einfachen Weise, wie sie auch der Stoff ausserhalb
der Organismen zeigt, weil wir sonst eine beliebige Wiesenpflanze,
etwa den Wiesenbocksbart (Tragopogon pratensis) in irgend einem Stoff
nur genau nachzubilden brauchten, um uns als Schöpfer eines sich er-
nährenden und sich fortpflanzenden Wesens zu fühlen ; daraus folgt,
d^s die organische Anziehungskraft eine den Organismen eigenlhüm-
liche «Ernährungskraft« (=Visessentialis; ist (39). In ihr besteht
das Wesen des Organismus, sie wohnt jedem Theilchen desselben mit
der Doppeläusserung der Anziehung für diesen, der Abstossung für
jenen Stoff inne , wie ja auch im Magneten und im geriebenen Bern-
stein jedes Pünclchen zugleich anziehend und abstossend wirkt (69).
Das eine hat die wesentlich organische Nutrition mit dem Wachsthuni
eines Krystalls gemein, dass nur gewisse Stoffarten angezogen, andre
abgestossen werden (52); darin aber liegt das Unterscheidende, dass
derKrystall nur äusserlich neuen Stoff ansetzt, der Organismus den
assimilirbaren Stoff" innerlich aufnimmt (60) . Mit diesem Vorgang können
wir von Naturerscheinungen ausserhalb des Organismus nur die chemi-
schen vergleichen, bei denen sich auch eine vollständige Durchdringung
mit dem aufnehmbar befundenen Stoff zu einem ganz neuen Körper
zeigt, z. B. wenn ein festes Metall durch Verbindung mit Quecksilber
ein Amalgam bildet (64). Die allein zur Zeit nicht sicher erklärbare
Seite dieser Nutrition (deren morphologischer Wirkung in der Genera-
tionstheorie genau nachgegangen war) besteht in der bei verschiedenen
Species so verschiedener) Stoff"wahl, die man mit den Seelenzuständen
von Neigung und Abneigung vergleichen möchte, aber trotzdem keines-
wegs mit der Eigenthümlichkeit der thierischen Seele vermengen darf,
wie Stahl gethan hatte (70). Fest steht nur soviel, dass die dem orga-
nischen Körper ausschliesslich zukommende Art der Stoffaneignung
und Stoff"organisirung von einer wesentlichen Eigenthümlichkeit her-
rühren muss, welche der organische vor dem anorganischen Stoff" vor-
aus hat: sei das eine besondere nur in Pflanzen oder Thieren vorkom-
mende Substanz oder eine besondere Art der Mischung, falls nämlich
lebende und leblose Körper aus denselben Stoff"en beständen (94).
Welche Klarheit unbcfangenor Naturanschauung und unbestechlicher
Folgerichtigkeil liegt in diesen Sätzen ! Fügen wir die erst uns mög-
Caspar Kriodrich WdlfT. 21 7
liehe Knlscheidiing de*' lelzl!j;cn;innlen Allciniilion hinzu, dnss es niim-
lich dir Coniplicirthoil der auch im Folsl);\u dor Erdo weil und breit
vorkommenden, nur hier ganz einfachen KohlenslofiVerbindungen ist,
welche den unterscheidenden Charakter der organischen und anorga-
nischen Natur bedingt, so haben wir in der That die fe>'-ten Lineamente
der mechanischen Biologie unserer und sicherlich aller Zeiten vor uns:
Stoffljewegung nach den ewigen Gesetzen der Physik und Chemie be-
\\ irkt das Kreisen des Stoffs ebenso in dem leicht verfolgbaren Wege
durch Luft, Wasser und Erde wie in geheimnissvollerer Weise durch
den lebendigen Körper, dessen Geburt, Leben und Tod nicht deshalb
idmorme Thalsachen sind, weil sie das Normale im wundervollen Com-
pl(v\ darbieten. Woi.ff sagte genau das von der BiA'MEiXBACH'schen «Bil-
dungskraft«, was Humboldt von der modernen »Lebenskraft«: ihre An-
nahme ist nur ein Beweis, dass der, welcher sie macht, in der persön-
lichen Unfähigkeit, das Leben auf seine Ursachen zuiückzuführen d. h.
den räthselvollen Complex der bunt in einander greifenden Ursachen
naturgesetzlich zu zerlegen, — sich mit einem grossen, gleich Alles mit
einander auf die billigste Weise erklärenden Wo rt hilft. Denn eben,
wo Begriffe fehlen, da stellt ein W^ort zu rechter Zeit sich ein!
Wenn aber Humboldt diesen wenig ruhmvollen, aber dem Schwäch-
lichen stets einladend dünkenden Fluchtversuch aus dem Labyrinth der
biologischen Causalität nur als Parallele anführte zu der Neigung, die
so oft mit seinem Bruder das Zwiegespräch tief bewegt hatte, dass
nämlich der Mensch angesichts der unendlichen Bedingtheit des geschicht-
lichen Lebens auch nur des kleinsten Staates, des kürzesten Zeitraums
von) Schwindel erfasst würde, wenn er nun gar die unabsehbaren Fer-
nen der ganzen Weltgeschichte zu ergründen unternähme, dass er dann
stets dem uralten «dumpfen Gefühle« verfalle und die Kritik in das ge-
fühlstiefe Meer des Glaubenssatzes versenke: »Gott regiert die Welt;
die Geschichtsaufgabe ist das Aufspüren dieser ewigen geheimnissvollen
Rathschlüsse« — so dürfen wir zum Schluss jenes Streben nach Anru-
fung der Gottheit auf dem Felde der Wissenschaft in noch näherer Be-
ziehung zu der Hypothese von der Lebenskraft sowie zu unserem C.
Fr. Wulff betrachten.
Als WoLFF, dem Greisenalter nahe , am Vorabend der grossen Er-
eignisse, die von Parisaus die neue Zeit heraufbeschworen, seine Ideen
über das Leben zum letzten Mal zu jenen allgemeineren Resultaten sam-
melte, schwieg er von jeder dem Ernst der Wissenschaft nicht ziemenden
Vertheidigung seines Materialismus gegen Einwendungen, die vo"^
fremden Gebieten aus dawider erhoben werden konnten. Aber als
Jüngling hatte er dem weh älteren Haller gegenüber einen schweren
218 Alfred Kirclihnff,
Stand gehabt. Zwar hatte einerseits Wolff nur an einer einzigen Stelje
der Dissertation einmal das Wort fallen lassen , es läge ihm daran ^u
beweisen, dass man zurErkUirung der Generation die göttliche Allmacht
nicht ins Spiel zu ziehen nöthig habe, und andrerseits redete Hall^r
stets ohne jede Gereiztheit in vollster Achtung von den Forschungsresul-^
taten des jungen Berliner Physiologen in seinen Werken. Indessen eben
weil sich Wulff in dem Privatverkehr seiner Correspondenz mit Haller
so aufrichtig bescheiden , so offen für jede Zurechtweisung zeigte, be-
nutzte dieser seine vaterliche Stellung, wie es scheint, zu mancher nach-
drücklichen Vorstellung, zumal wegen der Gefahrdung, die er in der
ganzen Theorie der Epigenesis für den religiösen Glauben mit Recht
erkannte.
Schon wegen des liebenswürdig kindlichen Tones und der echt
wissenschaftlichen Selbstlosigkeit, die sich in Wolff's Briefen an Haller
ausspricht, sei es daher gestattet an diesem Ort einige Stellen derselben
übersetzt mitzutheilen, die auf die so still vor sich gegangene und doch
so tiefe Umwandelung der Ideen ein eigenthümliches Licht wirft i).
Zunächst waren bei den Uebersendungen des lateinischen wie des
deutschen Werks über die epigenetische Generation kürzere Begleite
schreiben erfolgt, dann halte Wulff 1765 nach empfangenem Tadel über
zu unschonende Behandlung seiner wissenschaftlichen Gegner (ver-
muthlich Bgxxet's!) seinem Mentor von seinen weiteren Untersuchungen
über die Hühnchenentwickelung geschrieben und zugleich seiner Sehn-
sucht nach dem »festlichen Tag« Ausdruck verliehen, der für ihn kommen
werde, wenn er nun im 8. Theile der Elementa Physiologiae die »uni-
versa generationis theoria« zu lesen beginne.
Der Tag kam. Der8. Theil war erschienen, vermuthlich von Haller
selbst ihm zugeschickt: er brachte neben ehrenvoller Erwähnung der
WoLFF'schen Arbeiten das»Nulla est epigenesis!« — In einem Schreiben
dd. Berlin, den 6. Oct. 176(i sprach Wulff seinen Dank aus, dass
Haller in seinem grossen Werke, seinem kleinen, seinen »Versuchen«
einen Platz vergönnt habe, dazu aber fügte er einen wahrhaft rührenden
Herzenserguss, den man lesen muss, um in Wulff den ehilichen deut-
schen Gelehrten zu erkennen. »Dank« heisst es da »dass Du mir wohl
willst, dass Du mich liebst, erhabener Mann, obwohl Du mich niemals,
gesehen und nur aus Briefen mich und meine Gemüthsart kennst. Da^
möge Dir Gott lohnen, denn ich kann nicht hoffen, in diesem Lebei
solche Bedeutung zu erlangen , dass ich Dir eine Deiner Güte würdig^
Erkenntlichkeit erweisen könnte, wenn Du nicht die unauslöschlich(
j
4) Epistolae ad Hallerum IV, p. 268 ff. V, p. 21 Off. p. 220 ff. p. 291 ff. p. 3nff,l
rnspnr Friodrirb Wnlff. 219
Verehrung Deines Geistes dafür nehmen willst. — Und was unsere
Streitsache betrifft, so denke ich also. Mir nicht mehr als Dir, herrlicher
Mann, liegt die Wahrheil am Herzen. Sei es, dass organische Körper
ans dem unsichtbaren in den sichtbaien Zustand sich erheben, sei es,
dass sie aus Luft sich hervorbringen: es gibt keinen Grund, weshalb
ich dies mehr als jenes wünschen, oder jenes vielmehr wollen, dieses
nicht wolli'n sollte. Und ebendies ist ja auch Deine Meinung, herrlicher
Mann. Einzig der Wahrheit forschen wir beide nach; das, was
wähl- ist, suchen wir. Warum also sollte ich gegen Dich streiten?
Warunj sollte ich Dir widerstreben , da Du mit mir nach demselben
Ziele strebst? Deiner Obhut vielmehr vertraue ich voll Zuversicht
meine Epigenesis an, sie zu vertheidigen und auszubauen , wenn sie
wahr ist; ist sie aber falsch, so soll sie auch mir ein verhasstes Unge-
heuer sein. Ich werde die Evolution bewundern, wenn sie wahr ist,
und werde den anbetungswürdigen Urheber der Natur mit demüthigster
Andacht verehren als eine den menschlichen Einsichten unerklärbare
Gottheil ; ist sie aber falsch, so wirst Du sie, auch wenn ich schweige,
ohne Zögern verwerfen.«
Aber Haller Hess die Evolution nicht fallen und mahnte vielmehr
\on einer ganz anderen Seite her den jüngeren Forscher ernstlich von
weiteren Angriffen auf diese Lehre aus Nützlichkeitsgründen
ab. Es war kurz vor seinen) Abgange nach Petersburg, als Wolff am
IT. April I 7()7 folgende höchst bezeichnende Antwort auf die erhaltene
Warnung an Hali.ek schrieb: er sei von der Wahrheit der Gründe, die
Haller j c t z t für die »Hypothese von derEvolulion« vorgebracht habe ') ,
so durchdrungen, dass er in der Thal nicht wisse, was er in Zukunft
für seinen Lebenszweck, die Geheimnisse des organischen Lebens zu
ergründen, thun solle. Er habe früher nicht so eingesehen wie jetzt,
dass es sich bei der Bedeutung der Evolutionslehre für die Religion nicht
sowohl um den Beweis der Wahrheit der Religion handle, als viel-
mehr darum, dass jener Beweis (durch die Thatsache der Ur-Erschaf-
fung und wunderbaren Evolvirung) »leicht, kurz und einleuchtend« sei,
dabei auch geschützt genug gegen laienhafte Bestreitung. Er begreife,
dass, zwar nicht für die wahrhaft religiösen Wahrheiten, aber für solche
populäre Demonstrationen die Auflichtung seiner Epigenesis vei'häng-
1 Diese Griiiulc scheinen ii ach Wolff s Antwort zu schliessen, tieni schönen Aus-
spruch Ham-er's wcnit: entsprochen zu h;il)en, wie er in den Worten liegt; »Laeli
merniniiniis, evperinienta ad verum duceic, verum ad Deum viain aperire.« (Op.
mm III, p. 190;. So schloss er einst (1752) seine Beurliieilung der BtFFON'schen
Theorie über die Weltentstehung, die man des Atheismus angeklagt hatte.
220
Alfred Kirdihnff, Caspar Friedrich Wolff.
nissvoll sei. «Freilich« setzt er hinzu »ist gegen die Existenz eines gott-
lichen Wesens noch nichts geschehen, wenn auch die organischen Kör-
per durch Xaturkräfte und unter natürlichen Ursachen sich darbilden,
denn diese Kräfte und Ursachen selbst, ja die Natur selbst verlangen
ebenso einen Urheber als die organischen Körper: aber dennoch würde
der Beweis weit in die Augen fallender und kräftiger sein, wenn wir
in der Betrachtung der Naturbedingungen fänden, dass die einzelnen
Naturproducteoder die organischen Körper einen Schöpfer nöthig hätten,
und nichts Organisches durch natürliche Ursachen hervorgel)racht wer-
den könne. a
Wir denken an das Dogma der einen oder vielen Erschaffungen
der Pflanzen- und Thierarten, an Darwin, an die anglicanische Kirche
und manchen ähnlichen Verdammungsruf diesseit des Canals! Denn
das sind Zwillingsschwestern die Theorie der Epigene^-is und die der
Descendenz. Die Wahrheit diese r wird wie die jener siegen, oder
vielmehr sie hat schon gesiegt!
Beiträge zur Keniituiss der Spougieu 1.
von
N. Miklucho-Maclay.
Mit Tafel IV. und V.
I. Ueber Guancha blanea, einen neuen Kalkschwamm.
Die reiche Schwammfauna der canarischen Inseln, welche ich im vori-
sen Winter (ISGC.^ CT) zu untersuchen Gelegenheit hatte, bietet auch in der
Abiheilung der Kalkspongien einige Mannigfaltigkeit. An den mitAlgen
und Schwämmen bedeckten zerklüfteten Lavamassen, die den niedrigen
Strand des Hafens del Arrecife Lanzarote bilden , fanden sich einige
Kalkschwämme von verschiedenerGrösse und Gestalt, die gruppenweise
an den Lavablöcken sassen. Es waren besonders zwei Formen, die
meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Die in Fig. 1 . auf Taf. IV.
abgebildete Gruppe wird eine bessere Idee vom Aussehen derselben
geben, als jede Beschreibung. Der Schwamm A [Taf. IV. Fig. 1.) be-
steht aus einem P , — "2' 2 Mm. langen, 1 4 Mm. breiten spindelförmigen
Körper, der auf einem ziemlich langen Stiel aufsitzt. Der Körper des
Schwarames ist schlaff und biegsam, so dass bei der leisesten Bewegung
des Wassers er sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite legt.
Am oberen Ende findet sich die Mundöffnung ^, die keinen mit blossem
Auge sichtbaren Spiculakranz besitzt, die Oberfläche erscheint glatt und
von glänzend weisser Färbung. Neben solchen Einzelnen fanden sich
auch mehrere dieser Körper , die auf einem gemeinschaftlichen Stiel
aufsassen iFig, I. B.)
In der Gesellschaft dieser, bald isolirt sich erhebenden, bald einem
gemeinsamen Stiele entspringenden Schwammkörper, die alszusammen-
4) Ich gebrauche den Ausdruck »Mund Öffnung« s( alt .Auswurfsöffnungd^r Auto-
ren, aus Gründen, aufweiche ich später zurückkonunen werde.
222 N. Miklucho-Miiflay,
gehörig leicht zu erkennen waren, traf sich noch eine andere Form von
mehr fremdartiger Beschaffenheit. Dieselbe (Fig. 1. C.) war grösser
(3 — i Mm, Länge, 11/2 — '-V2 Mm. Breite) und ihrer Gestalt nach von
den erstem sehr verschieden. Sie snss ebenfalls auf einem 1/4 — Y2Mm.
dicken Stiele (.s) , bildete aber einen ganz ansehnlichen kugeligen oder
birnförinigen Körper, der von zahlreichen Lücken (/) durchbrochen war.
Am obern Ende fand sich ebenfalls eine Mundöffnung [m]. Obwohl die
erste der beschriebenen Formen am besten zu der von Oscar ScHMmr
aufgestellten Gattung Ute passt, so will ich diesen Schwamm aus man-
chen Gründen, welche ich später miltheilen werde , mit einem nicht
gebrauchten Namen belegen : ich nenne diesen Schwamm Guancha
blanca. —
Die mikroskopische Untersuchung der Form A Fig. 1. ergab, dass
man durch die Mundöffhung in eine geräumige mit Flimmerepithel aus-
gekleidete Hölile gelangt. Dieser einfache Sack ist die verdauende Ca-
vität des Schwammes. Die Wandungen bestehen aus einem innern
Epithel, das auf einer zelligen Grundlage aufsitzt. Zwischen dieser und
der dünnen structiulosen Hülle finden sich regelmässig vertheilte drei-
strahlige Spicula. Die verdauende Gavität setzt sich, wie es scheint,
nicht in den Stiel fort.
Die Ilohli'äuiiK» der Foi'm C Fig. I. verhalten sich wesentlich an-
dei's. Durch die Muntlöff'nung gelangt man nicht wie bei der vorbe-
.schriebenen Form (A) in eine einfache blind geendigte Höhle, sondern
in einen Hohlraun), in welchen zahlreiche Canäle einmünden. Was die
Wandungen dieser Form betrifft, so bestehen sie aus denselben Zellen,
derselben Hülle und denselben Spicula wie bei der vorhin beschriebenen
FormA. Die äussere Gestalt und das Verhalten der Hohlräume hätten jedi'U
Systematiker bestimmt, die zwei Formen als verschiedene Arten , ja
sogar Gattungen zu beschreiben ; dennoch verhält es sich mit denselben
anders, .le mehr ich Exemplare untersuchte, um so grösser erschienen
die individuellen Verschiedenheiten der beiden Formen. Besonders
viele Abweichungen zeigten die Individuen der Form C. Kein einziges
war dem andern gleich ; in einem waren die Lücken zahlreicher und
kleiner, bei andern langgestreckt und an Zahl geringer; auch die äussere
Gestalt wechselte, sie war bald mehr spindelförmig bald oval, ja sogar
becherförmig. Alle diese Abweichungen Hessen es wünschenswerth
erscheinen, eine möglichst grosse Anzahl von Individuen zu Gesicht zu
bekommen. Schon im Laufe der nächsten Tage fand ich eine Anzahl
Schwammindividuen, die sich zu einer Reihe schöner Uebergangsformen
ordnen Hessen. Eine genauere Betrachtung der Fig. i. und 2. wird
dieses Verhallen viel besser als Worte denionstriren.
Beilrfiue zur Ki'iindiiss der Siioimidi I. 223
Auf Fig. 1 habe ii-li dio ll.'mptfcrmcii der (Jii;iii<h;i, auf Fig. 2 die
IVbergiingsfonncn dari^esl«'!!!.
In der Xaliir licss sich die rclicriinngsioilu' siel vollsliindigcr er-
kemicn, nlxT alle (Vwse liuiiNidiicn einzeln ahzuhilden, wäi'e zu weil-
lautig und es .sclicinl mir. da.ss die heiiieleirlen Zeichnungen \ollkomnien
ausreichen. —
Die Form C ist nicht die lelzle in dieser Reihe. Man findet, ol>\vohI
nicht sooft, Nvie die andern, abei" in der Nähe derselben kleine Polster,
dünne Ueberzüge von ungleicher Grösse (G —9 Mm. Länge und i
bis i Mm. Dicke' und Gestalt. Diese Schwammform besitzt aber die-
selben Lücken, wie jene von C und geht in der Thal aus der letztge-
nannten Form hervor. Sehr viele dieser liegenden Formen besitzen
Stiele, von welchen sie ursprünglich getragen wurden. (F, D Fig. 1
und •>). Man muss sich demnach vorstellen, dass anfänglich frei empor-
ragende Formen sich senken, und unter polstei'ortiger Ausbreitung ihre
anfängliche Form verlieren. Für die einzelnen Stadien dieses Vorganges
sind Belege unschwer aufzufinden.
Diese Reihe von Febergängen, selbst wenn sie auch nicht so voll-
ständig wäre, wie sie inderThat ist, und die übereinstimmende mikro-
skopische Structur, führen mich zu dem Schluss, dass alle diese For-
men blos Zustände eines und desselben Schwamm es sind
und dass die Form A für die ursprüngliche gelten kann,
aus welcher die andern entstanden sind. Fragt man, wie
alle diese Formen aus der einen entstanden sind? so ist die Antwort:
durch Verwachsung odei- G on crescen z '). Diese Verwachsung
oder Verschmelzung ist ein bei Schwämmen bereits bekannter Process,
welchen ein Autor treffend in folgenden Worten dargestellt hat: «Kom-
men sie die Schwämme] bei weiterer Ausdehnung mit einander in Be-
rührung, so schwindet ihre Grenzhaut, die Nadeln des Schwammes
kreuzen sich, die Innern Canäle treten mit einander in Verbindung,
man kann ihn jetzt nur noch gewaltsam zerreissen.«
Dasselbe kann man auch von derGuancha .sagen. Da dieGuancha,
wie früher erwähnt, fast immer gruppenweise vorkommt, sehr oft so-
gar mehrere Individuen auf einem gemeinschaftlichen Stiel (Form B) so
kann es leicht sich treffen, dass die einzelnen Individuen mit einander
in Berührung kommen, sich aneinander legen, wobei die Wandungen
verschmelzen. Es entstehen dadurch zugleich Verbindungen der Hohl-
räume: erst später vereinigen sich dieMundöflFnungen zu einer gemein-
1) E. Haeckel, Gen. Morpli. 11. p. Hl hal dys Voi koiiinien dieses Vorganges
im Thierreiclie ziisamrueiiL'fslelll.
224 N. Miklucho-Maclay,
schaftlichen. Man kann häufig solche im Verschmelzen begriffene
• Schwämme finden. Fig. 2, 2 zeigt ein Stadium dieses Processes deutlich,
die verdauenden Cavitäten sind zum Theil vereinigt, die Mundöffnungen
noch getrennt. Schema 3 Fig.:} zeigt einen Längsdurchschnitt desselben
Schvvammes. Bezüglich der verzweigten Form B Fig. 1 . scheinen grössere
Complicationen zu bestehen. Wahrscheinlich entsteht sie nur theil-
weise durch Verwachsen einzelner Individuen, theilweise auch durch
Knospenbildung. Für das letztere spricht das öftere Fehlen einer dif-
ferenzirten Mundötfnung, welches bei einzeln stehenden Individuen nur
in sehr jungem Zustande vorkommt. Die an der verästelten Form vor-
kommentlen mundlosen Individuen werden daher gleichfalls als frühe
Zustände angesehen werden müssen. An der complicirteren Form C
findet man zuweilen zwei, sogar mehrere Mundöffnungen (4 Fig. 2), die
sich später zu einer einzigen Oeffnung verbinden, und diese stellt dann
das häufigere an dieser Form sich treffende Verhalten dar. Die Lücken
sind Andeutungen der früheren Trennung. Die verdauenden Cavitäten
der Form A bilden sich in der Foim C zu Canälen, die alle in einen ge-
meinschaftlichen Sinus ausmünden. Dieses Verhalten sieht man in Fig. 12.
Taf. V. sehr deutlich. Es ist ein horizontaler Schnitt durch das obere
Dritlheil der Guanciia, Form C, (/ ist dei" gemeinschaftliche Sinus, in
welchen die Canäic e ausmünden ; u ist die Mundöffnung.
Diese Form G geht bei bedeutendem Wachsthum in die Form D
über. Der Stiel wird zu schwach, um den immermehr an Masse zu-
nehmenden Körper zu tiagen , die Form C senkt sich zu Boden und
wächst weiter, indem sie als Polster die darunterliegenden Körper be-
deckt. Der Stiel bleibt als rudimentäre Bildung zurück und deutet auf j
den Zusammenhang mit den andern Formen. Jede dieser Formen (A,
B, C, D) kann aber selbstständig fortexistiren ; es sind keine noth-
wendig zu durchlaufenden Stadien, es ist keine Entwickelung der einen
Form aus der andern ; es sind blos Zustände eines Schwammes;
aber dennoch erfordert jede nachfolgende Form das Vorhandensein einer]
vorhergehenden.
Die verschiedenen Formen eischeinen auch in verschiedener An-|
zahl. Die einfache Form A ist die häufigste, seltener ist schon die Fori
B, noch seltener und von der liegenden Form D habeich im Ganzen nujl
3 oder 4 Exemplare gefunden. Auch diese Zahlenverhältnisse sprecheii
füi' das vorhin Gesagte.
Um das Verhalten der Hohlräume bei den verschiedenen Forme(
anschaulich zu machen, habeich in Fig. 3 schematische Quer- und Längs-
durchschnitte zusammengestellt, an welchen man dieallmählichen Ueber
eänse sehen kann.
ßpitifige zur Keniiliiiss der Siioiitiien I. 225
In Fig. 3. sind 1. und i . Durchschnitlo durch die Form A. Die vcr-
ilauende Gnvitiit ist ein einfacher Sack oime Caniile und Fhmmer-
kammern. 3 und ■> (Fig. 3.) bilden einen Uebergang zu der complicirlen
Form C, deren schematische Durchschnille ?, 6 und 7 darstellen. S ist
der gemeinschaflliclie Sinus , in welchen die Caniile einmünden. Ob
die inn(M'e Wandung aller dieser verschiedenen Hohlraumformen mit
Flimmerj>ithel ausgekleidet isl, kann ich nicht behaupten, doch halte ich
es für wahrscheinlich. Sicher habeich dasselbe blos bei Form A ges(>hen.
Feinerer Bau.
Die einfachen Formen derGuancha Fig. 1.2. A sind schöne mikro-
skopische Objecle, da sie sehr durchsichtig sind. Ein Zusatz von wenig
Glycerin reicht aus, um die ganze Structur zu erkennen. Schon bei
den schwächsten Vergrösserungen unterscheidet man die sackförmige
Höhle, die ich als verdauende Cavität erwähnt habe. Sie ist von einer
dünnen Wandung umgeben, welche äusserlich viele Unebenheiten be-
sitzt, indem die Schenkel der Spicula überall hervorragen. Diese sind
daselbst von einer äusserst dünnen homogenen Hülle (Cuticula) über-
zogen (Fig. 10. (ib). Diese dünne, die ganze Guancha äusserlich
umkleidende Hülle, setzt sich ohne deutliche Grenze nach innen fort.
Bei Behandlung mit Säuren tritt sie deutlicher hervor, ist aber durchaus
kein Kunstproduct, da sie schon bei ganz frischen, blos mit Wasser be-
handelten Exemplaren deutlich ist. Sie ist sehr dem undifferenzirten
kernlosen Protoplasma, das man so oft bei andern Schwämmen beob-
achtet, ähnlich und scheint von der darunterliegenden Zellenschicht
ausgeschieden zu sein. Darunter finden sich sehr regelmässig geordnete
Spicula, die frei zwischen den Zellen liegen. Um den Mund herum
zeigen die Spicula eine bestimmte Anordnung, so dass sie einen zier-
lichen Kranz bilden (Fig. 11. a). Dieser Kranz zeigt sich bei allen
Formen der Guancha ähnlich. Die Kalkspicula sind sämmtlich drei-
schenklig, aber von sehr verschiedener Grösse, der eine Schenkel ist
länger als die zwei andern; der durch je zwei Schenkel gebildete Winkel
beträgt ISO". Die Spicula sind nicht hohl, wie man beim Glühen oder
Auflösen in schwachen Säuern leicht sehen kann. Beim Glühen be-
konmit man oft ein Bild , welches man einer verkohlten organischen
Grundlage zuschreiben möchte. Aber da ich diese Grundlage heim all-
mählichen Auflösen in verdünnter Essigsäure niemals bekonunen hal)e,
so konnte ersleres wohl eine optische Täuschung sein. Die Spicula bil-
den bei Guancha ein zierliches Netzwerk, dessen Anoi'dnung, wie vorhin
erwähnt, sehr regelmässig und conslant isl. Der längere Schenkel ist
B^in.l IV. 2. 15
226 N. Miklucho-Maelay,
{gewöhnlich nach unten gerichtet; (Fig. 6.) die Anordnung ist bei .dien
Formen der Guanclia dieselbe. Wie die Spicula in der Guancha ent-
stehen, weiss ich nicht. Die verdauende Cavität ist mit Flimmerepithel
ausgekleidet, wie man das bei gewissen Umständen sehr gut sehen
kann. Wenn die verdauende Cavität, wie wir später sehen werden, mit
l<>mbryonen angefüllt ist, so kann sie eine beträchtliche Ausdehnung
erleiden, die Wandungen werden noch dünner, und man kann das in-
nere Epithel beim Vorübergleiten der bewimperten Embryonen deutlich
unterscheiden. Genügend dünne Durchschnitte an der zarten frischen
Guancha sind mir nie gelungen , so dass ich die Epithelschicht nie im
Zusammenhange beobachtet habe ; ich sah an diesen Durchschnitten
blos die äussere Hülle, durchschnittene Spicula zwischen der innern
Zellenschicht, und einzelne abgelöste Zellen, die wahrscheinlich von der
Epithelschicht abstammten. In den Wandungen der Guancha findet
sich durchaus nichts den von Lieberkühn bei Spongillen nachgewiesenen
Wimperapparaten Analoges. Etwas, den sogenannten Einströmungs-
öffnungen Aehnliches habe ich nur bei ein paar Exemplaren gesehen ;
es waren sehr enge Canäle, die die äussere Hülle durchbrachen und
sich in der mittleren Zellenschicht verloren, bis in die verdauende Ca-
vität Hessen sich dieselben nicht verfolgen. Bei sehr vielen andern
speciell darauf untersuchten lebenden Schwämmen Hess sich gar nichts
derartiges auffinden.
Durch Behandlung mit schwachen Säuren kann man sämmtliche
Spicula entfernen, dann bekommt man ein weiches durch Behandlung
mit Carmin sich intensiv roth färbendes sackförmiges Gebilde , an wel-
ciicm man die zellige Structur leicht erkennen kann. Durch Entfernung
der Spicula wird die äussere Form der Guancha gar nicht verändert.
Ein ganz analoges Bild bekommt man bei Entfernung des Paren-
chyms des Schwammes mittels Glühen ; man erhält schön angeordnete
Spicula, die auch die Form des Schwammes vollkommen darstellen.
Was ich hier über die mikroskopische Structur gesagt, gilt für alle
Formen.
Fortpflanzung.
Beim Untersuchen einiger Individuen fand ich die ganze ver-
dauende Cavität miteiner zelligen Masse angefüllt (Taf. IV. Fig. 4. e). Um
diesen Inhalt deutlicher zu sehen, entfernte ich durch Essigsäure die
Spicula und fand diese Masse aus Zellencomplexen (Keimkörper der
Autoren) bestehend, die durch äusserst schwache Conturen getrennt
waren (Fig. 5.). Einzelne Individuen derselben Gruppe waren unver-
i
4
Beiträge zur Kenntiiiss der Spongien I. 227
ändort und noch nndcrc zeigten dieselben Complexe mit einer deut-
lichen IlüMe umgehen. Weitere Untersuchungen ergaben, dass diese
zelligen Conglomerate kleiner werden und sich verdichten , so dass sie
später nur einen Theil der verdauenden Cavität einnehmen. Die in-
neren Parthien dieser Körper fiirlien sich braun und es differenzirt sich
an ihnen eine helle ziemlich dicke äussere Schichte. Man kann diese
Gebilde nach Ablauf dieser Differenzirung als Embryonen bezeichnen.
Bald darauf bekommen sie lange Wimpern, vermöge deren sie in der
verdauenden Cavität umherschwimmen (Fig. i e). Diese bewimperten
Eml)ryonen treten durch den Mund aus und verlassen so das Mutter-
Ihier. Die freigewordenen Embryonen (Schwärmsporen der Autoren)
sind oval (Fig. 12), besitzen einen dunkelbraunen Inhalt und eine helle
Corticalschicht und über dieser noch eine zarte Hülle.
lieber die feinere Struetur dieser hellen Schicht weiss ich nicht viel zu
sagen. Die angewandten Vergrösserungen (450) reichen nicht aus, um
ihre Beschaffenheit zu erkennen. Sie schien mir aus sehr grossen Zellen
zu bestehen, doch will ich das nicht behaupten. Bei leichten Druck-
versuchen mit dem Deckgläschen zerreisst die äussere Hülle sowie die
helle Corticalschicht und der braune, aus Zellen bestehende Inhalt tritt
aus; in diesen ausgetretenen Zellen habe ich nie etwas einem Spiculum
Aehnliches gefunden. An den folgenden Tagen fand ich mehrere der Em-
bryonen am Glase ansitzend, während andere noch herumschwärmten.
Einige der festhaftenden hatten schon einen Theil ihres Wimperkleides
verloren und ihre äussere Gestalt war verändert. Diese Embryonen
gingen aber im Laufe der folgenden Tage zu Grunde und da die Be-
obachtung in die letzte Zeit unseres Aufenthaltes in Arrecife fiel, so
musste ich die Anstellung neuer Züchtungsversuche aufgeben und darauf
verzichten die ganze Entwicklung vom Embryo bis zur erwachsenen
Guancha zu verfolgen. Aber schon lange vor dieser Beobachtung fand
ich ganz junge Exemplare derselben Guancha; sie besassen noch keine
differenzirte Mundöffnung, die auch hier, wie bei den übrigen Schwäm-
men erst .später entsteht, so dass, obwohl mir gewiss einige Zwischen-
stadien fehlen, ich doch, auf die positiven Beobachtungen gestützt, ein
ideales Bild der vollständigen Entwicklungsreihe construiren kann.
Fig. 1.3 auf Taf. lY. stellt diese Entwicklungsreihe vor.
Von einem befruchtenden Elemente, Samenfäden, habe ich nichts
gesehen.
15*
228 N. Miklncho-Maclay,
Ge in mulabildun g bei Guancha und andern See-
schwämm en.
Eine andere, ebenfalls interessante Fortpflanzungsart, die ich bei
Guancha beobachtete, ist die sogenannte Gemmulabildung, die
auch bei anderen Seeschwämmen verbreitet ist; auf Algen, Pfählen,
Steinen am Strande fand ich zuweilen kleine weissliche Kügelchen , die
ich für Genimulae ansah, ohne zu wissen, dass sie der Guancha ange-
hörten. Endlich half mir ein glücklicher Zufall. Eines Tages erbeutete
ich eine Guanchagruppe, deren Formen mir auffielen. Ich hielt diese
Schwämme in einem Gläschen isolirt; und fand am nächsten Tage noch
keine wesentliche Veränderung. An den folgenden Tagen fehlte mir
die Zeit jene Schwämme von neuem zu untersuchen , so dass ich nur
einigemal das Wasser wechselte. Am fünften Tage fand ich zu meinem
grossen Erstaunen die Gruppe ganz verändert. An einzelnen Stellen der
Schwammindividuen boten sich Anschwellungen dar (Fig. 6 g) , die an
anderen scharf abgegrenzt waren, und eine Umwandlung in Gemmulae
wahrnehmen Hessen. Die eine derselben löste sich schon in ein paar
Stunden ab. Sie glich vollständig den vorhin erwähnten (Fig. 7) , die
mir bezüglich ihrer Abstammung anfänglich unbekannt waren.
Die dünne Wandung umschloss eine aus Zellen bestehende Sub-
stanz und einzelne Spicula des Mutterschwammes.
Um vollkommen sicher zu sein , nahm ich eine andere Guancha-
gruppe (Fig. 8), deren Individuen voll Embryonen waren und unter-
warf sie demselben Versuche. In wenigen Tagen erhielt ich neue Gem-
mulae (Fig. 9), die Individuen mit den Embryonen waren rückgebildet.
Die Gemmulae der Guancha entwickeln sich, indem einzelne Stellen des
Körpers anschwellen. Die Wand derselben wird an diesen Stellen dün-
ner, durchsichtiger, die Anschwellung nimmt allmählich an Grösse zu
und die Schwammzellen und Spicula des Schwammes gehen in diese
sich bildende Gemmula über, die sich allmählich abschnürt. Die äussere
Hülle der Guancha wird zur Gemmulahülle, der Inhalt des Schwanimes
zum Gemmula-Inhalt. Aus einem Schwammindividuum geht bald eine
Gemmula, bald gehen deren zwei hervor.
Ich behielt die abgelösten Gemmulae bis zu meiner Abreise aus
Arrecife, zwei Wochen ungefähr, wechselte sorgfällig das Wasser, ohne
jedoch eine Weiterentwickelung der Gemmulae erzielen zu können.
Das Schicksal dieser Gemmulae ist wahrscheinlich dasselbe wie das
derGemmulae anderer Schwämme; sie treiben sich umher, bis sie gün-
stige Gelegenheit und .Fahreszeit finden. (Dabei muss erwähnt werden,
dass meine Beobachtuncen in den Monat Februar fielen). — Schon
Beilrägp zur Koimliiiss der Spoiifii<'ii I. 229
tiiiluT liiiul ich am Fuss vieler einzeln stehender Guancha Felzcn eines
lliiiit( luMis und Spicula, diiMlor Guancha anzuyi'horcn schienen (Fii^. I 6.).
Die ßodouluni; dieses Ihiulchens wurde mir aber erst dann klar, als ich
diese Thatsache mil den» Vorhergehenden in Zusanmienhang brachte.
Ich untersuchte darauf sehr viele E\emplare, bei einigen fand ich gar
nichts derartiges, bei andern gleiche Fetzen , zwei oder drei aber be-
sassen vollständige Häute, die am untern Ende des Stieles sassen und
viel umfänglicher waren, als die darauf sich erhebende Guancha. Die
Vergleichung dieser Häute mit der struclurlosen GemmulahüUe erwies
beider Identität. Diese Beobachtungen habe ich mehrfach wiederholen
können. So fand ich ganz einzeln vorkommende Guancha auf Algen
an einer Uferstelle bei Puerto Naos (Lanzarote) , wo ich nach langem
Suchen keine andere Guancha zu Gesicht bekam. Sic besassen die be-
schriebenen Membranreste, offenbar waren sie als Gemmulae dahin ge-
rathen. Die Genunulae sind beim Süsswasserschwanun von LiEBKRKÜiiiN
und andern Naturforschern beobachtet und genauer untersucht worden.
Es war zu vermuthen, dass das Vorkommen dieser Bildungen nicht blos
auf Spongilla beschränkt sei, aber soviel ich weiss, sind Gemnmiae bei
Seeschwämmen noch nicht constatirt worden. Da ich fast bei allen auf
Lanzarote vorkommenden Schwämmen Gemmulae gefunden habe, so
benutze ich diese Gelegenheit, um sowohl die grössere Verbreitung
dieses Forlpflanzungsmodus nachzuweisen , als auch einiges über die
Verschiedenheit in ihrem Vorkommen milzulheilen. Die Gemmulae
fanden sich bei Kalk-, Kiesel- und Hornschwämmen. Man trifft dieselben
bald imParenchym des alten Schwammes (Fig. 18), bald frei vom Wasser
gi'trieben oder an fremde Gegenstände befestigt. Die Gemnmiae ent-
stehen bei Hornschwämmen im Innern des Schwammkörpers , indem
sich an einzelnen Stellen Anhäufungen von Zellen bilden. Diese umgeben
sich mit einer Hülle und bleiben in diesem Zustande, bis mechanische
Einwirkung des Wassers die sie umschliessenden, allmählich abster-
benden Theile des Mutlerschwammes entfernt und sie auf diese Weise
befreit. Die Genunulae der Hornschwänune zeigen einen Zusammen-
hang mit dem Gei'üste, indem Verästelungen desselben in dicGemnmla
hineinragen (Fig. 18a). So sieht man beim Abslerben des Schwammes
oft grössere Massen des Gerüstes mit den daran sitzenden Gemmulae.
Dieser Zusammenhang persistiit aber nicht lange; das llorngerüst wird
durch das strömende Wasser zerbröckelt und die einzelnen Gemmulae
werden frei. Vom alten Gerüst bleiben noch llockenartige Reste als
Anhänge (Fig. 19a) an der Gemmula übrig, womitsich diese sehr leicht an
llolzslückchen anhängen und mit denselben weile Wanderungen machen
können. DieGenunulae dieser Schwämme sind helle oder dunkelbraune
230 N- Miklucho-Maclay,
Kugeln von vorschirdener Grösse (1 — 2 Mm.), diese ist sogar am selben
Schwämme sehr wechselnd. Die Hülle ist dünn , stark lichtl)rechendj
in Kali nur beim Kochen löslich und l>ietet auch der Einwirkung von
Säuren viel Widerstand dar.
Dieses Verhalten scheint aber je nach dem Alter der Gemmula ver-
schieden zusein; Hüllen älterer Gemmulae sind am schwersten löslich.
Somit bietet diese Membian ähnhche Veränderungen wie Chilinmem-
branen dar. Von Kiesel- oder Kalkeinlagerungen in der Hülle, etwas
dem Amphidisken Aehnlichem habe ich keine Spur gefunden. Ein Po-
rus fand sich nur bei einem Kalkschwanun, Nardoa canariensis mihi '),
wo der Inhalt beim Aufdrücken mit dem Deckgläschen nur an einer
bestinunten Stelle hervortrat. Bei allen andern zerriss auch beim leisesten
Aufdrücken die ganze Hülle.
Es besteht durchaus kein wesentlicher Unterschied zwischen dem
Inhalte der Genunula und dem Parcnchyra desselben Schwammes , es
sind dieselben Zellen, dieselben Spicula. In der Genmiula eines llorn-
schwammes habe ich ziemlich grosse concrementartige Bildungen ge-
troffen, die in Säure sich nicht lösten, nur bei Behandlung mit Kali eine
deutliche concentrische Schichtung zeigten. ObsiedemSchwanun ange-
hören oder fremde Bildungen sind, habe ich nicht ermitteln können.
Vorkommen der Guancha und Stellung im Systeme.
Die Zeit meiner Untersuchungen fiel in den Februar. Der Fundort
der Guancha blanca waren die Riffe am Fort vor dem Puerto del Arre-
cife auf der Insel Lanzarote. An andern Stellen hal>e ich sie zwar ge-
sucht, aber nicht gefunden, mit Ausnahme zweier vereinzelter Guancha
in Puerto Naos.
1) Es fanden sich bei Arrecife ausser den beschriebenen noch drei Kalk-
schwänime, deren kurze Beschreibung ich hier anreihen will. Diese Schwäninie
bilden ein mit Lücken durchbrochenes Polster, besitzen eine oder mehrere Mund-
öfTnungen , die in einen Complex von Canälen führen; sämmtliche Spicula sind
dreistrahlig , die Schwämme zeigen einen übereinstimmenden Bau und unter-
scheiden sich von einander nur durch ihre Farbe, die bei den einzelnen sehr constant
ist. Der eine Schwamm ist weiss, der andere mennigroth, der dritte schwelelgelb.
Die Farben, die am lebenden Schwamm sehr schön sind, verschwinden in Spiritus.
Die Schwämme färben sich braun und sind in diesem Zustande kaum zu unter-
scheiden, sowie auch die Spicula nur sehr wenig von einander verschieden sind.
Diese drei Schwämme passen am besten in die vonO. Schmidt aufgestellte Gattung
Nardoa und ich nenne sie nach Fundort und Farbe N. canariensis, N. rubra und
N. sulphurea. Gemmulae habe ich bei den zwei letzteren nicht gefunden.
Ri'ili'iijii' L\u kcimliiiss (In v^|miiiüH'ii I. 2H1
Auf meiner Rückreise nach Europa habe icli nicIuCacli die Strand-
.siiuino der nordalVikanischen Küste (l)oi Mogadoi- und Massagan) unlor-
suclil und Tand zirndiili viele Scliwiimnie, zum Theil solche die auf den
canarischen Insehi meines Wissens nicht vorkonmien ; die (Juancha
fehlte jedocii hier. Audi mein Suchen am Strande der Hai von Alt^esiias
hei Gihialtar war fruchtlos. In Arrecife aher ist die Guancha durchaus
keine Seltenheit. Sie sitzt gruppenweise, die veischiedenen Foiinen
lieisanunen, an Steinen, die gewöhnlich beiKbhe lrock(>n gelegt werden.
Das ist ungefähr Alles, was ich über die schone Guancha blanca
zu sagen habe. Ich weiss wohl . dass meine Beobachtungen Vieles zu
wünschen übrig lassen, aber diese Untersuchungen falhui in die letzten
Tage desAufenthalles auf den canarischen Inseln, sodass ich Vieles nicht
bei'ücksichligen konnte.
Bevor ich zur systematischen Stellung der Guancha blanca über-
gehe, will ich über diejetzt bestehende Classification der Kalkschwänmie
einige Worte sagen.
DerGattungsnameGra n tia ist für sämmtliche Kalkschwämme von
Flemming 1 82S aufgestellt. Liebekküiin trennte davon Sycon; er J)elegte
mit diesem Namen alle cylindrischen mehr oder weniger regelmässigen
Kalkschwämme, im Gegensatz zu den formlosen und mit Lücken durch-
brociienen, für die er den Namen Grantia beibehielt.
BowERBANK theilto dann die Syconen in den eigentlichen Sycon und
in die D un s ter villia ; 0. Schmidt stellte die Gattungen Ute und
Nardoa auf:
NachO. ScuMmr zerfallen die Kalkschwämme in folgende Gattungen :
I. Gattung Sycon Ldk. Körper spindelförmig, eine grosse
Centralhöhle enthaltend. Um die AusströmungsöfTnung ein
Kranz grosser Nadeln.
■2. Gattung Dunster villia Luk. Den Syconen ganz ähnlich,
Oberfläche getäfelt.
3. Gattung Ute Sdt. Schlaffe Wandungen , geräumige Central-
höhle ohne Nadelkranz.
i. Gattung Gran tia Lbk. Körper unregelraässig, verästelt, Zahl
der Ausströmungsöffnungen unbestimmt, Nadelkranz fehlt,
Wandungen solid.
ö. Gattung Nardoa Sdl. Körper unregelmässig, Wandungen
sind zart, die Canäle münden in eine Centralhöhle i) .
Meine Guancha besitzt Formen, die nach den Autoren für ver-
schiedene Gattungen gelten können, da sie zugleich Ute (Form A) und
1) Ose Schmidt, Sp. «I. Adiiat. Meeres S. IS— 19.
232 N. Mikliiclio-Mcaclay,
»
Nardoa ist (FormD , iiiul noch eine FormC. besilzl, die vielleicht auch,
einzehi gefunden und untersucht, als Gattung aufgestellt werden könnte.
Dieses Verhalten war der Grund, weshali) ich für den untersuchten
Schwamm einen nicht gebrauchten Namen wählte. Ich überlasse einem
mehr in Systematik Bewanderten, die Guancha zu classificiren, glaube
aber dass solches ohne Aenderung der l)ei der Systematik der Spongien
angewandten Principien nicht geschehen könne. Statt dessen wende ich
mich jetzt noch zu einigen allgemeineren zoologischen Betrachtungen
über die Natur der Schwämme.
II. lieber den coelenterischen Apparat der Schwämme.
Der für wesentlich geltende anatomische Charakter derSchwänune,
dass das Wasser durch besondere verscliliessbare mikroskopische OefT-
nungen aufgenommen, dann in den Canälen dcsSchwammes durch die
sogenannten Wimperorgane hindurch getrieben wird und wieder durch
besondere Ausströmungsöffnungen (Schornsteine) den Schwamm ver-
lässt, ist durchaus nicht so allgemein , wie man bis jetzt anzunehmen
pflegte. Es waren die Untersuchungen von Grant und Lieberkühn, die
den Grund zu dieser Anschauung legten, die auch mit verschiedenen,
aber nicht wesentlichen Modificationen von Bowerbank, 0. ScHMmx und
anderen Spongiologen angenommen ist. Der dieser Mittheilung gegebene
Raum erlaubt mir nicht, auf alle diese Verschiedenheiten einzugehen.
Ich will blos bemerken, dass einige Umstände gegen diese so verbrei-
tete Anschauung sprechen. Während meines Aufenthaltes auf den ca-
narischen Inseln hatte ich Gelegenheit, ziemlich viele Seeschwämme zu
sehen und lebend zu beobachten. Dabei ist es mir gelungen, bei vielen
der Schwämme zusehen, dass durch die Ausströmungsöffnungen Wasser
nicht nur ausströmt, sondern auch einströmt. Das Aus-
strömen des Wassers ist an den SchvYämmen weit leichter zu beobach-
ten, als das Einströmen. Der hauptsächliche Grund liegt in den Um-
ständen, unter welchen die Beobachtung angestellt wird. Denn es ist
sehr schwierig, Momente (Licht, Wellenbewegung des Wassers etc.;
zu beseitigen, die als Reize auf den Schwamm wirken, auf welche der-
selbe reagirt, indem er sich zusammenzieht und das Wasser ausströmen
lässt. Bei längerer Beobachtung gelingt es unzweifelhaft; auch das Ein-
strömen zu beobachten. Es wäre demnach die Scliornsteinöffnung,
nicht blos A us ström ungs-, sondern auch Einströmungsöff-
n u n g.
Damit will ich durchaus nicht sagen, dass andere Forscher v\ie
Grant , Lieberkühn etc. falsch beobachtet haben : alles was dieselben
BeitiäjiP iiir Kciintuiss der S|Kmiiii'n I. 233
i!;eselioii luibon, habe ich auch an den von mir IjcohachtclenSchwänunon
profunden. Violleicht lie|j;l es nur an den untersuchten Objecten , dass
CS mir ij;clani; nieiir zu sehen, als die ol)ent;enannlen NaUiriorsclK^r.
Es ist aucli müj;licii, dass dießehauptuni^, dass die Schwanuiiüllnungen
zu verschiedenen Functionen diilerenziit seien, ])ei manchen Schwäm-
men ganz l)erechtigt ist. Aber dieseTheorie derCirculation «les Wassers
wiire für andere Spongicn volil%.ommen unhaltbar. Bei meiner Guancha
z. H. finden sich weder Einstromungsoffnungen noch Wimi)era|)[)aiate.
Die ganze Höhlung besteht aus einem sackförmigen Gebilde, in welches
Wasser durch die Mundöllnung sowohl aufgenommen als ausgestossen
wird, ganz nach Art des Verdauungsapparats bei Coelentei'alen.
Viel natürlicher erscheint es mir, die liohlraumverhaltnisse der
Schwänune von einem allgemeineren Standpunete zu betrachten und
zu beurlheilen. Wenn wir die allmähliche Entwickelung der Ernährungs-
organe in der Thierreihe verfolgen, so finden wir eine Reihe von Diü'e-
renzirungen. Bei vielen Thieren geschieht die Nahrungsaufnahme durch
die ganze Körperoberfläche (Gregarinen, Cestoden). Diese Form der
Ernährung (Endosmose) findet sich auch im Pflanzenreiche. Die Auf-
nahme fester Stolle in den Körper findet also nicht sogleich durch eine
Mundöfl'nung, die in die verdauende Höhle führt, statt, sondern gleich-
sam als Uebergang hierzu ist in einer Abtheilung von Thieren (deuRhi-
zopoden) der gesanunte Körper zur Nahrungsaufnahme dienend, indem
jede Stelle der Oberfläche als Mund, jede Stelle des Innern als Magen
zu fungiren im Stande ist. Auf einer höheren Bildungsstufe treffen wir
dann den Verdauungsapparat durch eine im Körper befindliche Gavität
vorgestellt, die durch eine Mundöflnung nach aussen führt (Goelenteraten,
viele Würnier) . Bei den Schwämmen finden wir Verhältnisse , die als
Uebergänge zwischen den Einrichtungen derRhizopoden und denen der
viel höher stehenden Goelenteraten angesehen werden können. Es be-
stehen nämlich bei einigen Schw ämmen mehrere OefTnungen , die zur
Nahrungsaufnahme dienen können, die sich aber von den F'inrichtungen
der Rhizopoden unterscheiden, indem sie eine constantere Bildung re-
präsentireu (Localisirung der Function). Bei andern Schwämmen be-
merkt man schon eine Gentralisation , indem sich eine oder mehrere
Oellnungen besonders ausbilden. Diese Diflerenzirung geht weiter, bis
sie endlich zur Bildung einer grossen Mundöflnung führt, die zugleich
auch After ist und die in eine weite einfache oder complicirte verdauende
Cavitiil führt ^bei unserm Kalkschwamm, bei Hydra u. a.). Diese Ein-
richtungen schliessen sich unmittelbar an die höhere Bildungsstufe des
Verdauungsapparals der Goelenteraten.
Auf das Vorhergehende mich stützend, betrachte ich den cölente-
234 N. Mikhiilio-Miidiiy,
i'ischen Apptiial der Schwämme als eine zwar noch iiKlinorcnlere, aber
mit dorn Gastiovascularapparat dcrCoelcnloraUn homologe Bildunti, die
hei den letzleren nur vveilei- diüercnzii't isl.
Die weitere Üifierenzirung der verdauenden Cavität hei donCoelen-
teraten führt zum Auftreten von Antiineren, die aber, wie ich später
mittheilen werde, auch manchen Schwünnncn zukonunen.
Ausser der.Mundöifnung comujunicii't der coelenterische Api)arat
mancher Schwämme durch Canäle unmittelbar nach Aussen, bei einigen,
wie bei der Guancha und andern, fehlen sie. Diese Bildung wird all-
mählich ganz rudimentär, verliert damit ihre Bedeutung, findet sich aber
noch bei einigen Goelenteraten, wo sie später ganz verschwindet, indem
eine völlig abgeschlossene Leibeshöhle besteht. Diese Auffassung des
coelenteiischen Apparats der Schwämme scheint mir die Erscheinungen
jener Einrichtung auf die ungezwungenste Weise zu erklären. Sie
verbindet zugleich einfachere Zustände mit complicirteren, und führt
von dem bei ersteren herrschenden Wechsel vollen Verhalten zu dem
scheinbar einen abgeschlossenen Typus re[)räsentirenden Verhalten tier
Goelenteraten hin.
Wie aus dem von mir Vorgebrachten ersehen werden kann, bietet
die Structur der Schwiunme viel mehr Mannigfaltigkeit, als man bisher
annehmen mochte.
Man hatte irrthümlicherweise Vorstellungen, die aus den blos bei
einigen Arten constatirten Thatsachen gewonnen waren, auf die ganze
Abtheilung übertragen.
Ich selbst habe zwar zu wenig Schwämme untersucht, um über
alle bei den Spongien bestehenden Verhältnisse der Structur und der
Lebenserscheinungen ein Urtheil abgeben zu können, allein ich darf
glauben, dass das von der Guancha mitgetheilte das Ungenügende der
bisherigen Auffassung der Spongien darthut. Namentlich liegt in der
Bildung des coelenterischen Apparates und seiner Entstehungsweise bei
den complicirteren Formen ein jene Auffassung umgestaltendes Moment.
Wenn ich hienach auch die übrigen Spongien l)eurtheilen möchte, so
Lhue ich dies jedoch nur hypothetisch. Diese Hypothese erscheint mir
aber gerechtfertigt, da sie einmal auf Thatsachen sich stützt, und dann
ganze Bcihen sonst unerklärlicher Formerscheinungen in Zusamn)enhang
bringt.
III. Ucber die Stockbildung der Schwämme.
Die Guancha blanca ist für die Frage der Stockbildung nicht nur
bei den Schwämmen, sondern auch im Allgemeinen von Interesse. Wir
Beiträge zur kcniitiass dor Sjioiigicn l. 235
luibeii gesehen, wie aus ineliieren discretcn Schwiuiiiiiiiuli\iduen (IVr-
sonen) seliliesslich sich ein Stock bilden kann. Die Entstehung des
Stockes gesdiiehl durch Verwachsen. Dieser l*rücess ist besonders als
Moment iür Entstehung der Stöcke von Interesse, bis jetzt nahm man
an, (.lass tlie Cormen oder Stöcke i-nlstehen durch »unvollständige
Spaltung der Personen und zwar ist diese Spaltung alleimeistens
Knospenbildung, viel seltener Theilung.a ')
Guancha l)lanca ist ein Beispiel von Stockl)ildung durch Ver-
wachsung oder G o n er e s CO n z. Diese beiden Arten von Stockbil-
tlung sind wesentlich verschieden: während bei der ersten Form (Spal-
tung der I-ei'sonen) die einzelnen Individuen fünlteiOidnung nach Haeckkl
sich nicht volkitändig entwickeln, und einseitig diü'erenziren, so ver-
schmelzen bei der zweiten Form die früher vollständig getrennten
und ausgebildeten Peisonen zu einem Stocke. Im letzten Falle
gehen die einzelnen Individuen eine wirk liehe Rückbildung ein,
während bei Stockbildung durch Spaltung, wo die Individuen ihre voll-
ständige Entwickelung nicht erreichen, von einer wahren Rückbildung
nicht die Rede sein kann.
Die Slockbildung stimmt mit der Individualitätstheorie der
Schwämme von Ose. Schmidt nicht ganz überein. Diesem Autor zufolge
kommt einem jeden Schwammindividuum eine Ausstronmngsöffnung
^Mund) zu, und mithin hätte ein Stock soviel Ausströnmngsöffnungen,
wie die Zahl der Individuen betrüge, aus denen er besteht. Stöcke der
Guancha (Fig. 1. 2. G.), die aus vielen Individuen bestehen, besitzen
gewöhnlich eine Mundöffnung, selten zwei oder drei. So Vieles auch
die Theorie Schmidt's für sich hat, so ist doch die Individualitätsfrage
bei den Schwämmen dadurch nicht vollständig erledigt und erwartet
erst durch Ausdehnung der Untersuchungen eine befriedigendere
Lüsunt:.
IV. lieber die Stellimg der Schwämme iu der Thierreihe.
Es erscheint vielleicht nicht überflüssig, hieran noch einige Worte
über die Stellung der Schwämme zu den übrigen Ti;ierformen zu
knüpfen. Die Schwämme unterlagen einem grossen Wechsel im Bezug
auf die Glassiücation; so rechnete sieLiisNfi zu denThiercn, Blumenbac»,
Oke!v, Bl'rmeister u. A. zu den Pflanzen, LiEUERKiJUNaber erkannte wieder
ihre thierischc Natur.
Die Schwämme alsThiereaufgefasst, wurden bald zu den Protozoon,
4) Haeckel, Generelle Morphologie: Ontogenie d. Stöcke Jl, 14511"
2;i6 N. Mikluclio-iMiiclay,
bald zu den Coelenteraten gerechnet; von Huxlev, Carter, Ferty u. A.
winden sie für Rliizopoden erklärt, Haeckel l)elont auch ihre nahe Bezie-
hung zu den Rhizopoden. Leuckart endhch stellte die Schwämme zu
den Coelenteraten und unterschied sie als Poriferen von den übrigen.
Ich werde auf alle diese verschiedenen Auffassungen nicht specialer
eingehen und will blos die Schlüsse, zu denen mich meine Unter-
suchungen geführt haben, mittheilen. Wenn auch R, Leuckart die nahe
Verwandtschaft, die jene Thiere mit den Coelenteraten verbindet, er-
kannt hat, so hat er doch meines Wissens unterlassen genügende Be-
weise für seine Auflassung beizubringen. Es war wesentlich nur das
Canalsystem, welches er mit dem Gastrovascularsystem der Coelenteraten
vcrghch. Ein complicirtes Canalsystem fehlt aber vielen Coelenteraten
und eine einfache verdauende Cavität kommt ebenso in anderen Abthei-
lungen vor. Sehr viele Momente jedoch, sowohl anatomische als Lebens-
erscheinungen deuten auf diese Verwandtschaft. Die allmähliche Diflc-
renzirung der verdauenden Cavität, das Auftreten der Antimeren '), die
enjbryonalen Zustände und Entwickelungsformen^j, die verschiedenen
Vermehrungsarten (Auftreten geschlechtlicher neben der ungeschlecht-
lichen Fortpflanzung), ja sogar das Absterben''), besonders aber die Di f-
ferenzirungsreihe des coelenterischen Apparates und die Betrachtung
fossiler Formen (Petrospongien) haben mich zu der Ansicht geführt, dass
die S c h w ä m m e u n d C e 1 e n t e r a t e n A b k ö m m 1 i n g e d e r s e 1 b e n
Grundform sind, und dass die Aehnlichkeit der beiden Gruppen
nicht blos Analogie ist, sondern auf einer tiefern Verwandtschaft, auf
Homologie, beruhet. Die viel geringere histologische Difl"erenzirung (ob-
wohl in letzter Zeil auch bei Schwämmen contractiles faseriges Gewebe
(Muskeln?) von 0. ScHMmx und Kölliker nachgewiesen ist *), die ver-
breRete Verschmelzungsfähigkeit (die aber auch bei Coelenteraten vor-
1) Um sich zu überzeugen, dass Anlinieien liei den ypoiii^ien uiitireleii, be-
trachte man J)los die Mundofrnun,^cn von Axinclia polypuiiies in dem Werke von
0. Schmidt (Sponi'jcn des Adrial. Meeres, Tal'. VI. Fi-'. 4) oder mache einen Quer-
schnitt durch einen .Sycon. Nicht minder bieten die fossilen Formen zahlreiche
Jielspiele dieses Auftretens, Coeloptychium lohatum, Siphonia coslala und manche
andere.
2) Alles was man über Entwickelung der Anthuzoen kennt, stimmt vollkommen
mit dieser Ansicht überein.
3) Das Wachslhum vieler Schwämme geschiehl, wie ich beobachtet habe,
durch Entwickelung immer neuer Schichten auf den untein abgestorbenen, ganz
ähnhch wie bei Ivoraüenstocken.
4) Interessant ist , dass diese contractilen Fasern bei ychvvüinmen besonders
deutlich um die Mundoll'nung gelagert sind, analog dem Verhalten vieler Coelen-
teraten (Alcyonium, Veretillum etc.).
Roitraffp 7,nr Konntniss dor Spnnüion I. 237
koimiit '), die nicht so doiillich ausgesprochene Individualität, besonders
aber l\ov niedoro Di f forenzi run gsgra d d(M' Govvobo (Fohlen
der Nessoikapsebi) sind Momonlo , wodurch die Coclentoraton über die
Spongien sich erhoben. Trotz alledem wenn man das pro und conira
genügend l^erücksichtigot, kommt man zu dor Ansicht, dass die
Schwämme nur als indifferentere Zustände derCoelenteraton, oder um-
gekehrt, die Coolenteraten als differenzirtere Schwämme betrachtet wer-
den können 2) und ich bin überzeugt, dass diese Verwandtschaft um
so klarer hervortreten wird, je weiter wir in der Erkenntniss der Or-
ganisation der Spongien fortschreiten'').
Meine Ansicht über die Verwandtschaft der jetzt lebenden
Scln\ämmo mit den Coelenteraten lässt sich in dem folgenden Satze zu-
sanmienfassen : Die j etzt lebenden Schwämme und Coelente-
raten sind aus gemeinschaftlichen Grundformen ent-
standen, wobei a])or die ersteren eine viel niedere Dif-
ferenz i r u n g o i n g o g a n g e n s i n d und z u m T h e i 1 sich r ü c k -
g (> 1) i 1 d 1 h a b n . D i e P o 1 1' o s p o n g i e n stehen viel n ä h e i' der
G r und f o r m u n d bilden den U e b e r g a n g zu d e n j e t z t 1 e b e n -
den d e r A u l s p n g i n.
^) IIafckel, Gen. Morph. 1. p. i47. I-acaze Duthiers in seiner Hisl. <hi r.oraii
p. 94 f'ilirl ;uirh ein schönes Beispiel des Verwachsens hei Anlhozoen.
2; Um niclit missvoislanden zu werden, und um die Ver\vandlscl)afl der
Sehwiimnie zu den Coelenteraten näher zu erläutern, muss ich bemerken, dass die
Anlhozoen es sind, die sich zunächst den Schwämmen anschliessen. Der Gaslro-
vascular-.\pparat, der bei den Korallen hoher «lifTerenzirl ist, besitzt aberdurcliaus an
sich Nichts so Charakteristisches, dass dadurch eine Trennung desselben von dem
bei den Schwämmen vorkommenden Hohlraumsyslem berechtigt wäre. Auch die
Enlwickekmi^ tler Anlhozoen bestätigt diese nahen Beziehungen. Die Korallen ent-
wickeln sicli ans bewimperten Embryonen, ilie, nachdem sie sich festgesetzt haben,
mit einer einfachen Magenhöhle verseben sind. Erst später differenzirt sich die
einfache verdauende Cavitäl durch Entwickelung der Septa etc. in das Gastrovas-
cularsystem. Die jungen Anlhozoen besitzen keine Tentakeln , die erst nach der
Differenzirung der Antimeren hervorknospen. Bei anderen, so Anlipatbes, bleiben
sie stets rudimentär und l)ilden nur niedrige die iMundöfTnung umstehende Tnber-
cula. — Eine ganz analoire Reihenfolge in der Entwickelung findet sieb bei dci- Bil-
dung der Korallenslücke duich Knospen. (S. Lacaze Dutuieks Le Cornil 11 95 um!
153—201 etc.
3) Ich hoffe nächstens neue Bewei.se zu Gunsten dieser Auffassung mittheden
zu können.
238 N. Miklucbo-Maclay,
Jotzl lebende Coelenteraten
Jetzt lebende
.Sehwüriinie
« Pefpo«pongien
Gemeinschaftlicher St:\:iiin.
Das Wort «rückgebiidel« ist noch zu erUiulcrn. Wenn man die jetzt
lebenden Schwänune mit den fossilen veraleichl, so findet man eine
gewisse Verschiedenheit, die sogar so bedeutend ist, dass von manchen
Autoren (Hakckel) i) die Petrospongien von den Autospongien getrennt
worden sind. Aber einige Thatsachen, die mir im vorigen Jahre bei
Durchmusterung der reichen Gollection fossiler Schwämme des Berliner
Museums, und später der Museen zu Kopenhagen, Stockholm und Pe-
tersburg aufgefallen waren , können eine andere Meinung begründen.
Es fand sich nämlich : Eine vollkommene lieb ercinstimmun g
vieler fossilen Schwammformen mit den jetzt lebenden Spongien, die
mir gegen die Trennung der Autospongien von den Petrospongien Be-
denken erregte. Es giebt fossile Schwämme , welche der vorhin be-
schriebenen Form C der Guancha sehr ähnlich sind, z. B. Siphonia pi-
riformis. Nach einem Durchschnitt von Siphonia praemorsa zu urtheilen,
gelangt man durch die MundöfTnung, die hier einen radial zerklüfteten
Rand besitzt, in einen Si us , in den Canäle einzumünden scheinen,
man bekommt ein, demFig. 3. 2. gegebenen Schema sehr ähnliches Bild.
Ein Paar solcher Durchschnitte finden sich im Berliner Museum.
Jedenfalls geht aus den liier angeführten und einigen anderen That-
i) Gen Morph II p XXX.
Roitniiio zur Koiiiilniss ilcr Spniitpicii I. 239
saclion so viol hervor, dnss die Konnlniss und Vi r!j;l('i(lMini; der hislicr
sehr vornacliliissi^tcn fossilen Sclnviirnme (Peli-osponsiien) für das Vor-
sUindniss der lebenden Sclnvänune (Aulospongien) und ihrer nahen
Verwandtschaftsbeziehungen zudenCoelenteraten von hoher Wicliligkeit
ist. Wenn einerseits die Spongien sich durch ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu (h^n Rhizopoden (z. B. die Skelctbihlung, die niedere
Stufe der histologischen Ausbildung) den Protisten anschliessen,
so sind dieselben doch andererseits nicht von den Coelenteraten
scharf zu trennen. Die Stellung (1er Spongien im Systeme dürfte am
besten dadurch ausgedrückt werden, dass man sie nach I.euckart als
die niederste Stufe der Coelenteraten betrachtet, da ausser der hislolo-
gisehen DilVerenzirung alle charakteristischen Merkmale dei' Ix^idcn
Thiergruppen gemeinschaftliche sind.
Erldärung der Abbildungen.
Taf. IV.
l-i^ 1. tlauplformcn der Guancha hlanca Mcl., sehr vertjrosscrt.
A. Dio einfaclie Form.
B. C. D. Durch Verwachsung und Knospcnbildunj: entstandene Fonnen des-
scll)cn Schwammes.
in. MundüfTnuns.
/. Lücken.
k. Neue durch KnospcnbUdung cnlslandcne Indiviiluen.
s. Stiel.
Fiii. i Reihe von Uebergangsfornien, sehr vergrüsserl.
\. Form B.
ä. Exemplar, an welchem man den Verwachsungsprocess deutlich sehen
kann. Die verdaucndcnCavitälen zum Theil vereinigt, li e Muiuiütrnun.'ien
nur getrennt.
V Verwachsungsstolle durch dickere Wandung au-^gezeichnet.
H Analoges Verhalten, gemeinvchaftlichc verdauende Cavilät und 3 Mund-
ülTnungen. *
/». Form G. mit 2 Mundöffnungen.
5. Form G. mit 1 Mundöffnung, auf 2 Stielen sitzend.
6. 7. Formen D.
m. l. s. Dieselhe Bezeichnung wie Fig. 1.
Fig 3. Schema der verdauenden Cavität der Guancha-Fornien.
1. 2. i. Längs-, 4. 5. 6. 7. Querdurchschnitte.
1. u. 4. Längs- und Querdurchschnitt durch Form A.
2. Längsdurchschnilt durch Form G.
G. 7. Querdurciischnilte durch dieselbe Form aber in verschiedenen Ebenen,
G. im obern Drittheil, wo man das Verhältnis.«; di^s.'^inus ."i deuHich sehen
kann; 7. Duridischnitt im untern Drittheil.
3. 5. Durchschnitte durch die Gruppe 2, Fig. 2.
(j Wandung.
b V(Mdauende Gavilat.
240 N. Mikliiclio-Maclay, Beitrage zur Keiintnlss der Spongien I.
m. MundüfTnunc;.
c. Stiel.
5. Sinus.
Fig. 4. Guancha-Gruppe der Form A. Die 3 Individuen der Gruppe enlliallon Em-
iiryonon in verschiedenen Stadien der Entwickelung. e Zeilencompiexe
durch einfache Gontiiren von einander getrennt, noch keine Wimpern zei-
gend, e' Embryonen mit einer deutlichen Grenzschicht, wimperlos. e" Be-
wimperter Embryo in der verdauenden Cavität des Multerthieres herum-
schwärmend, welche er eini.!;e Tage nach der Bewimperung verliisst. Die
Spicula in dieser Gruppe sind durch Essigsäure entfernt, um das Innre des
Schwamraes deutlich zu sehen /(. Hülle, s. Stiel, m. MundölTnung.
Fig. 5. Zellen-Conglomcrat (Keimkörper der Autoren bei 4f)0 Vergr.)
h. Aeussere Wandung des Mullerthieres.
Fig. 6. Guancha-Gruppe mit Gemmulabildung,
g. Gemmula.
Fig. 7. Eine abgelöste junge Gemmula.
k. Hülle, i. Zellen, c. Spiculum.
Fig. 8. Guancha-Gruppe vor der Gemmulabildung.
a. mit Embryonen gefülltes Individuum.
Fig. 9. Die in Fig. 8. dargestellte Guanchagruppc in Gemmulabildung bei^ritlon.
Das mit Embryonen erfüllte Individuum a. Isl allniiihlicl! vcrkiimmcil.
Taf. V.
Fig 10. Slück der Form A. bei Vergrösscrung von 2."iO
a. Kranz um die MundöfTuung, eine regelmiissige An.irduung zeigend.
b. Dünwe homogene Hülle, die Aussenflache uinklcidend (Guticula).
c. Zellen, zwischen welchen die Spicula si(;li linden.
Fig. 11. Stück der Form G, dieselbe Vergrösscrung wie Fig. 10. l. Lücke, übrige
Bezeichnung wie Fig. 5.
Fit'. 12. Durchschnitt durch den Sinus der Form C, um das Verhältniss zu den
Mundörfnungen und Canalen zu bezeichnen (120 Vergr.).
a. Mundöllnung. ü. Spiculakranz. c. Durchschnittene Wandungen, d Si-
nus, e. Einmündende Canäle.
Fig. 13. u. 14. Zvrei Embryonen.
a. Dunkelbraune Gentialmasse.
b. Aeussere hellere Schicht,
c. Structurlose Hülle, lange Wimpern tragend.
Fig. 1."). Schcmn der Entwicklungsstadien deY Guancha.
Fig. 16. Guancha-Individuum , an dessen Stiel noch die structurlose Gemmula-
Memluan befestigt ist.
Fig 17. Stiel einer Guancha bei etwas släikerer Vergrösscrung.
h Hiille. b. Schwaniiuzellen. a. Spicula
Fig. 18. Ein sehr häufig im atlantischen Ocean vorkommender gelbei Hornschwamm,
Nal. Gr.
a. Hornskelct mit dev an ihm sitzenden Gemmnia g
b. Durchschnitt eines sogenannten Schornsteins.
c. Verdauende Cavität.
g. Gemmul.ie.
Fig. 19. Zwei Gemmulae desselben Schwammes (vergrossert)
a. Stücke des Horngerüstes von) Multerschwamrne.
Fig. "20. Inhalt derselben Goinmula bei 400 Ver!.i\
a. Gemmuia-Hülle. b. Stdiwammzeilen. c. Spicula.
Fast sämii»tli( he Zeichnungen sind nnl der i'.ameia 1 ucida :iusgeführt.
TelxT iWv Eliunii'kiiiiu: dvs Actiieriiafroiis üiif (li<' Actlior M'iii^rr
kolileiistoUsiiiirr».
Von
A. Geuther.
Zur Enlscheidung der Frage, auf wolcho Weise die von Frankland
und DipPA beobachtete Bilduna; der Aetliylessigsiiure, Diiithylessigsäure
und Diiitiiyidiacetsaure aus der Aelhyldiacetsäure vor sich ginge, schien
es nur wünschensvverlh die Einwirkung von Aethernatron zusammen
mit Essigäther auf den Aethyldiacetsäureäther zu studiren^). Ich
glaubte am besten meinen Zweck zu erreichen, wenn ich mich zu diesen
Versuchen der von Betlstein^) vermullieten Verbindung des Essigäthers
und Aethernatrons (zu gleichen Mischungsgewichten) bedienen würde
und habe dessw^egen diese darzustellen versucht. Das abweichende
Resultat, zu dem ich hierbei gelangt bin, war Veranlassung auch die
weiteren hier mitzutheilenden Versuche auszuführen.
Der zu der Darstellung von Aethernatron verwandte Alkohol war
jedesmal unmittelbar vorher durch Rectification von absolutem Alkohol
id)er Natrium erhalten und sofort in dasGefäss destillirt worden, worin
gleich darauf die Darstellung des Aethernatrons und dessen Einwirkung
auf die belreffenden Aether vorgenommen wurde. Dieses Gefäss war
mit einem doppelt durchbohrten Kork verschlossen, der ein gerades
längeres und ein kürzeres knieförmig gebogenes Rohr Irug. Das Erstere,
welches l)is in die Mitte des Gefässes nMchle, wurde mit der Spitze des
den Alkohol zuführenden Kühlrohrs, das Letztere, welches mit der Luft
communicirte mit einem Chlorcalciunuohr verbunden. Die Einwirkung
des Natriums auf den Alkohol wurde stets in einei" Wasserstollatmo-
sphäre vorgenommen, weil nur bei vollkommenem Ausschluss des
Sauerstoffs ein farbloses reines Product erhalten wird und zwar in der
1) VsTi^l. Zoilsrhrift t. '.Iicmie N. l" l<<i. 4. p. r.S.
2) Aiinal d. Chem. u l'liann l'.d 113. p. 122.
Bund IV. 2.
242 A. fioiiüier,
Art, dass nach Entfernung des Chlorcalciumrohrs trocknes Wasscrslott-
gas durch das gerade Rohr zugeleitet wurde , während der Dauer der
Einwirkung sowohl, als während des Erkaltens. Der überschüssige
Alkohol wurde meist, nachdem alles Natrium in Lösung gegangen war,
durch gelindes Erwärmen im Gasstiom so lange wegdestillirt, bis sich
in der siedentlen Flüssigkeit festes Aethernatron auszuscheiden begann.
Aethernatron und Essigäther.
In einer Kochflasche wurden zu Aethernatron , das mit Hülfe von
i,(3 grm. Natrium und l^grm. Alkohol erhalten war, also so viel über-
(lüssigen Alkohol beigemischt enthielt, dass es beim Erkalten nicht so-
gleich krystallisirte 15 grm. reiner über Natrium rectificirter Essigäther
gefügt. Es trat nach dem vollständigen Vermischen in ähnlicher Weise,
wie bei den Versuchen von BEn.STEiiv die Bildung eines weissen volumi-
nösen Niederschlags ein Die Menge desselben war indessen nur gering.
Es wurde darauf die Flasche im V^'^asserbade und unter fortwährendem
Zuleiten von WasserstolTgas erhitzt bis alles Flüchtige abdestillirl war.
Das Destillat besass den Geruch vonEssigälher ; nach mehrmaliger Recti-
fication und einmaligem Waschen desselben mit dem gleichen Volum
einer verdünnten Chlorcalciumlösung wurden 14 grm. des Letzteren
wieder erhalten. Der Rückstand in der Kochflasche war fai'blos, bei d<!r
Temperatur des Wasserbades flüssig, erstarrte aber beim Abkühlen so-
gleich zu weissen nadeiförmigen Krystallen , ganz vom Aussehen d(\s
Aethernatrons.
Diess Resultat des Versuchs musste zu der Annahme führen, dass
dieser Rückstand, dessen Menge 10 grm. betrug, abgesehen von der
geringen Menge gebildeten essigsauren Natrons, in der That nur die
Verbindung sei, für welche Scheitz i) die Zusammensetzung:
€2H5Na02, 2€2Ö''02
gefunden hat. Er wurde deshalb mit Wasser übergössen , worin e|.
sich unter Erwärmen leicht löste und diese Lösung, da sie stark alka-
lische Reaction zeigte mit Essigsäure schwach angesäuert und aus dem
Wasserbade destillirt so lange noch Alkohol überging. Das Destillat be-
sass nur den Geruch von Alkohol, nicht den von Essigäther und bestand
ausser Wasser nur aus diesem. Nach mehi-maliger Rectifieation aus
dem Wasserbad(^ und darauffolgender mit eingesenktem Thermometer
wurden 8 grm. desselben (79" — 81") ei'halten. Das essigsaure Natron
^) Diese Zeitscli.iK IM. /. p 16
Ueber die. Kiiiwiikiinii dos Actheriiairniis auf die Acllier (Miiii>cr Koliloiistnirsriurcii. 243
wog nach <leni Eindampfen und völligem Austrocknen 5,7 grm., entspr.
1 ,6 grin. Natrium.
Wären ilie im Külbchen enthaltenen 10 grm. Substanz die reine
Verbindung «^H^NaO^, 2€2Hfi02 gewesen, so hätten sie N,6grm. Alkohol
liefern müssen.
Aus dem Milgetheillen folgt also, dass eine Verbindung von
Aethernatron m it E ssigäther unter den angeführten Umständen
nicht existirt, dass vielmehr der Essigäther , abgesehen von einer
kleinen durch schwer auszuschliessende Feuchtigkeit bedingten Zer-
setzung vom Aethernatron unverändert abdestillirt.
Nach dieser Erkenntniss wird es möglich die Angaben Beilstein's
zu deuten. B. hat bei seinen Versuchen offenbar das Wasser nicht ge-
nügend ausgeschlossen und davon in einem Falle so viel gehabt als
nölhig war um die ganze angewandte Aethernatronmenge in Natron-
hydrat und Alkohol zu verwandeln, denn als er nach dem Vei-setzen des
Aelhernalrons mit Essigäther die vom ausgeschiedenen essigsauren Na-
tron »ablillrirte Flüssigkeit« analysirte fand er für sie die Zusammen-
setzung einerMischung von Alkohol und Essigäther, sie mussle demnach
ganz nalriumfrei sein. Bei einem zweiten Versuche, wobei B. den
Ueberschuss von Alkohol und Essigäther durch einen Strom trockner
Luft und Erhitzen des Kolbens im Wasserbade entfernte, fand er in dem
bei dieser Temperatur geschmolzenen , beim Erkalten fest werdenden
»braunen« Rückstand 2^,5 Proc. Natrium, während essigsaures Natron
28,1 Proc. und die von ihm vorausgesetzte Verbindung von Aether-
natron und Essigäther nur 1-1,7 Proc. Natrium verlangt. Dieser P.ück-
stand war, wie dem früher Mitgetheilten gemäss leicht einzusehen ist,
nichts anderes als ein Gemenge von viel essigsaurem Natron mit wenig
Aethernatron, das durch dieEinwiikung der Luft braun geworden war.
Es geht dies auch aus seiner Zersetzung mit Wasser hervor, indem beim
Kochen'der Lösung «viel Alkohol« destillirte, während ein «stark alka-
lischer« Rückstand blieb ^ .
1) Im Anscliluss hieran hat Hr. J. E Mahsh eine directe Bestimmung des. Alko-
hols, welchen die Kiystaile von Aethernatron hei ihrer Zersetzung mit Wasser lie-
fern und welche bis jetzt noch nicht ausgeführt worden war, unternommen. Er
löste in 17 grm über Natrium rectificirtem .Mkohol 1,4 grm. Natrium, destillirte im
Wasserslolfslrom aus dem Wasserbade allen überschüssigen Alkohol fort und he-
hielt als Rückstand 9,3 grm. der Verbindung. Dieselbe wurde in Wasser gelost,
der .\lkohol aus dem Wasserbade abdestillirt, mehrmals für sich, dann über ge-
brannten Kalk aus dem Wasserbade nnd scbliesslieh wieder für sich mit einge-
•senktem Thermometer reclificirt. hie Menge desselben (Sdp. 790 — gl«) betrug 8,5
grm. - [)\L- 1,4 urm. Natrium hallen 9,« grm der Verbindung und diese 8,4 grm.
Alkohol liereni müssen
IG'
244 A. Geuther,
In der Erwartung, tlass eine Verbindung oder Wechselwirkung
tles Aethernatrons und Essigalhers bei höherer Temperatur eintreten
würde, habe icli diese beiden Substanzen im verschlossenen Rohr bei
verschiedenen höheren Temperaluren verschieden hinge mit einander in
Berührung gebraclit.
Erster Versuch: In einem Glasrohr wurde mitHülfe von 3 grm.
Natrium Aethcrnatron bereitet und dieses nach dem Erkalten sofort mit
etwas mehr als 2 Mgtn., nämlich SGgrni. reinen Essigalhers übergössen
und eingeschmolzen. Das Aethcrnatron löst sich schon bei gewöhnlicher
Temperatur im Essigäther leicht und farblos auf unter nur geringer
Abscheidung eines krystallinischen Körpers (essigsaures Natron). Das
Rohr wurde im Oelbad während 4 Stunden auf 130" erhitzt.
Nach dem Erkalten zeigte sich kein Druck im Innern, es wurde geöffnet
und die fast farblos gebliebene stark nach Essigäther riechende Lösung
unter möglichstem Abschluss der Luftfeuchtigkeit vom vorhandenen
unlöslichen Salze, dessen Menge sich etwas vermehrt hatte, durch Fil-
tration getrennt. Das Letztere wurde im Wasser gelöst, mit Schwefel-
säure deslillirt, das saure Destillat mit kohlensaurem Natron in geringem
üeberschuss versetzt, zur Trockne gebracht und durch fractionirte Lö-
sung in abs. Alkohol, nach der Filtration und Verdunsten des Letzteren
zwei Salzrückslände erhallen, deren Natrongehalt bestimmt wurde.
Der aus der ersten Lösung ergab 37,7 Proc. Natron, der aus der zweiten
Lösung38,0 Proc. Beide Salze waren demnach nichts als essigsaures
Natron, welches 37,8 Proc. Natron verlangt. Ihre Gesammtmenge
beti'ug: 1,1 grm. Vom oben erwähnten ersteren Fillrat wurde eine
Probe genommen und von ihr im Wasserbade alles Flüchtige (Essigäther
und möglicherweise vorhandener Alkohol) abdeslillirt. In dem gelblich
gefärbten dickflüssigen Rückstand eischienen beim Erkalten Kr;y stall-
nadeln, die ihrem Ansehen nach grosse Aehnlichkeit mit dem krystalli-
sirten äthyldiacetsauren Natron ') hatten und desswegen zur Prüfung
darauf veranlassten. Zu den) Z\\ ecke wurden sie in Wasser gelöst, die
alkalische Lösung mit verdünnter Salzsäure neutralisirt und mit einigen
Tropfen Eisenchlorid versetzt. Es erschien sofort die für die Aethyl-
diacetsäure^j und ihie Salze charakleristisch(> dunkelkirschrothe
Färbung. Nun wurde die ganze Menge des Filtrats im Wasserbade vom
Essigäther befreit, der Rückstand nach dem Erkalten mit Wasser und
der für die angewandte Nati-iunimenge bcrcchnelen Menge Essigsäure
versetzt und sofort mit Acther wiederholt geschüttelt. Die ätherische
-1) Diese Zoitscliiilt Bd. 11. |.. t«1
2j Kl)end. p. 3Ü8.
I'cIm'i die l'.iiiwirkiiiii! des \i'llii'iii,ilioiis ,iiif die Vcllii'i ciiiiiii'i' Kdlilt'iistdirsiiiircii. 215
Flüssi|;k(Ml wurde über Chlorcalciuui eiilwüsscrl , im Wasserbade der
Aether abdeslilliil und der den Geruch von Essigsäure uud Aelhyldiacel-
säurc zeigende Rückstand wiederholt reclificirt. Er lieferle 1,0 grni.
von 170—190'' destillirender Flüssigkeit, die sich in der Thal als fast
reine A eth yld iaeetsä ure erwies. Sie gab nach vorsichtiger Neu-
tralisation >nit Natronlauge und Versetzen dieser Flüssigkeit mit essig-
sauieni oder scliwefelsaureni Kupfeioxyd sofort das für diese Säure
charakteristische Kupfersalz ') mit den nämlichen Eigenschaften und
dem gleichen Verhalten.
0,:?()28 grm. des zwischen ITS" und I (SO " übergegangenen Tlieils
gaben 0,5242 grm. Kohlensäure und 0,1 862 grm. Wasser, was 0,1 i29G
gi-m. oder 51, 'i Proc. KohlenslolV und 0,()20<)!) grm. oder 7,9 Proc.
Wassersloll' entspricht.
DieAethyldiacetsäure erfordert: 55,1 Proc. Kohlenstoff und 7,7 Proc.
Wasserstoff.
Da die Ursache für den 1 Proc. zu gering gefundenen Kohlenstoff
wahrscheinlich einer Beimengung von noch etwas Essigsäure zuzu-
schrcil)en war, welche durch fractionirte Destillation der geringen Sub-
stanzmenge wegen nicht völlig entfernt werden konnte, so wurde die
von der Analyse übrig gebliebene Menge der zwischen 178 und 180^
destillirten Substanz dazu vei'wandt das Barytsalz und aus diesem das
Kupfersalz darzustellen 2).
0,1038 grip. des Letzleren über Schwefelsäure getrocknet gaben
im Tiegel mit Salpetersäure zersetzt nach dem Glühen des salpetersauren
Kupfeioxyds: 0,026 grm. Kupferoxyd, entspr. 2i,6 Proc.
Das aelhy Idiacetsaure Kupferoxyd fordert: 24,7 Proc.
Kupferoxyd.
Es kann somit die Iden ti tat der hier erha Itenen Säure mit
(lerAethyldia cetsäu re nicht mehr zweifelhaft sein'*). DieBildungs-
weisc derscll)en aus krystallisirtemAelhernatron undEssigäther verläuft
nach folgender Gleichung:
(-r-^H >NaO'^, 2€2H'=02 + '2[Gm^0^, Cm^) = &W-^0-NaO + 4€2JH"02
Man kann sich den Verlauf der- Reaction so vorstellen, dass die
.' Mgle Essigäther 2 Mgle Alkohol verlieren und dafür €2H'^Na02 auf-
nehmen, was sich durch foluende Gleichung leicht veranschaulicht:
€«2^02)140 (:„2C02iU0 "^
€2H<|HÜ lHO(^2j4i_ tH tu jHU yot2H^
iHOG2i4' fe-H'jiN<«U 440^2141
1] niese Z<>ils(li>ifl M. 11. p '.no.
2) EIh'IkI. |.. 3Ü"J.
3; Virj;!. wcilrr iiiiirn p. i4S
246 A- ^eiitlicr,
Wäre die GcsairiinliiKuigc des Natriums in äthyldiacetsaurcs Natron
verwandelt worden, so hätten mit Hülfe der angewandten 3 grm. dieses
Metalls fast 17 grm. der Säure erhalten werden müssen. Wie oben an-
gegeben ist wurden aber nur 1,6 grm., also nicht ganz 10 Proc. der
möglicherweise entstehemien Menge gebildet.
Die llauptmenge von Aethernatron und Essigäther war also auch
unter diesen Umständen ohne Einwirkung geblieben.
Um zu sehen, ob die Menge der sich bildenden Aethyldiacetsäure
bei Anwendung anderer Temperaturen und verlängerter Einwirkung
vermehrt werde, wurden die folgenden Versuche angestellt.
Zweiter Versuch. Angewandt %'^/x grm. Natrium und 26 grm.
Essigäther ; 5 S t u n d e n 1 a n g a u f 1 U) — I 5 " erhitzt. Kein Druck
im Rühr, aber die Flüssigkeit bräunlich gelb gefärbt. Die Menge des
ausgeschiedenen Salzes beträgt wohl das doppelte der Menge im ersten
Versuch. Der Röhroninhalt wurde in eine Kochflasche gebracht und
nachdem aus dem Wasserbade alles Flüchtige (aus etwa 16 grm. Essig-
äther und 9 grm. Alkohol bestehend) abdestillirt war, in Wasser gelöst,
mit Essigsäure angesäuert und mit Aether geschüttelt. Erhalten
wurde nur etwa 1/2 grm. Aethyldiacetsäure und viel eines
braunen nicht ohne Zersetzung destillirenden harzartigen Körpers, wahr-
scheinlich eines der Zersetzungsproducte, welche das äthyldiacetsaure
Natron für sich in höherer Temperatur liefert i).
Dritter Versu eh. Angewandt 1 Yi grm. Natrium und 22 grm.
Essigäther; erhitzt auf 100 — 110" 7 Stunden lang. Der Röhren-
inhalt incinKochfläschchen gebracht und im Wasserbade vom Flüchtigen
befreit gab einen Rückstand, der in Wasser gelöst, mit verdünnter Salz-
säure neutralisirt und mit schwefelsaurem Kupferoxyd gefällt 1 Y4 grm.
Kupfersalz lieferte, was 1 grm. Säure entspricht.
Vierter Versuch. S'Yj grm. Natrium und 26 grm. Essigäther
7 Stunden lang auf 12.^** erhitzt, im Uebrigen wie im dritten
Versuch behandelt gaben 2 grm. Kupfersalz, entspr. 1,6 grm. Säure.
Fünfter Versuch. 3 grm. Natrium und 26 grm. Essigälher
wurden auf 130~13o0 während 14 Stunden erhitzt. Der
Röhreninhalt entsprach dem vom zweiten Versuch. Er wurde wie im
ersten Versuch auf Aethyldiacetsäure untersucht, es wurde aber nur
so wenig erhalten , dass sie mit Hülfe der Destillation nicht gereinigt
werden konnte, wesshalb sie in Kupfersalz verwandelt wurde. Von
ihm wurden erhalten 1 Y2 S''™-? '^'^^ 'j- gim. Säure entspricht.
Sechster Versuch: Es wurden 2 Röhren mit je 3 grm. Natiium
\) Diese Zeilschrift Bd. II p. 412.
Deljcr die Kiiiwirkiini; des Acllicriiatroiis ,uil du- Acdicr cimuffr Kolilciistoirsiüircii. 2 17
und 23 grin. Essigällior ;J Slundon uul" I 25— I 2S<' erhitz t iiiul
4 g r in. Säure, iilso 11,8 Proc. der möglicherweise entstellenden Menge
erhalten.
Die auch bei diesem Versuch erhalttuic verhallnissmiissig geringe
Menge von Säure liess mich vermuthen, dass die mit dem Aethcrnatron
verbundene, sowie bei der Umsetzung sich bildende Menge von Alkohol
der (Irund sei, wosshalb die Umsetzung sich nicht auf grössere Mengen
der liducte erstrecke und ich habe desshalb einen
Siebenten Versuch vorgenommen, bei den) ich nlkohol-
Ireies Aethernalron (= ^^H^NaO^) verwandte. Das erst auf die oben
ang(>gebene Weise dargestc^llte Aethcrnatron wuide im Wasserstotfstrom
durch Erhitzen im Oelbad bis auf 140" voUkonnnen von Alkohol befreit
und dazu der Essigäther gegeben. Es wurden 2 Röhren und auf jede
2y, grm. Natrium und 2"3 grm. Essigäther angewandt Das Aethcrnatron
l()ste sich unter schwacher Erwärmung in gei'inger Menge im Essigäther,
beim nachherigen Erkalten krystallisirte es in farblosen nadeiförmigen
Krystallen wieder aus. Als darauf das eine Rohr einer Temperatur von
50 — GO" einige Zeit ausgesetzt wurde, löste sich fast alles Aethcrnatron,
beim Erkalten in gleicher Weise kryslallisirend. Als darauf diese Er-
wärmung während einiger Stunden wiederholt wurde, war alles flüssig
geworden und beim nachherigen Erkalten erschienen weniger Krystalle
als vorher. Das Rohr wurtle nun auf 70 — 80" während wieder einiger
Stunden erhitzt und abermals erkalten gelassen. Neben den in noch
geringerer Menge erscheinenden farblosen nadeiförmigen Krystallen
waren nun eine Anzahl concentrisch gruppirtei- feiner und mehr weiss
erscheinender Krystallraassen vorhanden, ganz vom Aussehen des ätbyl-
diacetsauren Natrons. Als darauf das Rohr auf 100" erhitzt wurde
waren sehr bald die wenigen farblosen langen nadeiförmigen Krystalle
in Lösung gegangen, die anderen kleinen weissen kugligen Aggregate
aber nicht. Sie waren also gewiss nicht mehr Aethcrnatron, sondern
ein Umsetzungsproduct und wahrscheinlich äthyldiacetsaures Salz. Es
wurden nun die beiden Röhren auf 128** während Vj^ Stunden
erhitzt. Nach dem Erkalten hatten beide das gleiche Aussehen, sie waren
nur mit den letzteren Krystallen erfüllt, welche den flüssigen bihalt voll-
kommen einschlössen, ohne dass er sich von ihnen auch durch Schütteln
oder Klopfen hätte trennen lassen. Die Röhren wurden geöfl'net (es war
kein Druck in» binern) und jedes mit vcrdünnlei' Essigsäure (von je
8 grm. Eisessig bereitet) fast vollkommen angefüllt. Als die Salzmassc
sich gelöst hatte , war- eine beträchtliche leichtere Schicht erschienen,
die eine Lösung von Acthyldiacclsäure in unverändertem Essigäther dai-
stellte. Der Inhalt beider Röhren wurde in einen Cylinder gegeben und
248 •^- (it'iiilier,
mit Aoilioi Nvietk'iliuil i^oscliiüloll. Nach doui Abdeslilliren iler iillio-
lisclicn Lüsiini5 im Wasserbado und Uectification desRückslaiidos wui-
dori 10 gi'iu. Ae th y Idiacetsä LI re erhallen, d. h. 32 Proc. der inog-
liclicr Weise onlslehcn künnenilen Menge, also nahezu dreimal mehi', als
im sechsten Versuche.
Die grössere Menge Siiure ei'lauble eine öflerc lleclificalion untl
völlige Reinigung derselben, wie die mit ihr -vorgenommene Analyse
zeigt.
0,2281 grm. deiselben lieferten 0,1621 grm. Kohlensäure, entspr.
0,I2G03 grm. = ö5,2 Proc. Kohlenslot!" und 0,lGi4 grm. Wasser,
entspr. 0,0I(S2(J7 grm. = 8,0 Proc. Wasserslotl'.
Die Aelhyldehydracetsäure erl'orderl: 55, i Proc. KohlenstolV und
7,7 Proc. Wasserstoff.
Aussei' der Aelhyldiacelsäure wurde eine kleine Menge hoher
siedender, beim Erkalten krystallisirender Säure erhalten, die auch bei
den früheren Versuchen beobachtet worden war und die nichts anderes
als Dehy drace tsä u re ist. Aus Alkohol kryslallisirt zeigte die farb-
lose, leicht sublimirendc Säuie den Schmelzpunct der Dehydracetsäure;
10'.)".
Die Anwesenheit von Aethylessigsäurc oder Diäthylessigsäure oder
Diäthjidiacetsäure habe ich nicht beobachten können.
A e t h e r n a t r n und A m e i s e n s ä u r e ä t h e r.
Zu dem mit 3 grm. Natrium in einem Glasrohr bereiteten Aether-
natron wurden 25 grm. Ameisensäureäther (5 grm. mehr als 2 Mgtn.
entspricht) gefügt und darauf das Rohr zugeschmolzen. Es trat sofort,
indem sich das Aethernalron löste, eine gelbbräunliche Färbung und Ab-
scheidung einer ansehnhchen, wenn auch nicht gerade verhältnissmässig
bedeutenden Menge eines Salzes ein, das sich bei späterer Untersuchung
als ameisensaures Natron erwies. Zugleich war eine gelinde Gasent-
wicklung bemerkbar. Deshalb wurde das Rohr sofort in Eiswasser ge-
stellt und so lange durchgeschüttelt, bis sich das AeLhernatron gelöst
hatte, was in kurzer Zeit geschehen war. Als darauf die Spitze des
Rohrs in die Flamme gehalten wurde, zeigte sich Druck im Innern, das
Rohr wurde aufgeblasen durch ein mit blauer Farbe brennendes Gas.
Das Letztere wurde gesammelt, es zeigte alleElgenschaften des Kohlen-
oxyds, indem es mit rein blauer Fiaumie nach dem Anzünden brannte,
dabei Kohlensäure bildend und von einer Lösung des Kupferchlorürs in
Salzsäure vollkommen und unter Rildung der für das Kohlenoxyd cha-
rakteristischen blättrigen farblosen Kristalle absorbirt wurde. Das
(Her die Kiiiwiikiiiiu di-s \i'llinii.itioiis ,iiil die \('ilu'i ciiiincr Kolilciisloirsiiuicii. 219
liolir wurde nun, naclulcMii os niitcinoni umgc^kclirlcn Kühler verbunden
war in ein Wasserhad gebraehl, dessen Temperatur der Gasentwicklung
entsprechend laiii^sani von iO" bis 7(1'' gesteigert wurde, wobei das Vo-
lumen des Röhreninhalts sieh beständig verminderlr. Als die Gasent-
wicklung, welche >telig vor sich gegangen war und zu keiner Zeit der
Geruch des gewöhnliciuMi Aethers entdeckt werden konnte, sich be-
trächtlich vermindert, ja fast ganz aufgehört halle, wurde die Temperatur
bis SO" gesteigert. Dabei trat im Rohr Kochen ein, ohne dass die Gas-
entwickelung reichlicher geworden wäre. Nach einiger Zeit wurde der
Kühler umgedreht und das aus dem Wasserbade Destillircnde aufge-
sammelt. Es betrug iü'/^ grm. und war reiner Alkohol, der bei der
Reclification, wobei das Thermon)eler sofort bis 78'\ö stieg, zwischen
dieser Temperatur und 80" überging. Der zurückbleibende braun ge-
färbte Rühreninhalt erstarrte beim Erkalten sliahlig krystallinisch, wie
Aethernatron. Er wurde mit wasserfreiem Aelher behandelt, worin
sich die Kristalle lösten, während das anlänglich ausgeschiedene Salz
ungelöst blieb. Dasselbe stellte ein krystallinisches Pulver dar, welches
bei l'iO" getrocknet einen Natrongehalt von i5, 4 Proc. ergab, also
ameisensaures Natron war, welches 45, G Proc. Natron enthält. Seine
Gesammtmenge betrug nahezu i grm. Die ätheiische Lösung hinterliess
nach dem Abdestilliren des Aethers im Wasserbade einen Rückstand,
welcher wieder in nadeiförmigen Kryslalien erstarrte. Er wurde in
Wasser gelöst und aus dem Wasserbade alles Flüchtige abdestillirt.
Das Destillat lieferte nach mehrmaliger Rectification aus dem Wasser-
bade zuerst für sich, dann über gebranntem Kalk und zuletzt mit ein-
gescnklem Thermometer wieder für sich deslillirt ITYjgrm. Alkohol.
Der Rückstand reagirte stark alkalisch und l)edurfte zur Neutralisation
eine beträchtliche Menge von Eisessig.
Aus diesen Resultaten folgt, dass der angewandte Ameisen-
säureäther tlurch das Aeth e rn a ti'on vollständig inKohlen-
oxyd und Alkohol z e rlegt w orde n ist, ohne dass dieses eine
wesentliche Veränderung erfahren hat, denn die 25 grm. Ameisen-
säureäther hätten dabei 15,5 grn). Alkohol liefern müssen, erhalten
wurden 16,5 grm., wähi'cnd das mit 3 grm. Natrium erzeugte Aether-
natron bei seiner Zersetzung mit Wasser I8grm. Alkohol geben musste,
erhallen wurden 17,5 grm.
Da nun, wie oben erwähnt, mehr als 2 Mgte Ameisensäureäther
angewandt wurden und wie die eben angeführten Zahlen zeigen, doch
die ganze Menge eine vollkommene Zersetzung erfahren hat, so ist es
sehr wahrscheinlich, dass auch noch eine grössere Menge des Aethers
durch das Aclliernalron zersetzt werden kann, ja dass, wenn nicht die
250 A. fitMillicr,
grössere Menge des sich bildenden Alkohols und die in Folge davon ein-
tretende Verdünnung des Aethcrnatrons der Rcaction Grenzen setzt,
diesell)e unbegrenzt verlaufen und durch eine beliebige Menge Aether-
natron eine sehr grosse resp. unendliche Menge von Ameisensäureäther
in Kohlenoxyd und Alkohol zerlegt werden kann.
Nicht so einlach als die Reaction an sich ist, wird es sein sich von
dem Grunde derselben Rechenschaft zu geben. Welche Affinitäten,
muss man fragen, nöthigen den Ameisensäureäther zu einem Zerfallen,
wenn keines seiner Zerselzungsproducte von dem einwirkenden Körper,
dem Aethernatron , zu einer Verbindung oder Umsetzung verwandt
wird? Warum entsteht nicht ameisensaures Natron und gewöhnlicher
Aether? Vielleicht liegt im Folgenden der Schlüssel zur Erklärung dieser
Verhältnisse. Denkt man sich, dass Aethernatron sich mit Ameisen-
säureäther analog umsetzt, wie mit Essigälher, also damit erzeugt Al-
kohol und Aethyl-di-ameisensaures Natron, ferner dass dieses Salz von
geringer Beständigkeit ist und, vorzüglich bei etwas höherer Temperatur,
sich in Kohlenoxyd und Aethernatron zerlegt, vielleicht unter Mitwir-
kung des in Freiheit gesetzten Alkohols , so würde die Reaction , bei
welcher dann die folgenden zwei Phasen zu unterscheiden sein würden,
versländlich werden :
L |flO€2H »J ^ I JNaO ' -'€-H"02J = ^^, HO
^2jjMNaO
und
4€^H<'0^
f
€02)
£02^ -4- '^f^iW'O^ — 9C02 -u Ciuir^^ 2€-H'^0^
(-2^1 NaO -*--*=** ^ *^^ + ka jj^TaO' -^^^
Die Zersetzung, welche der Ameisensäureäther durch vVethernalron
erfährt, wirft ein neues Licht auf die Vorgänge, welche bei derEinwir-
kuiig von Natrium auf den Ameisensäureäther vor sich gehen : letzlere
können durch erstere nun genügend aufgeklärt werden. Löwir. und
Weidmann 1) fanden, dass bei der Einwirkung des Natriums auf diesen
Aether, wenn es in genügender Menge angewandt wird, ausser ameisen-
saurem Natron und wenig eines braunen Natronsalzes, Kohlenoxyd und
Alkohol gebildet wird. Gkeinkk2) zeigte später, dass neben jenen Pro-
ducten noch Wasserstoff und Aethernatron erzeugt werden. Die Ersteren
beobachteten ferner als besonders erwähnenswerth, dass die Blasen des
sich entwickelnden Gases »gleichzeitig in der ganzen Flüssigkeit, sowohl
1) Pogg. Annal. Bd. 50 p. i H.
2) Diese Zeilsc.hril't Bd. III. p. 41
Uebor die Kiiiwirkiinii des Actliciiiafmiis iiiit die AclliiT ciiiiffcr KohlciislolTsilurPii. 2IJ1
;m den Slollen , welche mit dem Niiliiuin in Berührung sind, wie an
denen, wo sieh kein Natrium befindet« erseheinen, wahrend Letzterer
die Anwesenheil des Wasserstofls in dem sich ent\\ickehiden Gase
nach\Nies.
Besonders merkwürdig war l)ei dieser Reaclion die Bildung von
Alkohol nel)en der Bildung von Aethernatron und Wasserstoff, denn
wenn das Natrium den Ameisensäureäther unterBildung von Aether-
nalion und Kohlonoxyd zerlegte:
wie es GuEmER nachwies, wo kam dann noch Alkohol hei'. Derselbe
vcM'dankt, wie wir im oben Mitgcaheilten nachv^ iesen , seine Ent-
stehung einer secundären Wirkung, der desAethcrnalrons auf den noch
unzersetzten Anieisensäureälher. Die angeführte Beobachtung von Lö-
wig und Weu)Mann, im Betreff der Art der Gasentwickelung, sowie die
von Grelner gefundene Thatsache, dass auf I Mgt. sich entwickelnden
Wasserstoff mehr als 1 Mgt. Kohlenoxyd [=€02) kommt, finden jetzt
ebenfalls ihre Erklärung.
Aethernatron und Oxaläther.
Erster Versuch: Zu dem mit Hülfe von 2 grm. Natrium in einem
Bohr dargestellten Aethernatron wurden 13 grm. Oxaläther gegossen
(I Mgt. auf I Mgl.) und dann zugeschmolzen. Das Aethernatron löst
sich nach Verlauf von einigen Tagen unter öfterem Umschütteln bei ge-
wöhnlicher Temperatur vollkommen auf. Es scheidet sich dabei nur
sehr wenig Salz (oxalsaures Natron) ab und es tritt nur eine ganz ge-
ringe gelbliche Färbung ein ^). Als das Rohr darauf in einen Raum von
etwa 50" gebracht wurde fand allmähliche Bräunung des Inhalts unter
bemerkbarer Gasentwickelung statt. Nach dem Abkühlen auf 0" wurde
dessen Spitze in der Flaujine leicht aufgeblasen und es strömte unter
ziemlichem Druck ein mit rein blauer Flamme brennendes Gas (Kohlen-
oxyd) aus. Die geöffnete Spitze wurde sofort mit einem Kühler umge-
kehrt verbunden und das Rohr im Wtisserbadc allmählich erwärmt.
Das Gas entwickelt sich reichlicher, es enthält keine Kuhlensäure und
wird von einer Kupferchlorürlösung in Salzsäure unter Bildung der für
1) Beilstein führt (liirü))er(a a.O.) folgcndesan : »Setzt man oxalsaures Actliyl zu
einer Lösung von Aethernatron, so scheidet sich nach einigen Augenblicken ein gell)er
gelatinöser Niederschlag ab, welcher vermuthlich eine Verbindung jener beiden
Körper ist; da ich indessen nicht liollen durfte, die Verbindung zti isoliren, habe
'ch die Untersuchung dieser Einwirkung; nicht weiter verfolgt.«
252 A. (initiier,
das Kohleno\\,d chitrakleiistischen Kryslallo absoibiil, wahrend der
braune Röhreninhall immer dicker und schliesslich beinahe fest wird.
Gleichzeitig konnte, als das Gas in ein stark abgekühltes Rohr treten
gelassen wurde sehr wenig einer äthcrarligen Flüssigkeit verdichtet
werden, die leichter als Wasser war und ihrem Geruch nach wenigstens
zum Theil aus gewöhnlichem Aelher bestand. Als die Reaction beendet
war, das Wasser längere Zeit schon kochte und die Gasentwickelung
aufgehört hatte, wurde der Kühler umgedreht und das bis 100" flüch-
tige aus dem Rohi' abdestillirt. Dabei ging nur sehr wenig vom Geruch
des Alkohols über ; es wurde erkalten gelassen und dann der Röhreninhalt
mit Wasser übergössen. Während das Feste im Rohr sich mit dunkel-
brauner Farbe löste, schied sich eine farblose Oelschicht ab, welche voll-
kommen den Geruch des K o h 1 e n s ä u r e a t h e r s besass. Der gesammtc
Röhreninhalt w urde nun in eine Kochflasche gespült, mehr Wasser zu-
gegeben und über freiem Feuer destillirt. Die Oelschicht geht sehr leicht
über, mit ihr destillirt gleichzeitig viel Alkohol, der sie anfangs aufge-
löst hält; nach demZusatz von Wasser schoidetsiesichaberab. Um diess
vollständig zu erreichen, wurde in der wässrigen unteren Schicht Chlor-
calcium gelöst und diese dann durch Abheben entfernt Das Oel wurde
über geschmolzenem Chlorcalcium entwässert und rectificirt. Es wog o gr.
und bestand fast nur aus bei 127^' Deslillirendem; Ilöhersiedendes war
nicht vorhanden. Es besitzt also ausser dem Geruch auch denSiedepunct
des Kohlen sä Urea t her s und ist, wie die folgende Analyse und die
weiter damit angestellten Versuche zeigen in der That diese Verbindung.
0,2482 grm. gaben 0,5559 grm. Kohlensäure, entspr. 0,121336
grm, = 50,1 Proc. Kohlenstoff und 0,1939 grm. Wasser, entspr.
0,021541 grm. = 8,7 Proc. Wasserstoff. — Der Kohlensäureäther ver-
langt: 50, s Proc. Kohlenstoff und 8,5 Pioc. Wasserstoff. Mit einer alko-
holischen Kalilösung vermischt scheidet die Verbindung bei gelindem
Erwärmen sofoit kohlensaures Kali ab.
Durch Destillation der abgehobenen Chloicalciumlösung, wieder-
holtes Rectificiren des Destillats aus dem Wasserbade erst für sich und
dann über gebranntem Kalk konnte viel Alkohol (crc. 15 grm.) er
halten werden.
Die erst zurückgebliebene wiissrige biaune Salzlösung, welche die
andern bei der Einwiikung oder nachhei" durch Zersetzung entstandenen
Producta enthalten nmssle, wurde, da sie stark alkalisch reagirte, mit
Essigsäure angesäuert, wobei eine i:cichliche Kohlensäureentwickelung
auftrat, und mit Chlorcalcium versetzt. Es entstand ein Niederschlag
von oxalsaureni Kalk, dessen Menge nach dem Abliltriren , Aus-
waschen und Tiocknen in s^elinder Wärme 3 grm. betrug, was einer
llchcr die Kiiiwirkiiii^ ilt's Actlicriiiitrniis iuit'dic Actlicr ciiiiiifM' Kolilciistotrsiiiircii. '253
Zi rsetzung^von 2,7 gnii. Oxiilätlici- cMitspriclil. l);is hiauno Fillral war
vollkommen klar, erst auf Zusatz von Salzsiiuic scheidot sich ein Tlieil
der die braune Färbung bedingenden Substanz allmählich als dunkel-
braune Flocken ab. Ich werde später auf diese Substanz wieder zurück-
konunen ; von Wichtigkeit ist zunächst, dass unter dem Einfluss
des Aethe rna trons Oxaläther in Kohle nox yd und Koh len -
s ä u r e ä t h e r zerlegt wird.
Die bei dem eben beschriebenen Versuch, bei welchem auf 1 Mg(.
Aethernalron nur i Mgt. Oxaläthei- angewandt wurde, beobachtete stark
alkalische Reaction der wässrigen Lösung des Röhreninhalts , sowie die
nach dem Kochen beim Ansäuern auftretende reichliche Köhlonsäure-
entwickelung, neben der beträchtlichen Menge mit destillirenden Alko-
hols Hessen mich vermuthen, dass ein Theil des Aethernatrons unzer-
setzt geblieben und eine theilweise Zersetzung von gebildetem Kohlen-
säureäther bewirkt haben mochte, k h habe deshalb einen
Zweiten Versuch angestellt, bei welchem auf 1 Mgt. Aether-
nalron etw^as mehr als i Mgte. Oxaläther (3 gim Natrium und 45grm.
Oxaläther) angewandt und die Reaclion in einem Kochfläschchen vor
sich gehen gelassen wurde. DasLetztere war mit einen! doppelt 'lurch-
bohrten Kork versehen ; das Rohr der einen Durchbohrung führte das
WasserslofVgas während der ganzen Operation zu, während das Rolir
dei- andern Durchbohrung mit der Spitze eines Kühlers verbunden war.
Das andere Ende dieses Letzteren stand mit dem längeren Rohr eines
leei-en Waschcylinders in Communication, der in Eiswasser stand. Nach-
dem bei gewöhnlicher Temperatur die Lösung derAethernatronkrystalle
fast völlig unter nur schwacher Gelbfärbung und Abscheidung von nur
sehr wenig oxalsaurem Natron, ganz wie im ersten Versuch , vor sich
gegangen war, wurde das Kochfläschchen im Wasserbade langsam er-
wärmt. Rei iO'J wurden die ersten Gasbläschen an den noch ungelösten
Stückchen Aethernatrons bemerkbar, bei weiterem Erwärmen und lang-
samen Steigen der Temperatur tritt bald gelbe und schliesslich braune
Färbun" ein, ohne dass eine so reichliche Gasentwickelung als im ersten
Versuch sich bemerkbar machte. Im abgekühlten Cylinder beginnt eine
farblose Flüssigkeit sich zu verdichten, welche, da sie schwer durch
dtMimitkaltem Wasser gefüllten Kühler ging, zum Füllen des Letzteren mit
Wasser von 50 — 60^" veranlasste. Darnach destillirte sie in reichlicher
Menge. Als die Reaction nach etwa 1 '/aStündigcm Kochen des Wassers
beendet erschien, der Inhalt des Kölbchens halb fest geworden und keine
Entwickelung von Gas, das während der ganzen Operation kohlensäure-
frei befunden w urde, mehr sichtbar war, wurde der gekühlte Cylinder
entfernt, der Küliler liehlig mit dem Kölbchen verbunden und das aus
254 A. Geuther,
dem Wasserbad Flüchtige abdestillirt. Es bestand hauptsächlich aus
Alkohol, dem etwas Kohlensäureäther beigemengt war. Der leichter
flüchtige Inhalt dos Cylinders, lOgrm. betragend, besass nicht den -Ge-
ruch des gewöhnlichen Aethers, sondern den von Ameisensäure-
äther. Bei seiner Roctification stieg das Thermometer sofort auf So**,
von wo an eine grössere Menge überdeslillirte, zuletzt war das Thermo-
meter bis 790 gestiegen. Er bestand nur aus einem Gemisch von Al-
kohol und Ameisensäureäther, von welch letzterem nach wiederholten
Rectificationen 6 grm. erhalten wurden.
Der Rückstand im Kochfläschchen wurde nach dem Erkalten mit
viel kaltem Wasser übergössen, dabei löste er sich analog wie im ersten
Versuch mit dunkelbrauner Farbe völlig klar unter Abscheidung von
viel farblosem sich auf der Oberfläche sammelnden Oel. Es wurde nun
bis zur schwachsauren Reaction verdünnte Essigsäure zugefügt, von
welcher, um diess zu erreichen, nur wenig nöthig war, sehr viel weniger
als im ersten Versuch, und darauf das Ganze der Destillation unter-
worfen. Das Destillat wurde mit einer verdünnten Chlorcalciumlösung
geschüttelt, letztere vom abgeschiedenen Oel weggehoben und aus dem
Wasserballe destillirt. Dos Destillat lieferte nach mehrmaligen Rectifi-
cationen etc. noch i'.] grm. Alkohol, von dem also im Ganzen 17 grm.
erhalten wurden. Die ölige Flüssigkeit wog nacli dem Entwässern 20
grm. und ging, bis auf eine '/2 grm. betragende Menge früher Siedendes
(Alkohol) beim Siedepunct des Kohlensäureäthers über. Höher siedendes
war nicht voihanden.
In der braunen essigsauren Salzlösung wurde auf Zusatz vonChlor-
calcium oxalsaurer Kalk gefällt. Die Menge desselben betrug nach dem
Abfiltriren und Trocknen in gelinder Wärme 4^4 grni-, was einer Zer-
setzung von 4,2 grm. Oxaläther entspricht.
Das Resultat dieses zweiten Versuchs unterscheidet sich von dem
des ersten Versuchs wesentlich darin, dass die Menge des gewonnenen
Kohlensäureäthers eine sehr viel grössere, nahezu die doppelte, war,
denn hier wurden 53 Proc. der sich aus dem angewandten Oxaläther
berechnenden Menge an Kohlensäureätber erhalten , während dieselbe
dort nur 28 Proc. davon betrug, und ausserdem wurden hier 6 grm.
Ameisensäureäther gebildet, deren Anwesenheit dort gar nicht wahr-
!i;enommen werden konnte. Der Unterschied im Betreff des Letzteren,
sowie die reichere Kohlenoxydentwickelung im ersten Versuche wird
verständlich, wenn noch unverändertes Aethernatron vorhanden war,
da wir \n isseii , dass Ameisensäureäther neben Aetl)ernalron gar nicht
bestehen kann, sondern in Kohlenoxyd und Alkohol zerfällt und der
Unterschied, den beide Versuche in) Betreu' des ersteren, des Kohlen-
I
IJphcr die EinwirktiiiL' «Ifs Ai'llicriiatioiis niif die Aotlior eiiiiirer Kolileiistoffsrmreii. 255
säiiieathers zeigen, wird gleichfalls versläiidlicli, woiin vn ir, wie weiter
milon gezeigt wird, bedenken, dass durch dasAethcrnatron auch dieser
Aether schon bei 1 00 " Zei-setzung erleidet.
Um eine völlige Einsicht in den Verlauf der Reaction zu gewinnen,
war die Untersuchung von noch zwei Punclen nölhig, einmal, ob der
Kohlensäureälher als ein unmiltelbai'es Umsetzungsproduct anzusehen
sei oder erst auf Zusatz von Wasser aus der zurückbleibenden braunen
halbfesten Masse entsiehe und dann, welcher Natur die färbende Ma-
terie sei, die in nicht unbeträchtlicher Menge entsteht und offenbar einen
sauren Charakter besitzen muss. Zu diesem Zwecke habe ich noch den
folgenden Versuch angestellt.
Dritter Versuch. Angewandt wurden ^Y« grni. Natrium auf
i(> grm. Oxaläther (1 Ya gnn. mehr als 2 Mgte.) und im Uebrigen sowie
im zweiten Versuch verfahren. Im abgekühlten Cylinder hatten sich
condensirt 5 grm. Ameisensäureäther und 3 grm. Alkohol, im Wasser-
sloffstrom gingen darauf von letzterem noch 12 grm. über und später
dui-ch Destillation dei' Chlorcaiciumlösung 3 grm. , so dass im Ganzen
IN grm. davon erhalten wurden.
Die im Kochfläschchen enthaltene braune Salzmasse wurde nun
mit wasserfreiem Aether übergössen, um den Kohlensäureäther, wenn
er ein unmittelbares Product der Reaction ist. daraus durch Lösung
zu entfernen. Da indessen der zugefügte Aether mit der Substanz eine
breiartige Masse bildete, die sich nicht absetzte und schlecht fillrirte,
so wurde nicht die ganze Menge, sondern nur eine Probe abfiltrirt und
darin nach Verflüchligung des Lösungsmittels die reichliche Anwesen-
heit von Kohlensäureäther festgestellt, so dass über dessen unmittel-
bare Entstehung bei der Reaction kein Zweifel obwalten kann.
Es- wurde nun zur mit Aether versetzten Hauptmenge Wasser ge-
fügt, bis alles Feste in Lösung gegangen war, tüchtig durchgeschüttelt
und die farblose ätherische Lösung von der braunen wässrigen durch
Abheben getrennt. Letzlere wurde nun mit Essigsäure schwach ange-
säuert, wobei eine geringe Kohlensäureentwickelung auftrat und dann
destillirt. Der übergehende Alkohol mit etwas Kohlensäureäther wurde
zu dem Rückstand gegeben , welcher nach vorsichtigem Abdestilliren
der ätherischen Lösung blieb und beide wi(dVüher mittels Chlorcaicium-
lösung und Destillation getrennt. Erhalten wurden im Ganzen Kohlen-
säureäther 19 grm.
Die braune wässrige Lösung wurde nun mit Chlorcalcium versetzt,
um dieOxalsäure zu entfernen. Das Fillrat vom Oxalsäuren Kalk, dessen
Letzteren Menge nach dem Trocknen in gelinder Wärme I grm. (entspr.
'(,'■) nrni. Oxalälhej) bctruü," wurde nun mit Salzsäui'e im Ueberschuss
256 A. Geiither,
vermischt. Es schied sich nur wenig einer braunen flockigen Substanz
aus, die abfiltrirt wurde. Da eine Probe des ziemlich verdünnten Fil-
Irats mit Aelher geschüttelt die Flüssigkeit nicht entfärbte, so wurde
alles zur Trockne gebracht und die zerriebene Masse mit Aether über-
gössen. Derselbe blieb fast farblos, in ihm hatte sich eine geringe Menge
einer kleinkrystallinischen farblosen Säure gelöst, w^elche
nach dem Abdestilliren des ersteren zurückblieb. Sie bildet mit Am-
moniak, sowie mit Kalk leicht lösliche amorphe Salze. Ihre Menge war
zu gering um weitere Versuche mit ihr vornehmen zu können.
Zu dem Rückstand wurde nun so viel Wasser gegeben , dass eine
concentrirte Salzlösung entstand. Dabei blieb eine schwarzbraune Sub
stanz ungelöst, welche aus zwei sauren Körpern besteht, von denen der
eine in Wasser leicht löslich ist und, sobald nach dem Ablaufen der
Salzlösung reines Wasser aufs Filter gegeben wird, mit ganz dunkel-
brauner Farbe in Lösung geht, w ährend der andere, welcher nur schwer
in Wasser sich löst auf dem Filter zurückbleibt. Sie sind beide starke
Säuren, welche sogar die Essigsäure aus ihren Salzen auszutreiben ver-
mögen ; es entsteht nämlich sofort eine dunkelbraune Salzlösung, wenn
man sie mit essigsaurem Natron zusammenbringt, ganz entsprechend
der, welche sich bei Anwendung von Natronlauge bildet. Sie sind bei<le
in Alkohol leicht löslich mit schwarzbrauner Farbe. Die in Wasser fast
unlösliche Säure wurde mehrmals in Natronlauae oelöst und durch
Salzsäure gefällt, getrocknet, dann mit Aether übergössen, so lange sich
derselbe nach kürzerer Zeit noch färbte (nach längerer Zeit tritt immer
eine bräunliche Färbung ein, was eine langsame geringe Löslichkeit
dieser Säure im Aelher anzeigt), dann 'in Alkohol gelöst und im Wasser-
bade zur Trockne gebracht. Die in Wasser leicht lösliche Säure
\Nurde zur Trockne gebracht, in absolutem Alkohol gelöst und die filtrirle
Lösung im Wasserbade wieder zur Trockne verdampft.
L Oj'liJSO grm. der Ersteren gaben 0,3060 grni Kohlensäure,
entspr. 0,083455 gim. = 60,5 Proc. Kohlenstoff" und 0,0565 grin.
Wasser, entspr. 0,006278 grm. =4,6 Proc. Wasserstoff.
II. 0,H38 grm. der Letzteren gaben 0,2401 grm. Kohlensäure,
entspr. 0,065482 grm. = 57,5 Proc. Kohlenstoff mit 0,0574 grm.
Wasser, entspr. 0,00637f; grm. = 5,6 Proc. Wasserstoff.
Aus diesen Resultaten berechnet sich für die erstere Säure die
!''orinel €"H*'Of', welche verlangt 60,9 Proc. Kohlenstoff und 4, 4 Proc.
Wasserstoff und für die letztere Säure die Formel: ßi^H^O'^, welche
verlangt: 57,1 Pi-oc. Kohlenstoff und 5,7 Proc. Wasserstoff".
Die erstere dieser beiden Säuren slinnnt ihr<Mi EigenschaficMi
nach übercMU mit dem braunen Körper, der bei der Einwirkung von
die Kiiiwirkuim' des ArtlicriiiUrniis iiiil die Acllicr ciniiicr Kolilcii.stoü'siiiiicii. 257
Niitriimi jiuf Oxalällior entslohl und wcIcIum' von I.öwig^) »Nigrinsäure«
gtMiiinnl worden isl. Aucli in di'i' Zusninnionsotzung weicht sie nicht
wtvst'nllich von ihm ab. Aus clor Analyse des bei IOC gelrocknelen
Hleisalzes (eine Analyse der fieien Siiure liegt nicht vor) leitete Lowig
für sie die Formel: €"H^0^ ab. Das ist = €M4"0" + 2 HO.
Nimmt man an, dass das Bleisalz bei 100" noch 2 Mgle. Wasser
enlhallen liat, die bei höherer Temperatur hätten ausgetrieben werden
können, so würde man zu unserer Formel gelangen. Die Entstehung
dei' Verbindung kann durch die Gleichung:
3t02 + 2€2H4 _ 2H === 4^7^0 0«
V eransehauiicht w erden.
Die Entstehung der anderen braunen Säure lässt sich gleichfalls
aus tu- unti t-4i' unter gleichzeitiger Mitwirkung von Wasserstoff
(ItMiken :
6€02 4- 3€2H^ -»- 2H = t'^Hi^O'^,
so dass zur Entstehung beider Säuren neben einander nur t^O- und
£^ti* nöthig sind, denn:
0€O2 + .o€2H^ = ß'H'-'Oß + €'2H'^0'2.
Aussei' den seither angeführten Zerselziingsproducten , welche der
Oxaläther unter dem Einfluss des Aethernatrons liefert, ist noch eines
zu erwähnen, dessen Anwesenheit in der festen Salzmasse mit Sicherheit
angenommen werden kann, das ätherk ohl ensa ure Natron nämlich,
denn dasselbe entsteht w ie wir weiter unten sehen werden beim Zu-
sanmienkommen vonAethernatron und Kohlensäureäther in der Wärme.
Das sich während der Umsetzung stets entwickelnde Kohlenoxydgas
Ncrdankt seine Entstehung ofienbar der Einwirkung des Aethernatrons
auf einen Theil des gebildeten Ameisensäureäthers.
Was nun den Hergang bei der Zersetzung selbst anlangt, so lässt
sich derselbe dem Vorhergehenden zufolge so verlaufend auflassen, dass
sich der Oxaläther seiner Hauptmenge nach in Kohlensäureäther und
Kohlenoxyd umsetzt, welches letztere mit dem Leuchtgas von Aether-
natron die beiden braunen Säuren resp. deren Natronsalze bildet, wäh-
rend das dadurch entstehende Natron hydrat resp. Wasser mit einer
anderen Menge Oxaläther und Aelhernalron die übrigen Zersetzungs-
j)roducte, als Ameisensäureäther, oxalsaures Natron, ätherkohlensaurcs
Natron und Alkohol liefert.
Ein nahezu liclitiges Bild des Hergangs wird die folgende Re-
actionsgleichung geben :
1) Poiiu. Aiinal. Bd. 50 p. 120.
Baii.l IV. 2. 17
258
A. Genther,
\2 r€20SH2 02, (€2M4)2
^^ " NaO
r€O^H2 02, (4^2^4)2'
€2H^H0
€7H50^NaO + €12i^120l^Na202
€2 06,Na2 02
NaOi
€0^
f)4^2 4i.i02.
Wenngleich die beiden braunen Säuren nur in verhiillnissniässis;
geringer Menge gebildet werden, so ist ihre Entstehung doch offenbar
von der grössten Bedeutung für den Verlauf derReactfon, welcher durch
sie gewiss bestimmt wird.
Die eben erläuterte Einwirkung des Aethernatrons liefert den
Schlüssel zur Erklärung der so sonderbaren und bis jetzt unerklärten
Einwirkung des Natriums auf den \ a 1 s ä u r e ä t h e r. Der Letztere
wird, wie man weiss, durch Ersteres unter Kolilenoxydentwickelung
in Kohlensäureäther verwandelt. Gleichzeitig entstehen , wie Löwig
gezeigt hat Ameisensäure, Alkohol und »Nigrinsäure«. Das Eigenlhüm-
liche bei der Einwirkung des Natriums, als eines kräftig reduciren-
d e n Agens ist immer die Bildung des Aethers der Kohlensäure ge-
wesen, einer Säure, die kein Reductionsproduct der Oxalsäure, im
Gegentheil , ein Oxydationsproduct derselben darstellt. Der Vorgang
ist ofl'enbar bei dieser Einwirkung der folgende: Aus Oxalsäureäther
wird durch Natrium Kohlenoxyd und Aethernatron gebildet, nach der
Gleichung ;
€206fl202 (€2H4)2 + 2 Na = 2€02 + 2€2HJ)HO
jNaO,
welch letzleres seinerseits auf die oben erörterte Weise von Neuem auf
Oxaläther einwirkt. Also nicht das Natrium als solches ver-
anlasst die Bildung von Kohlensäureäther aus dem Oxal-
äther, sondern das erst du roh dasselbe gebildete Aether-
natron. Die Bildung des Kohlensäureäthers bei dieser Einwirkung ist
also vollkommen secundärer Art.
Darnach bedarf es wohl kaum noch derEiwähnung, dass die beste
Methode zur Darstellung des Kohlensäureäthers aus dem Oxaläther in
der Einwirkung von Aethernatron auf denselben besieht.
A e t h e i" n a l r n und K o h 1 e n s ä u r e ä t h e r.
Zu dem mit 1 '/.^ grm. Natrium in einem Glasrohr dargestellten
Aethernalron wurden l'ierm. Kohiensäureäther yeeossen f1 Met. Na-
licIxM' (lio Kiiiwiikiiiiü des Actlicniiilrnns iiiiCdit' Acllicr ciiiifffr KnhloiisinlTsrmrpii. 259
triam und 2 Mgl. Kohlonsiiureätlior) und das Rolii- /.ue;eschmolzcn. Das
Aothcrnatron löst sich bei gowöluilicIierTomporntur kaum auf, boi mäs-
sigiM" Wiirnio niciir, beim nachliorigcn Rrkaltcn aber wiedcM' auskrystal-
üsircnd. Als das Rolir im Wasserbade erhitzt wurde, schied sich all-
mählich ein krystallinisches Salz aus, dessen Menge nach einem 5stün-
digen Erhitzen auf 100" sich nicht weiter vermehrte. Die Kryslalle
waren zum Theil von bedeulcndoi- Grösse, die Menge derselben ver-
melirle sicli l)eim Ei'kailen nur wenig, die Flüssigkeit halle eine schwach
gelbliche Färbung. Zur sicheren Vollendung tier Reaclion wurde noch
2 Stunden auf 1 20^ erhitzt. Beim Oeffnen des Rohrs zeigte sich kein
Druck im Innern , es war aber der Geruch von gewöhnlichem Aether
bemerkbar, hn Wasserbade erhitzt, deslillii"te gew. Aether und Al-
kohol über. Der zurückbleibende Röhreninhalt wurde mit wasserfreiem
Aether gewaschen, worin sich das auskrystallisirleSalz nicht löste. Nach
dem Verdunsten desselben bliel)en 7 grm. unveränderter Kohlensäure-
äther ül)rig.
Das über Schwefelsäure getrocknete Salz gab bei der Analyse fol-
gende Zahlen :
0,191 grm. liefeilen nach dem Glühen, wo])ei zuerst ohne Schmel-
zung nur geringe Schwärzung eintrat 0,0915 grm. geschmolzenes koh-
lensaures Natron, entspr. 0,0-)3.5 grm. = '^H,0 Proc. Natron.
Daraus folgt, dass dasselbe nicht kohlensaures, sondern äther-
kohlensaures Natron war, welches 27,7 Proc. Natron enthält.
Damit stimmt auch sein übriges Verhalten vollkommen überein. Es
löst sich in kaltem Wasser unter schwacher Erwärmung und Bildung
von Alkohol zu doppelt kohlensaurem Natron, das bei genügender Con-
centration auskrystallisirt ; in siedendem Wasser unter Kohlensäureenl-
wickelung und Bildung von neutralem kohlensaurem Natron. Wird die
in der Kälte bereitete Lösung mitChlorcalcium im üeberschuss versetzt,
so entsteht nur ein geringer Niederschlag, wird die davon abfiltrirte
klare Flüssigkeil aber stehen gelassen, so entsteht nach einiger Zeit ein
neuerNiederschlag, der sofort in reichlicher Menge erscheint, wenn die-
selbe gekocht wird. Dabei verflüchtigt sich Alkohol.
Die F2inwirkung des Aelhernatrons auf den Kohlensäureälhei" ver-
läuft demnach so, dass a e t h e r k o h 1 e n s a u r e s N a t r o n und A e t h e r
gebildet wird nach der Gleichung :
€04, H2 02, (€2 «4)2 + e2H4|HO _€2«4^HO)^^, _^ r, r2 u:,n
iNaO" NaOJ^^ -H >*. « u.
Nach diesem Veihallen (\o<i Kohlensäureäthers schi(Mi es mir ge-
boten (li(> l'j'nw iikuiig (l(\s\airiums auf den Kolilcnsäureüther zu unter-
suchen.
17 *
260 A. fienther,
Löwig gibt an , dass Kalium den Kohlensäureäther unter Bildung
von Kohlenoxyd und einer weissen Salzu)asse zersetzt, die aus Aether-
kali und kohlensaurem Kali bestehen soll. Es schien mir dem Vorher-
gehenden zufolge nicht zweifelhaft, dass die letztere der Hauptsache
nach ätherkohlensaures Kali war. Der Versuch mit Natrium hat diess
bestätigt.
Als zu überschüssigem Kohlensäureäther Natrium gefügt wurde
war in der Kälte nur geringe Gasentwickelung bemerkbar, dieselbe
wurde beim gelinden Erwärmen bedeutender und zuletzt unter Auf-
blähen und Zertheilen des Natriums, Rothfärben der Flüssigkeit und
Abscheidung eines weissen Salzes, sehr lebhaft. Nach Beendigung der
Reaction wurde die Masse mit absolutem Aclher versetzt, worin sich der
meiste rothe Farbstoff mit gelblicher Farbe löste, während eine etwas
gefärbte Salzmasse übrig blieb. Dieselbe löste sich nicht in neuen Men-
gen Aethers, war also kein Aethernatron. Auf die \ ,2 grm. derselben
waren i grm. Kohlensäureäther verbraucht worden. War sie äther-
kohlensaures Natron, so hätten ;?,8 grm. des letzteren zu ihrer Bildung
verwandt werden müssen. Sie verhielt sich, wie ein durch kohlensaures
Natron verunreinigtes ätherkoiilensaures Natron, wie ihr Verhalten gegen
Chlorcalciumlösung zeigte i). 0,1 97 grm. derselben über Schwefelsäure
getrocknet gaben nach den) Glühen 0,1 I ö grm. kohlensaures Natron,
was 0,0672(i grm. = 34,1 Proc. Natron entspricht.
Aetherkohlensaures Natron enthält 27,7 Proc. und kohlensaures
Natron 58,5 Proc. Natron.
Das während der Einwirkung entbundene Gas war Kohlenoxyd.
Die Einwirkung des Natriums auf den Kohlensäureäther verläuft
also in der Hauptsache nach der Gleichung:
3
<^:OSH2 02, [G'^a^] ij -I- 2i\a = £0'^ -f- ^r^'^'j^T^Q^^O'
I4^^H^0,
Aethernatron u n d B e n z o e s ä u r e ä t h e r.
Das mit Hülfe von 1 grm. Natrium in einem Glasrohr bereitete^
Aethernatron wurde mit 13 grm. Benzoesäureäther (I Mgt. auf 2Mgle.)
Übergossen. Bei gewöhnlicher Temperatur findet keine l'^inwirkung,
auch nicht Lösung, statt, bei lOO** entsteht allmählich eine gelbliche gal-
lertartige Masse, welche bei 1 20 '> nach demDurclischütleln denRöhren-
1) Es muss hier noch angeführt werden, (l;iss in dein Salz auch eine kleine,
aber deutlich nachweisbare Menge von Oxa I siiu r e enthalten war, welche nur
durch Koduclion »ne. d e !• Kohlensäure entstanden sein kann.
lieber die liiiiwiikiiiiü des \i'lli('niiilmiis auf die Aellicr oiiiiifci' Kolileiislnllsiiiircii. 261
inliall breiig orschoiiicn liissl. Killilt (his Rohr ah, so kryslullisirl aus
dem flüssigen Tlieil des Röhrcninhalts eine grosse Menge in farblosen
nadelförniigen Kr\ stallen voiuAnsehen des Aelliernalrons. Wird wieder
auf 120" erhilzl, so verseliwiiulen diese Kryslalle wieder unter Verflüs-
sigung. Nach tleui lukalten erscheint der Röhrcninhalt fast ganz zu
diesen Kryslallen ei'starrt, es ist nur sehr wenig l'lüssigkeit zu be-
merken. Nachdem das Rohr wähi-end (5 Stunden auf I :^0" erhitzt wor-
den war wurde es geöfTnet, wobei kein Druck um! nur der Geruch des
Benzocälhers zu bemerken war. Der Inhalt des Rohrs wurde mit abso-
lutem Aether übergössen , in eine Koehflasche gespült und darin mit
Aether im Ueberschuss stehen gelassen , bis alles Lösliche gelöst war.
Darauf wurde das Ungelöste abfiltrirt und mit Aether gewaschen. Es
war fast weiss nnd nichts als benzoesaures Natron, wie eine Natron-
beslimmung zeigte Seine Menge betrug: -j grm. Die Ursache der Bil-
dung dieses Salzes ist zun) Theil wohl in Feuchtigkeit , zum Theil in
freier im Benzoeather erhaltener Benzoesäure , die bei der Destillation
desselben in geringer Menge entsteht, zu suchen.
Die klar filtrirende ätherische Lösung schied noch während des
Filtrirens ein krystallinisehesSalz aus. Dasselbe wurde wieder abültrirt,
mit Aether gewaschen, getrocknet und analysirt. Es wog 1 72 grm. und
war gleichfalls reines benzoesaures Natron. Da dieses Salz in Aether
unlöslich ist, so musste es erst imFiltrat gebildet worden sein, was ein-
treten konnte, wenn das Filtrat Acthernatron enthielt und dieses wäh-
rend des Fibrirens Feuchtigkeit aus der Luft angezogen hatte. Das neue
Filtrat da\on, welches rascher durchs Filter gelaufen war, als das
er'stere, indem die abzufiltrirende Salzmasse viel geringer als im ersten
Fall war, schied wieder etwas Salz ab, aber viel weniger. Es wurde
der Aether aus dem Wasserbade abdestillirt und der ziemlich beträcht-
liche mit Flüssigkeit durchtränkte grosskrystallinische Salzrückstand
Nom Aussehen des Aethernatrons, da derselbe mit Wasser eine stark
alkalisch reagirende Lösung lieferte, zur Bestimmung des noch unver-
ändert vorhandenen Beuzoeälhers in verdünnter überschüssiger Salz-
säure gelöst und das sich abscheidende Oel mitAethei- ausgezogen. Die
ätherische Lösung hinterliess nach dem Verdunsten eine Flüssigkeit, der
durch Schütteln mit einer Lösung von kohlensaurem Natron Y2 B''"^-
Benzoesäure entzogen werden konnte. Der Rest wog S grm. und de-
stillirte zw ischen iOO und t\ö*K
Es entsprechen nun
8 grm. Benzoeather 8 grm. Benzoeather
4,5 y> benzoesaures Natron 4,6 « «
ü,.ö » Benzoesäure (),(') » »
T3,2 grm.
262 -^- Geiiilier,
Darfiiij folgl also, diiss (las Ac ihr r na Iron auf reinen ßen-
z o e ä t h e r bei 1 20" nicht einwirkt.
Um zu sehen, ob bei höherer Temperatur eine Umsetzung zu er-
reichen sei wurde der Versuch mit Anwendung von 1,3 grm. Natrium
und 1 6 grm. Benzoeäther wiederholt. Das Rohr wurde erst 5 Stunden
auf I iO" und dann weitere 5 Stunden auf 1 Gü" erhitzt. Dass hierbei
Umsetzung eintrat, zeigte diealhiiählich .^ich vergrössernde Menge des in
der Hitze f. st bleibenden Salzes. Beim Oeffnen desRohrs in derFlamme
wurde dasselbe aufgeblasen und es strömte eine massige Menge eines
mit leuchtender Flamme brennenden Gases aus. Der Röhreninhalt zeigte
deutlich den Geruch von gewöhnlichem Aether. Das Rohr wurde mit
einem Kühler verbunden und aus dem Wasserbade das Flüchtige ab-
destillirt. Dasselbe bestand aus einem Gemisch von Aether und Al-
kohol. Der Rückstand im Rohr wurde darauf mit absolutem Aether
ausgewaschen. Das klare Filtrat reagirte nicht alkalisch und blieb auch
beim Stehen an der Luft klar. Der vollkommen weisse Salzrückstand
wog: 8 grm. Bei der Analyse ergab er 22,8 Proc. Natron, benzoes.
Natron verlangt: 21, o Proc. Er verhielt sich sonst wie benzoesaures
Natron, auch die daraus abgeschiedene Benzoesäure hatte den richtigen
Schmelzpunct 120". Kohlensaures oder oxalsaures Natron konnte nicht
nachgewiesen werden. Ich vermag vorläufig nicht anzugeben, welche
Substanz den etwas zu hoch gefundenen Natrongehalt verursacht hat.
Nach dem Abdestilliren der ätherischen Lösung im Wasserbade
blieben an gelb gefärbter Flüssigkeit übrig: 7,5 grm. Bei der Destilla-
tion zeigte sich, dass ein geringer Theil höher siedende Substanz vor-
handen war, die diesmal nicht Benzoesäure sein konnte. Um sie frei
von Benzoeäther zu erhalten, wurde, da dieselbe durch verdünnte Na-
tronlauge auch in der Siedehitze keine Veränderung (^fuhr, die Gesammt-
menge der aus der ätherischen Lösung erhaltenen Flüssigkeit wiederholt
mit Natronlauge im Ueberschuss in ein Rohr eingeschlossen und wäh-
rend mehrerer Tage auf I 00 ^ erhitzt. Der Benzoeäther verschwand.
Das übrigbleibende Oel wurde nach F^ntfernung der Natronlauge in
Aether gelöst, derselbe entwässert und dann abdestillirt.
Die Menge gelblichen öligen Rückstandes betrug 1,5 grm. Bei der
Destillation zeigte sie sich aus 2 Substanzen bestehend, einer nämlich,
welche zwischen 200 und 210" destillirte und einer, welche bei 300"
noch nicht überging. "Erstere stellte eine farblose Flüssigkeit dar von
an Benzoeäther erinnerndem aber mehr kratzendem Geruch, letztere war
eine fast feste gelbe terpentinähnliche Masse.
Die Erstere gab bei der Analyse: 77,3 Proc. Kohlenstoff und S,9
Proc. Wasserstoff, was der Zusammensetzung: €"fli"02, welche 76,4
Leber die Kiiiwirkiiiig des Aethernalreiis .mf di>* Aether eiiiiüer Kolilenstoffsäuren. 263
Pioc. Kohlenstotr undy, I Pior. Wasserslofl' verlangt, entsprechen würde ;
die Letztere, undeslillirt . ergab: S4,4 Proc. Kohlenstoff und 7,9 Proc
Wasserstoff, welclie Zahh'n auf die Formel : ti^H"0- führt, welche
81,0 Proc. Kohlenstoff und 8,0 Proc. Wasserstoff fordert.
Von diesen Substanzen iiisst sich vorlaufig nur sagen, dass sie
keine Sauren und keine Aetherverbindungen sein können, sie können
aber zur Klasse der Alkohole oder zur Klasse der Kelone gehören. Ob
ihre Entslehung mit der Thatsache zusammenhängt, dass das bei ihrer
Bildung zurückbleibende benzoesaure Natron einen um 1,3 Proc. zu
hohen Natrongehalt ergeben hat, sowie mit der Entstehung des beim
Oert'nen des Rohrs ausströmenden brennbaren Gases, kann ich bis jetzt
nicht angeben.
Benzoesäureäther gibt mit Aethernatron also bis IßC
erhitzt der Hauptsache nach b e n z o e s a u r e s Natron und
Aether.
Aus dem Mitgetheilten ergibt sich somit als Gesa mmtresid tat, dass
Aethernatron, wenn es auf die Aether der Essigsäure, Ameisensäure,
Oxalsäure und Kohlensäure einwirkt, die nämlichen Producte bildet,
wie das Natrium, indem die Entstehung der Letzteren durch die Ent-
slehung des Ersteren bedingt ist.
Jena, -Mitte März 1868.
lieber Legiimin.
Von
Dr. R. Theile,
Assistent am laiulwirth.sihiiflliclien Institut üu Jena.
Im Anschliiss an eine in (uneni früiieren llcfU; dieser Zeitschrift
veröffentlichte Arbeit') über das Albumin, sein Verhalten gegen Kah,
sowie seine chemische Constitution betreffend, sind auch die nun tol-
genden Untersuchungen über Legumin von mir durchgeführt worden.
Die Anregung dazu gab die Frage, wie viel Ammoniak sich ent-
wickle, wenn Legumin andauernd mit concentrirter Kalilauge behandelt
wird, da sich die l)ei analoger Behandlung des Thier- und Pflanzen-
eivveisses erhaltenen Resultate nicht wohl ohne Weiteres auch aufCasein
und Legumin übertragen Hessen.
Darstellung des reinen Leg um ins.
Als Rohmatei'ial dienten fein gestossene Erbsen. Das Erbsenmehl
wurde mit Wasser auf einem Drahtsiebe ausgelaugt, immer in kleineren
Portionen.
Die Behandlung mit Wasser wurde jedoch nicht bis zum Durch-
laufen einer klaren I^Iüssigkeit fortgesetzt , da sonst die zu stark vor-
dünnte Lösung die Gewinnung des Legumins wesentlich ersch^ve^t hätte.
Die durchgelaufene Flüssigkeit wurde so lange stehen gelassen, bis
sich das Stärkemehl vollständig abgesetzt hatte.
Die überstehende klare Flüssigkeit wurde mitdem Heber abgehoben.
Proben davon längere Zeit erhitzt zeigten auch nicht die geringste
flockige Abscheidung, nur eine geringe milchige Trübung trat mit der
Zeit ein, sowie die Bildung düryier Häutchen auf der Oberfläche.
Albumin konnte demnach in der Flüssigkeil nicht zugegen sein.
1) Diese Zeitschrift Band ill. 2. u. 3. 1867.
llehci' I.i'iimniii. 265
Die mikroskopisclic riihM-suclumi; iiiil" Aniyliim Hess keine Spur
(Unon in der Flüssigkeil erkennen.
Die so Jils von Albumin und Ain\, luni Irei erk;uinle Flüssigkeil wurde
ruil absolutem Alkohol versetzt, wobei sich das Legumin in dichten
Flocken abschied.
Die verdünnte alkoholische Flüssigkeil liess sich schnell und voll-
kommen fillriren, so dass das auf dem Filier bleibende Legumin nur
kurze Zeit mit der Luft in Berührung kam.
Nach und nach w'urden nach obiger Methode 2 Pfund geslossener
Erbsen behandelt und die gefällten und abfiltrirten Mengen Legumin
sogleich in einem mit absolutem Alkohol gefüllten Sanuiielgefässe zu-
sammengebracht. Die Gesannnlmasse wurde einige Tage: unlei" öfterem
Fmschütleln mit Alkohol in Berührung gelassen, um Wasser und fär-
bende Substanzen zu entfernen, hierauf fillrirt. mit absolutem Alkohol
ausgewaschen und dann auf ganz ähnliche Weise milAether behandell,
um ilas Fett zu entfernen.
Das vom Aether befreite Legumin wurde dann mit Hülfe eines Aspi-
ralors und l)ei einer durch warmes Wasser erzeugten, höchstens öO"G.
betragenden Temperatur einem andauernden, über Ghlorcalcium ge-
trockneten Luftstrome ausgesetzt und schliesslich unter der Luftpumpe
getrocknet.
Nach längerem Stehen unter der Luftpumpe (8 Tage) erhielt ich
eine gelbe, vollkommen spröde Masse, die zerrieben ein feines weisses
Pulver gab.
Charakteristisch ist, dass Legumin bei ganz analoger Behandlung
viel mehr Zeit erfordert, um in eine spröde trockne Masse überzugehen,
als Albumin.
DieAusbeute des so gewonnenen Legumins war eine sehr geringe,
was in dem Bestreben, jede mögliche Verunreinigung zu vermeiden,
Erklärung findet.
Aus'den 2 Pfund Erbsen erhielt ich lU grm. Legumin.
Analyse des Legumins.
B e s l i ni m u n c des Aschengehaltes.
KJ TD
0. •■{•)•> grms. Substanz hinterliessen 0.025 grnis. Asche = 7.04"/^.
0.936 » » )) 0.062 » » = 6.72 "/o-
Fvine nähere Untersuchung der Asche, deren speeielle Besullale ich
im Vereine mit mehrfachen anderen mit Aschen von Eiweisskörpern
ausgeführten Analysen in einer späteren Arbeit mittheilen werde, ergaJ)
unter anderen die völlige Abwesenheit von Schwefelsäure.
266 Dr. li. Theile,
Es ist diess insofern inleressanl, ;ils daraus erhellt, dass der im
Legumin enthaltene Schwefel, der, wie wir weiter unten sehen werden,
0.7 "o beträgt, beim directen Verbrennen entweicht und nicht in der
Form von Schwefelsäure deplacirend auf Salze der Asche einwirkt.
Der weit übeiwiegendeTheil der Asche besteht aus phosphorsauien
Alkalien und phosphorsauren alkalischen Erden.
VV a s s e 1- b e s t i m m u n g.
Zur ßestinunung des Wassergehaltes wurde I^eguniin in einem
Röhrchen, durch das sich ein Luftstrom zicihen und der Charakter der
entweichenden Dämpfe durch angefeuchtetes Reagenspapier erkennen
Hess, lange und anhallend einer allmählich gesteigerten Teniperatur aus-
gesetzt.
Von den 2ö hinter einander angestellten Trockenversuchen war
jeder das Resultat einer mindestens viertelstündigen Einwirkung der
entsprechenden, allmählich gesteigerten, Ten)peratur.
Ich hebe aus der langen Reihe dieser Versuche nur diejenigen her-
vor, die für die daran anzuknüpfenden Berechnungen unbedingt nö-
thig sind.
Die Wägungen I—V. (bei 90 0C. — iOO») ergaben 5.55— H.eS^yWasser.
» » VI. VII. u. VIII. (bei lOO«) ergaben alle 9.377o »
» » IX— XII. (bei 1 000— 1 1 o«) ergaben 9. 37 o/o— '1 0. 76% »
» » XIII— XV. (bei 120 0) ergaben alle i 0.76 o/^ Wasser.
» » XVII— XX. (bei 1300) ergaben alle 12.03 o/o »
» » XXI. u. XXII. (bei 1300— 1500) gaben beide 12. 730/o »
» » XXIII. (160 0) gab 13. 42 o/o Wasser.
Die letzte Wägung XXV. (180 0) gab 15.62o/o Wasser.
Von XXIII. an trat aber auch schon allmähliche Zersetzung der
Substanz ein.
Ueberblickt man die Reihe, so findet bei allmählichem Steigen der
Temperatur selbstverständlich auch eine steigende Abnahme des Wasser-
gehaltes der Substanz statt, aber diese Abnahme findet nicht ganz müI-
kürlich und gesetzlos statt, sondern es treten ganz positive fixe Puncle
auf, wo bei längerem, oft stündlichem Trocknen der Wassergehalt nicht
abnimmt, dann aber plötzlich wieder bis zu einem nächsten stationären
Puncle sinkt.
Bei 160 trat ein schwach brenzlicher Geruch auf, der die begin-
''^nde Zersetzung andeutet, bei I70o trat alkalische Reaction ein, die
.ch bei I 80 o intensiv steigerte, bei welcher Temperatur auch schon in
der Röhre eine starke Nebelbildung die Zersetzung erwies.
140 0C. ist als die Temperatur hinzustellen, bei derLegumin, ohne
ich zu zersetzen, sein gebundenes Wasser vollständig abgibt.
l'pber Li'tiiimiii. 267
Der CH'hall ilcs Lei^iuiiiiis itii WasstM' lieiofhiiot siili ilcmiuich zu
Wirft man ciiuMi Blick auf obii^c Reihe, so sielu man, dass erst bei
Temperaliiien über l0()"eiiu' wiederkelirende Hei;elmiissiu,keil sich gel-
lend maelit. Diess Verhalten spricht jedenfalls dafür, dass hier nicht
hyj^roskopisch adhiirirendes, sondeiii nach festen Verhiiilnissen chemisch
;;('bnndencs Wasser ausgetrieben wird.
Schon Andere haben bei der Aufstellung von Formeln für die lu-
wei skorper, in erster Linie aber namentlich fürvMbumin, auf chemisch
gebundenes Wasser Rücksicht genommen.
I.IEBLRKÜHN beispielsweise schreibt den. Albumin die Formel C"
lliioXisS20"+ 2aq zu.
Diese Annahme, zu der Likberkühn durch das Studium der Melall-
verl)indungen mit Albumin bewogen wurde, glaube ich bei meinen
Untersuchungen des Albumins durch den di reden Versuch bestätigt zu
haben, jiur dass ich tlahin geführt wurde i Aeq. Wasser annehmen zu
nüissen.
Auch im vorliegenden Falle weist das Verhallen des Legumins dar-
auf hin.
Wie später folgen wird, ergibt sich nach meinen Untersuchungen
liu-das Aequivalent des bei 140« getrockneten, also wasserfreien Legu-
mins die Zahl 1 71 3.
Berechnet man den Procentgehalt an Wasser, wenn zwei, vier und
sechs Aequivalente HO hinzutreten, so erhält man:
1713 + 2H0 = 1.039 %H0.
1713 + iHO = 2.058 o/o HO.
1713 4- 6 HO = 3.087% HO.
Vergleicht man die Resultate der Wägungen XXI u. XXH. sowie
der Wägungen XHI — XV., die beide Ruhepuncte bilden, so ergibt sich
eine Differenz von 2, 03% im Wassergehalt, welcher bei der angegebenen
Aequivalentenzahl 4 Aeq. W^asser entsprechen, dies entspricht bei 100"
= 1713 -4- (3 HO.
Vergleicht man die Resultate der Wägungen XXL und XXH. mit
denen der Wägungen VL bis VHL, so ergibt die Differenz 3.36%.
Die Wägungen (XVII — XX.) repräsentiren die Substanz
1713-1- HO.
Es scheint mir desshalb nach den vorliegenden Untersuchungen
wahrscheinlich, dass auch Legumin, ebenso wie Albumin Wasser in
festen Verhältnissen chemisch gebunden enthält und dass die Menge
6 Aequivalente beträgt.
26S IH. H. Tli(.'ilo,
Besti III III Uli l: des Seh \v ef e Ige ha 1 los.
Die Substanz wurde mit kohleiisauieni Natron und Salpeter itn
Tiegel geschmolzen, um S in Schwefelsäure überzuführen. Eine Correction
der hierbei gefundenen Schwefelsäure war nicht nothwendig, da die
Asche keine Schwefelsäure enthält.
I. 0.834 grms. Subst. gaben 041 BaO SO;. = 0.08% S.
II. 0.787 « » » 0.045 » )) =0.78%S.
Es ergibt sich hieraus im Mittel ein Gehalt von 0.74 '*/(, S.
Die in analoger Weise ausgeführte Prüfung aufPhos[)hor erwies die
vollständige Abwesenheit desselben.
Norton'] hat in dem Legumin ausErbsen undMandeln bedeutende
Mengen Phosfilior gefunden, von i o/„ bis 2.4 o/(,.
Diesen schon von Anderen bezweifelten hohen Gehall an Phosplior
nmss auch ich entschieden in Abrede stellen.
Eine nach Norton 5.2% Phosphorsäure enlsprechende Menge
Phosphor kann unmöglich übersehen werden, sie liegt weit ausserhalb
der Grenzen möglicher Versuchsfehler.
Bestimmung des Stickstoffs.
I. 0.325 grms. Substanz mit Natronkalk geglüht und den Stickstoti"
nach Varrentrapp und Will bestimmt ergal)en :
0.04376 grms. = 13.46% Stickstoff.
II. 0.328 grms. ebenso behandelt:
0.04464 grms. = 13.60% Stickstoff.
III. 0.371) grms. nach Varrentrapp :
0.05199 grms. = 13.72% Stickstoff".
IV. Eine Beslinnnung des Stickstoffs in Gasform lieferte ixn 2:i"C. und
747 Mm. Barometerstand 49.7 G.G. Gas.
Es entspricht dies 0.05511 grms. = 1 4.82 "/„ Slickslolf.
Die letztei'e Bestimmung gibt den Gehalt offenbar zu hoch an, wie
auch die Entdeckei' der Methode zugeben.
Im Mittel ergibt sich nach den 3 ersten Anahsen ein Gehalt des
Stickstoffs von 13.60"yo.
Bestimmung von Kohlenstoff und Wasserstoff.
1. 0.414 grms. Substanz mit chromsaurem Bleioxyd und vorgeschla-
genem metallischen Kupfer behandelt gaben :
0.264 grms. HO = 0.02933 grms. H = 7.1 % 11.
II. 0.304 grms. Substanz ebenso behandelt lieferten:
0.'f50grms. CO2 = 0.12273 grms. G = 40.iO"„ G.
0.207 » HO =0.023 « H = 7.5'VnH.
^) Fharmac. Ci-iitr;ill)la(l 1848. S. -241.
(lolior l.ciiiiiiiiii. 2G9
Ili. i).;{ri.') grms. Suhslimz hei ;in;iloij;oi' neli.iiulliin!^:
0.Ö07 grms. CO-^ = 0. 138^7 grms. C = 41.83% C.
0.231 » HO = 0.02;i6(i « 11= T.fiO^.iH.
IV. 0.310 grms. Substanz ergalion :
0.469 grms. CO2 = 0.!?79l grms. C = '(1.26% C.
0.217 .) 110 = 0.0211 l"^« 11= 7.75 7oH.
V. 0.371 grms. Substnnz wurden milKupforoxyd und vorgesclilagenem
metallisciiom Kupfer Norbrannl; ich fand:
0.:3;)2 grms. CO-^ = 0.IÖ055 grms. C = 10.6 %C.
0.2 5 2 « 110 = 0.0-?r>88 » H= 7.3 "/qH.
Nach den Analysen 111. und IV. ist demnacli ein Kohlenstoffgelialt
von 41.3 "0 anzunehmen.
Die Verbrennung V. mit Kupferoxyd, statt chromsaurem Bleioxyd,
also mit einem minder kräftig wirkenden Oxydationsmittel, wurde des-
halb ausgeführt, weil ich bei Al])umin ') die Erfahrung gemacht hatte,
dass je naci) der Verbrennung mit Kupferoxyd allein, oder mit Kupferoxyd
und durchgeleiletem Süueisloff, odei' endlich mil chromsaurem Bleioxyd,
der gefundene Kolileiiston' ein verschiedener war und dass er nur bei
der Verbrennung' mit chromsaurem Bleioxyd vollständig erhalten wurde,
dagegen bei der Veibrennung mit Kupferoxyd mit oder ohne Sauerstoff
ein verschiedene!" und zwar ein constant verschiedener war.
Mit Kupfei'oxyd allein wurden 1 1 "^/q Kohlenstoft' weniger ei'halten ;
heim Veibrennen mil Kupferoxyd bei durchgeleitetem Sauerstoff unge-
fähr 6'^/q weniger.
liier beim Behandeln des Legumins mit Kupferoxyd, wurde selbst
ohne Durchleiten von Sauerstoff der enthaltene Kohlenstoff so gut wie
\ollständig zu CO2 verbrannt.
Ich muss dieses Verhalten des Legumins dem Albumin gegenüber
als etwas für dasselbe charakteristisches betonen, jedenfalls scheint der
Kohlenstoff in ihm leichter verbrennlich zu sein, wie im Albumin.
Was den Gehalt an Wasserstoff betrifft, so ergibt sich aus den
5 Analysen ein mittlerer Gehalt von 7.J5%.
Bestimmung des relativen Verhältnisses zwischen
Kohlenstoff und Stickstoff.
Die Bestimmung wurde nach der bekannten LiEBKi'schen Methode
ausgeführt und stelle ich kurz die Resultate zusamnuMi, die 6 nach ein-
ander gefüllte Bohren ergaben :
1) Diesp Zcilsfhrifl B;mcl MI. ?.. Heft. Soito 15',,
270 nr. R. Theile,
N N: CO2.
1, CO.2 + N = 27. liC.G. darin 5.3C.G.1: 4.00.
11. » 4- .1 = 28.65 » » 4.75 » 1 : 5.03.
in. » 4- » =83.10« >> 5.5 » 1: 5.02.
TV. )) 4- fl = 34 9 )) » 4.0 » 1 : 6.1?,
V. » -+-))= 35.0 » » 4.5 » 1 : 6.77.
VI. « -t- )i = 34.3 » » 4.2 » 1: 1 A .
Legi man boi obigen Versuchen das letzte Verhällniss, als der
Wahrsclieinlichkeil am niichsten kommend zu Grunde, so ergil)t sich
das Verhällniss:
N^: G'-i = 14: 42.6.
Geht man von 41 .3 % Kohlenstoff aus, so ergibt sich ein Gehalt von
'13.57'J/,) Stickstoff, was allerdings mit dem direclen Versuche iiberein-
slinunt.
Nähme man nach Liebig die Gesammtvolume in den 6 Röhren zur
Grundlage der Berechnung, so erhielte man :
164.3 : 29.15 = 1 : 5.6.
Fährt man dagegen nach Rose so lange mit der Verbrennung fort,
bis 2 Röhren dasselbe Verhällniss ergeben , so wäre in unserem Falle
schon nach der drillen Röhre der Versuch beendet gewesen, denn :
11. CO2 : N = 5.03 : 1.
III. CO2 : N = 5.02 : 1 .
Wie ich schon bei der Analyse des Albumins betont und wie es von
andern namhaften Chemikern ausgesprochen wurde, sind die Resultate
dieser relativen Bestimmung nicht immer brauchbar.
Die direcle Untersuchung des Legumins hat demnach folgende Re-
sullale ergeben:
Asche = 6.71 o/o-
Wasser = 12.73%.
C = 41.30%.
n = 7.45%.
N = 13.60%.
S = 0.74 Vo-
Zieht man von dem Gesammtgehalt an Wasserstoff den auf das bei
I iO" au.sgetriebene Wasser entfallenden Anlheil ab (1.41*'/,,) und be-
rechnet auf Wasser- und aschenfreie Substanz , so ergibt sich für Le-
gumin, bei 1 40 ^ getrocknet, folgende Zusammensetzung :
Berechnet :
C = 51.30: 6 8.55 147.4 C148 51.83 0/0.
11 = 7.51 : 1 7 51 129.5 TT 129 7.53%
N = 16.88: 14 1.20 20 6 N 20 ](\AOy^.
Ucher I.t'iiniiiiii. 271
lieroclinet :
S = 0.9? : l() O.OIJS 1. S 1 0.93%.
= ?3.39 : S ?.9I 50.1 O .'iO 23.35 «/o.
Wir slollcMi sninil iukIi den Ers^ebnissen der Analyse für Lcgumin
(lio Formel C,4s H,2o N.20 S0:,o + 6 HO auf.
Ab.strahirl man von den 6 Aeq. Was.sei% so ist das Aequivalenl des
Legiimins I 7 1 .3
Ich fiku' liier noch die Analysen anderer Chemiker kurz hei, theils
um den Vergleich mil meiniMi Resullalen /ii (uleichlein, Ihcils um aiu-h
im Folgemh>n mich noch si)ecieli darauf Ixv.iehen zu können.
Du.MAS
11.
Cahouks.
SOHKKKKK.
KuCHLKDKK.
RÜLIN«.
LÖWKNUKKO.
Norton.
Theilk.
KohlenstolT
f)0.53
53.7
54.3
50.68
53.9
50.72
51.30
WasserstofT
0.91
7 2
7.4
fi.74
■ 7.2
6.58
7.51
Sl ick s toll'
IS, 13
13.7
14.r.
16.50
—
15.77
16.88
Schwefel
.._
—
—
0.4S
0.3
0.77
0,92
SauerstoiT
—
—
—
—
—
—
23.39
Phosphor
—
—
—
—
—
2.31
—
Diese siimrnlliclicu Analysen wurden ebenfalls mit Leiiumin aus
Erbsen ausirefiilut
In Betreff" des Schwefelgehaltes sei kurz er^^ iduil, dass Scuwarzen-
BACii ' denselben im Casein stets halb so gross gefunden hat als im Al-
bumin und dies Verhalten als charakteristisch hinstellt. Er fand im
All)unun stets zwischen 1.85 bis 2.2 "y Schwefel.
Ich fand den S -Gehalt im Albumin 1 .98% ; 1''^'' iniLegumin 0.92,
also gerade die Hälfte. Es scheint denuiach das Legumin sich hierin
dem Casi'in analoc zu verhalten.
Einwirkung von Kali a u f L e g u m i n .
Bei Aufstellung dieser Frage kam es mir darauf an, in Erfahrung
zu bringen, ob sich Pflanzenlegumin dabei dem Pflanzenalbumin analog
verhalle, überhaupt den Fehler kennen zu lernen, der bei der Bestim-
mung des Ammoniaks in Leguminosen dadurch entsteht, dass Legumin
durch die Einwirkung des ätzenden Alkalis zersetzt wird.
Die ganze Anordnung des Versuches war ähnlich der beim Albumin
eingehaltenen und verweise ich auf das betrefTenden Orts mitgetheille^).
Das Legumin wurde mit der zehnfachen Menge Aetzkali und ver-
1) Annalen der Cliemie, Februarheft 1865.
-2) Stöckhardt, Zi'itscliiin fiii- liout.sclio l^andwiiilio X.\ll. ,lalir.i<iuiu St'id' 303.
Clioinisflios CentralMall 1860.
272 Dr. R. Theile,
dünntem Alkohol in einem Glaskolben zusammengebiocht und durch
wiederholte Destillationen das entwickelte Ammoniak in einemil Normal-
schwefeisäure verseiiene Vorlage übergetrieben und durch Titriren be-
stimmt.
I G.G. neutralisirter Flüssigkeit entspricht Vio-ooo A^q. , oder
O.OO^I^oG grms. Ammoniak, wenn 0=10,
Bei der folgenden Versuchsreihe w ird immer nur kurz angegeben
wie viel Gubikcenlimeter durch Ammoniak neutralisirt waren.
In der Vorlage waren bei siinnutlichen Versuchen je 5 G.G. Normal-
säure, welche vorderTitrirungauf 50G.G. verdünnt wurden. Es wurden
gleichzeitig 2 Versuche durchgeführt.
I. 1.505 und II. 1.468
grms. Legumin wurden mit je 15 grms. Aetzkali und 80C.C.ßO% Al-
kohols eine Stunde lang deslillirt. Gleich Anfangs schieden sich in dem
noch sehr hochgradigen Deslillale der Vorlage deutlich sichtbare Kiy-
slalle von H4NO, SO., aus, die sich mit der Zeit wieder lösten. Nach
Beendigung der Destillation wurde der Destillationskolben durch einen
Quetschhahn abgesperrt und die Flüssigkeit in der Vorlage tilrirt. Hiei-
auf wurde die Vorlage mit neuer Normalsiiure und der Destillations-
kolben möglichst schnell wieder mit Alkohol versehen, von Neuem de-
slillirt und titrirt und so in fortlaufender Reihe weiter verfahren.
I. II.
1) Neutralisirt waren:
r2.2oG.G. = 0.026038 grms. ILN 13G.G. = 0.027638 grms. H;,N
1.730%. ^ 1.882%.
2) Die unmittelbar folgende Destillation ergab:
2.:iG.G. = 0.00531 i- grms. H.jN 1 G.G. = 0.0021 25 grms. lijN
0.352%. 0.151V
3) Desgleichen :
1.5 G.G. = 0.0031876 grms. II;^N 0.5 G.G. = 0.00106 grms, Il.jN
0.212%. 0.072%.
i) Desgleichen :
1 G.G. = 0.0021256 grms. lijN 0.25 G.G. = 0.00053 grms. Il^N
0.111%. 0.036%.
Ich Hess nun den Versuch vier Tage ruhen , w obei , wie auch bei
den folgenden Versuchen, die vorgelegte Schwefelsäure von der äusseren
Atmosphäre abgesperrt wurde, um eine niögliche Aufnahme von Am-
moniak aus dieser zu verhindern.
5) Nach 4 Tagen waren neutralisirt:
0.75G.G, = 0.00159 grms. IljN I.2G.G = 0.00276 grms H.,N
0.105%. 0.18! %.
üeber Legiimin.
273
ICC. = 0.002125 grins. .H;jN
0,151 'Vü.'
OC.G Kein Ammoniak.
1.5G.G. = 0.00318 grnis. ILN
0.232%. "
1.8C.C. = 0.00382 grms. E^N
0.260%-'
OC.C. Kein Ammoniak.
<)) Nach weiteren 2 Tagen :
0.75C.C. = 0.00659 grms. HjN
0.105%. '
7) Nach weiteren 6 Tagen :
1.5 CG. = 0.00318 e;rms. R^N
0.212%. '
8) Nach 1 Tagen :
I.25G.G. = 0.0025 grms, H.,N
0.227%.
9) Nach 6 Tagen :
OC.G. Kein Ammoniak.
1 0) Nach 7 Tagen :
OG.G. Kein Ammoniak.
11) Der Versuch wurde 7 Wochen lang ruhen gelassen, die darauf lol-
gende Titrirung ergab in beiden Fällen die Abwesenheit von Am-
moniak.
Stellt man die erhaltenen Resultate zur besseren Uebersicht noch-
mals kurz neben einander:
I. II.
1.882% HgN
0.151 » »
0.072 » »
0.036 » ))
0.181 » »
0.151 » »
— » »
0.232 » »
0.260 » »
')
1.730
% H,N
2)
0.352
)) »
3)
0.212
» »
4)
0.141
» »
5)
0.105
» »
«)
0.105
» »
7)
0.212
» »
«)
0.227
)) »
9)
—
» »
10)
—
» »
11)
—
» »
3^81^
VoH.N
hinter einander
4 Tage gestanden
»
2
6
10 »
6 .)
7 »
7 Wochen
2.965%E5N
so sieht man vor allem, der über ein Vierteljahr ausgedehnte Ver-
such beweist, dass auch bei Legumin Ammoniak keineswegs in so
grosser Menge als Zersetzungsproduct auftritt, als wohl bislang vermuthet
wurde.
Die 4 ersten, schnell hinter einander ausgeführten Destillationen
zeigen die rasche Abnahme von Ammoniak; es tritt hier jedenfalls als
directes Zersetzungsproduct auf, während die später entwickelten
Mengen wohl von der Einwirkung des Kalis auf gebildete Zersetzungs-
producte herrühren.
Berechnet man die im Mittel 3% betragende Menge Ammoniak auf
Stirkstotl", und zwar in hei 140"^ getrockneter und aschenfreier Suh-
üaiid IV. 2. IS
274 Dr. R. Theile,
stanz, so ergibt sich, dnss durch Kali nur 3. 07% Stickstoff in der Form
von. Ammoniak ausgetrieben worden sind; dieser Antheil verhält sich
zum Gesammtgehall wie 5.5 : 1 .
3 07
Es wurden nur -== 0.182 des Gesammtgehalles, also noch
1 u.o8
nicht ganz 2/,^^ ausgetrieben.
Hierin unterscheidet sich Legumin wesentlich von Thieralbumin,
wo 0.304 also beinahe ein Drittheil des Stickstoffs ausgetrieben wird.
MitPflanzenei weiss wurden von mir keine so anhaltenden Versuche
angestellt, sondern nur so lange stetig hinter einander destillirt, bis
keine weitere Ammoniak-Entwickelung eintrat, das heisst, es wurde
nur das als directesZersetzungsproduct auftretende Ammoniak bestimm
und diese Versuche stimmen allerdings auch mit den jetzt vorliegenden.
Die vier ersten Destillationen unsers Versuches II. ergaben 2.141 %
Ammoniak. Bei Kartoffeleiweiss fand ich 2.0227o-
Trotzdem also Legumin einen höheren Gehalt an Stickstoff besitzt,
wie Pflanzeneiweiss , wird doch nicht mehr Ammoniak direct ausge-
trieben, im Gegentheil tritt bei Pflanzenalbumin relativ mehr Stickstoff
in Form von Ammoniak aus.
DasVerhällniss ist hier wie 1 : 5.76, bei Legumin dagegen nur wie
1 : 6.76.
Es lässt sich somit kurz wie folgt resümiren :
Bei der Einwirkung concentrirter Kalilauge auf Legumin wird Stick-
stoff in Form von Ammoniak ausgetrieben ; die Menge ist geringer als
bei dem stickstoffürmeren Albumin, sie beträgt noch nicht 2/,^, des Ge-
sammtgehaltes.
Das austretende Ammoniak ist einestheils directes, anderntheils
seeundäres Zersetzungsproduct. Jenes überwiegt bedeutend.
In Betreff der zuerst als Zersetzungsproduct auftretenden Mengen
scheint Uebereinstimmung mit Pflanzenalbumin zu herrschen, die Menge
ist bei beiden Eiweissarten eine übereinstimmende.
Sollen demnach bei Leguminosen Bestimmungen ihres Gehaltes an
Ammoniak durch Austreiben mit Kali vorgenommen werden, so müsste
eine 2 ^o ihres Legumingehaltes entsprechende Correction angebracht
werden.
Was den bei der Behandlung des Legumin mit Kali im Entwick-
lungskolben zurückgebliebenen Rückstand betrifft, so war er beträcht-
licher als bei Albumin ; das Legumin löste sich nur theilweise und
schwierig, auch zeigte die alkalische Flüssigkeit nicht die bei Albumin
so bald eintretende und eine Zersetzung hndeutende rolhe Färbung.
Diese Flüssigkeit, das Producl einer vierteljährlichen Einwirkung
i
Ueber liegiimiii. 275
von Kali auf Lcgumin, wurde üllrirt uml der Rückstand ausgewaschen,
er l)estand grösslentheils aus phosphorsauren Erden.
Das gelbe Fillral wurde verdünnt und mit SO;j dasKali neulralisirt.
Es war dabei kein besonderer Geruch wahrzunehmen wie bei Albumin.
Nach längerem Stehen schied sich aus der stark verdünnten Flüssigkeit
ein (lockiger Körper ab; er erwies sich als Kieselsäure, \NahrscheinIich
von einer Verunreinigung des Kali herrührend.
Die von der Kieselsäure abfdtrirte Flüssigkeit wurde zur Trockne
eingedampft und die Masse mit absolutem Alkohol extrahirt. Ich erhielt
einen braunen, klebrigen Körper. Es gelang nicht, mikroskopisch eine
deutliche Krystallisation zu erkennen, nur einzelne Nädelchen zeigten
sich, aber Aussehen und Geruch, sowie die durch Aether bedingte weisse
Fällung erinnerten an den bei Albumin gefundenen Körper.
Leucin und Tyrosin Hessen sich durchaus nicht nachweisen.
Vergleichen wir nun die Resultate und Methode vorliegender Arbeit
mit den Ergebnissen der von Anderen ausgeführten Analysen.
Wie schon bei der Darstellung des Albumins, war auch hier die
leitende Idee, die Anwendung jeder höjieren Temperatur , jedes mög-
licherweise energischer wirkenden Fällungs- oder Reinigungsmittels
zu vermeiden, ausserdem, den Reinigungsprocess auf die kürzeste Dauer
zu beschränken, da ja bekanntlich Luft und Wärme auf Eiweisskörper,
in flüssigem oder feuchtem Zustande sehr schnell einwirken.
Die bekannten Methoden laufen sämmllich darauf hinaus , das Le-
gumin namentlich von seinen anorganischen Begleitern zu befreien;
hierbei liegt aber die Gefahr nahe, dass durch das Reinigungsmittel die
Substanz selbst angegriffen wird und man so hier wieder einbüsst, was
man dort zu bessern meint.
Dumas und Cauours i) digeriren die gepulverte Erbsenmasse 2 oder
3 Stunden lang mit lauwarmem Wasser, zerquetschen dann im Mörser
und setzen kaltes Wasser zum Brei. Nach stündigem Stehenlassen wird
durch Leinwand gepresst und zum Fällen der Stärke stehen gelassen.
Aus der klaren Flüssigkeit wird mit verdünnter Essigsäure dasLegumin
gefällt. Der filtrirte Niederschlag soll sich nur langsam und nicht ohne
Schwierigkeit auswaschen lassen. Die weitere Behandlung mit Alkohol
und Aether bleibt dieselbe.
Die so erzielten Frpducte enthalten noch meist gegen 2 % Asche
und kann es auch füglich nicht anders sein, denn die Löslichkeit des
1) Annaics (I Chim. et Pliys. [3] VI. i,i3.
18
276 Dl"- B. Tlieile,
Legumins in geringem Ueberschusse von Essigsäure, sowie die Unlös-
liclikeit der phosphorsauren Erden in zu wenig Essigsäure, lassen den
Process nicht in der erstrebten Weise verlaufen, einestheils wird der
Aschengehalt nur etwas herabgedrückt, anderntheils aber die Substanz
der Einwirkung einer Säure ausgesetzt.
Bedenkt man, dass sich Legumin in geringem Ueberschuss von
Essigsäure vollkommen und leicht wieder löst,' und ferner , dass durch
Essigsäure oder eine andere Säure gefälltes Legumin selbst nach fort-
gesetztem Waschen mit Wasser und Alkohol Lackmus stets röthet, wo-
gegen frisch bereiteter wässriger Auszug aus Leguminosen vollkommen
indifferent gegen Pflanzenfarben ist, so wird man darauf hingeführt,
dass die Niederschläge des Legumins aus einer Verbindung von Legumin
und Säure bestehen und die Lösung im Ueberschuss der Säure einfach
auf der Bildung eines an Säure reicheren Salzes beruhe , eine Ansicht,
die schon Braconnot i) aussprach.
Rochleder 2) geht in seiner Reinigungsmethode noch weiter. Er
fand, dass nach obiger Methode dargestelltes Legumin nicht rein sei. Er
behandelt es daher nochmals mit concentrirter Kalilauge, worin es sich
unter flockiger Abscheidung der fremden Substanzen leicht lösen soll.
Er lässt zum klaren Absetzen längere Zeit stehen, behandelt die abge-
hobene Flüssigkeit mit Essigsäure, löst die Fällung abermals in Ammo-
niak, um schliesslich nochmals mit Essigsäure zu fällen. Von dieser
Methode der Reinigung kann nun aber freilich nach den vorliegenden
Untersuchungen nicht genug abgerathen werden ; selbst wenn die Dauer
der alkalischen Einwirkung nur eine kurze ist, muss sie doch nothwen-
digerv^eise Verluste an Stickstoff bedingen. Man vergleiche die oben
mitgetheilte Analyse von Rochleder, die als das Mittel seiner Analysen
von auf diese Art gereinigtem Legumin angeführt ist, mit meinen Re-
sultaten.
Der Kohlenstoffgehalt beträgt um 3 % niehr , der Stickstoffgehalt
dagegen volle 2 % vveniger.
Die erste Destillation des Legumins mit concentrirter Kalilauge er-
gal) I-Sy^ Ammoniak, was auf aschen- und wasserfreie Substanz be-
zogen einen Verlust von 1.8^0 Stickstoff ergibt, also beinahe genau
das, was Rochleder zu wenig gefunden hat.
Selbstverständlich muss dann auch der Gehalt an Kohlenstoff höher
ausfallen.
LüWENBERG nimmt an , der kalte wässrige Auszug aus Erbsen sei
1) Ann. d. Chini. et Pliys. XXXrV. 68.
2) Annalen der Glieinie und Pliarm
Heber LeKiimin. 277
eine Mischung von All)unnn und Leguniin. Er behandelt das gefällte
Gemenge mit Ammoniak, dessen Ucberschuss er durch Verdunsten aus-
treibt und erhitzt dann unter Zusatz von Koclisalz zum Sieden, filtrirt,
fällt im Filtratc durch Essigsäure, vsäscht dann mit kaltem Wasser aus
und behandelt schliesslich mit kochendem Alkohol und mit Aether.
Was vor allen Dingen das Vorhandensein eines Gemenges von Al-
bumin und Legumin betriflt, so muss ich dies bei meiner Untersuchung
leugnen.
Eineslheils hätte ich im wässrigen Auszuge beim Erhitzen irgend
welche Abscheidung erhalten müssen, dem war nicht so. Aber selbst
zugegeben, dass durch die Gegenwart von Legumin vielleicht Albumin
an der Fällung verhindert werde, so spricht doch eine andere Thatsache
entschieden dagegen, nämlich das Verhalten der Asche.
Die Asche von Albumin enthält bedeutende Mengen von SO3 ; ich
fand stets zwischen 9 und 12 (*/q.
In der Asche des nach meiner Methode dargestellten Legumins,
war es mir nie möglich auch nur eine Spur von Schwefelsäure zu ent-
decken.
Ich habe mir zur genauem Untersuchung der Asche des Legumins
gegen 2 grms. Asche dargestellt; SO3 war jedoch nicht vorhanden.
Ich bediente mich stets ganz reifer Erbsen. Vielleicht hat Löwen-
berg mit jungen Erbsen operirt, wo ein Gehalt an Albumin eher denkbar.
Es scheint mir demnach die LöwENBERo'sche Annahme an und für
sich nicht stichhaltig.
Aber geradezu schädlich für das Legumin muss die Methode der
Trennung erscheinen.
Löwenberg wendet dazu Ammoniak an , dessen Ueberschuss er
durch Verdunsten austreibt, er bringt somit das Legumin längere Zeit
mit einer stark alkalischen Flüssigkeit zusammen.
Nach den Erfahrungen mit Kali ist es jedenfalls nicht ungereimt,
auch dein Ammoniak eine ähnliche Einwirkung zuzuschreiben. Wohl
mag es paradox klingen, dass Ammoniak durch Ammoniak ausgetrieben
werde, aber die Sache steht einfach so, dass hier eine Flüssigkeit von
stark alkalischem Charakter auf eine leicht zersetzbare Substanz ein-
wirkt. Auch bei der Einwirkung von Kali wissen wir ja nicht, ob nur
Ammoniak als kohlensaures Ammoniak austritt, sondern das Ammoniak
ist uns als der einzig fassbare und leichtbestimmbarc Körper ein Maass-
stab dafür, dass Kali überhaupt zersetzend eingewirkt hat. Leider
liegen von Löwenberg keine StickstofTbestimmungen vor.
Löwenberg gibt selbst an, das nach seiner Methode gereinigte Le-
gumin gebe, mit Wasser gekochl, einen kohlenstoffreicheren in Wasser
278 Dl'. H. Tlioilp,
löslichen und einen kohlcnsloffarmeren, in Wasser unlöslichen Körper.
Löwenberg beweist somit selbst , dass sein gereinigtes Legumin kein
Legumin, sondern ein Gemenge ist.
Diese 3 Methoden sind es , welche bislang in Uebung waren und
die alle 3 nicht geeignet erschienen, wirklich zu erzielen , was sie be-
zwecken, das heisst, das Legumin frei von anorganischen Bestandtheilen
und anderen vermutheten Begleitern, aber auch zugleich in unzersetzter
Form zu erhalten.
Bei diesen sämmtlichen Methoden, und ähnliches gilt auch von Al-
bumin und den meisten übrigen Eiweisskörpern, ist das Hauptaugen-
merk darauf gerichtet, die anorganischen Bestandthcilc fortzuschaffen,
wobei die Substanz selber schädlichen Einflüssen ausgesetzt wird.
Es fragt sich nun, ob die steten anorganischen Begleiter wirklich
nur so schlechthin als Verunreinigung anzusehen , oder ob sie nicht or-
ganisch mit einander verbunden sind, so, dass die Lostrennung dieser Be-
standthcilc auch den Zusammenhang des'Bestes wesentlich alterirt.
Der Mangel an genaueren und oft zu wiederholenden Analysen der
Aschen von Eiweisskörpern ist, wie ich glaube, eine vor Allem auszu-
füllende Lücke.
Wenn ich bei meinen, ohne Anwendung von Säure, Alkalien oder
höherer Temperatur dargestellten Eiweisskörpern, fortwährend constante
Gehalte an Asche erhalte, z. B. bei Kartoffeleiweiss in 3 Versuchen
6.64 %, 6. 63 'Vo und 6.58 % Asche bekomme, bei Albumin 2. 3 %, 2.2 ^%
und 2.2 7oj ^>ei Legumin endlich 6.62% und 6.78"/^, so ist dies wohl
kaum ein Zeichen blosser Verunreinigung.
Ich habe mich der oben angedeuteten Aufgabe unterzogen und
werde die erzielten Resultate seiner Zeit mittheilen.
Schon der Umstand, dass die Asche stets einen bedeutenden Gehalt
von phosphorsauren Erden aufweist, spricht dafür, dass diese in einem
innigeren Zusammenhang mit der organischen Substanz stehen müssen,
sonst könnten sie nicht ihre Unlöslichkeit in Wasser so vollständig ein-
büssen.
Nach wochenlanger Behandlung des Albumins mit Kalilauge er-
hielt ich aus der Flüssigkeit nach dem Neutralisiren mit SO3 und Ver-
dünnen mit Wasser einen flockigen, eiwoissartigcn Körper mit gegen
4 % Asche, die fast ausschliesslich aus phosphorsauren Erden bestand.
Es spricht dies entschieden dafür, dass die phosphorsauren Erden der
ursprünglichen Substanz sehr fest mit ihr verbunden waren , so dass
sie selbst bei deren vollständiger Zersetzung nicht als solche heraus-
fielen, sondern mit dem zersetzten Eiweisskörper vereinigt blieben.
57Q
So viel zur Rcchtfcügung <lo.- von ,ni.- hcfolglon Methode zuiDor-
^'^"'kl.r,ü:h -SS ich noch eine aneice .,oge bcUh-en, .u deren
Bcanf— g vorliegende U„U3US«ch«ngen MaUnial liefen.. Es handelt
sTLhch «n> den'zusannnenhang .wische. AI ..nun und Le,u„ .
Filr Albumin wurde von mir dicForu.el C,«llr24N„ ''jOio + '""
aut"estellt, für Lesumin ergibt sich: C„8H,2„N-20 SOjc + OUÜ. U.e
rnnatl der Physiologen, dass das Legumin sich ^»-; '^ -^;'-
Aibu.nin bilde, lässt sich leicht aus diesen l-orn.eln enlw.ckeln. Vor
'"i uan di;selben, so sieht man, dass der Uebergang nur durch
Aufnahme von Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, sowe durch Ab-
cabe von Schwefel möglich ist. , ^ \
' Stickstoff und Sauerstoff sind wahrscheinlich in der Form von Am-
moniak und Wasser aufgenommen worden ; zugleich gewinnen die vxer
relvalente chemisch gebundenes Wasser des Albumms ihre Bedeu-
tung, sie treten in innigere Verbindung mit der Substanz und werden
ferner 3 Aequivalente Ammoniak gebunden.
Albumin C^s Ht24 Nn 8-2 O4R
-1- 4 HO
+ 3 Ammoniak
— Schwefel
geben: Ci4s H137
Man sieht, die Formel für Albumin geht in die des Legumin über;
die Differenz im Wasserstoff liegt innerhalb der Grenze der Versuchs-
^''^"' ChsH..oN,oS05o = 7.53o/,H.
Cu8Hi37N2oS05o = 7.95 0/,H.
Nimmt das Albumin nach unserer Annahme wirklich 3 Aequ.val Am-
moniak auf, um in Legumin überzugehen, so werden sich diese 3 Aeq.
H,N bei de; Einwirkung von Kali auf Legumin vielleicht auch leichter
wieder lostrennen lassen.
Die Einwirkung des Kali auf Legumin liegt vor und lassen sich da-
bei zwei Momente des Processes unterscheiden, das erste Moment wo Am-
moniak als directes Zersetzungsproduct auftritt und das spaterfolgende,
wahrscheinlich mit weiteren Zersetzungen verbundene.
Wirft man einenBlick auf dieoben übersichtlich Zusammengestell en
Resultate der Einwirkung von Kali, so sind es die vier ersten Versuche,
die dem ersten Momente entsprechen; es ergaben sich darnach
L ^^•
2.4350/0H3N. 2.UIO/0H3N.
2S0 Dr. R. Tlieilo, Tpber I.pgumin.
auf aschcn- und wasserfreie Substanz berechnet gibt dies S.Oä'^/f, und
2.65%, also im Mittel 2.8;}",, Ammoniak.
Berechnet man ausder Formel C,4s H129 N20 SO50 den Procentgehalt
von 3 Aequiv. Ammoniak, so entspricht dieser 2.96%.
Wie man sieht, spricht der directe Versuch in dieser Richtung
genau für meine Annahme.
Gestützt auf das vorliegend Mitgetheilte glaube ich mich berechtigt
die Bildungsweise des Legumin aus Albumin dahin zu erklären, sie
erfolge unter Abgabe eines Aequivalentes Schwefel und
unter Aufnahme von 4 Aeq. Wasser, welch' letztere als
Begleiter des Albumins von mir schon erwiesen wurden,
sowie unter weiterer Bindung von 3 Aequivalenten Am-
moniak.
Heber eiueii neuen, dem T^^rosin und Leucin ähnlichen Körper.
Von
Dr. R. Theile,
Assistent am landwirthschaftlichen Institut zu Jena.
Mit 3 Figuren in Holzsciinitt.
Vor geraumer Zeit Iheilte ich in dieser Zeitschrift ^) die Resultate
von Arbeiten mit, welche bezweckten, die Zersetzungsproducte des Ei-
weisses durch einen Ueberschuss von Kali genauer zu studiren.
Wie betreflcnden Orts genauer einzusehen, fand ich damals ausser
einigen nicht weiter untersuchten flüchtigen Körpern als Hauptrepräsen-
tanlen der Zersetzung zwei syrupartige, schwerkrystallisirbare braun-
rothe Körper, einen eiweissartigen, noch schwefelhaltigen unkrystallisir-
baren elastischen Körper, sowie Leucin und Tyrosin.
Auch weiterhin beschäftigte ich mich mit der Lösung dieser Frage
und da hierbei absichtlich kleine Modificationen des ursprünglichen
Verfahrens stallfanden, gelangte ich zu Resultaten, welche, wenn auch
im Ganzen von den ursprünglich erzielten nicht abweichend, doch
manches Neue boten.
Vorläufig eine dieser neuen Thalsachen mitzutheilen ist der Zweck
vorliegender Arbeit.
Bei meinen ersten Untersuchungen wurde Vitellin mit der doppel-
ten Menge Kali vier Wochen lang unter öfterem Umschütteln in Berüh-
rung gelassen und hierauf die braunrolhe klare Flüssigkeit hltrirl.
Es bleiben nur geringe Mengen ungelöster Substanz zurück, die
sich grösslentheils als phosphorsaurc Erden erweisen.
Bei zwei so ausgeführten Versuchen wurden je 40 grms. Vitellin
mit 80 grms. Aetzkali behandelt.
1) Band III. Seite 166.
282 Dl- R- Tlieile,
Ein dritter, zu demselben Zwecke wicdeiholter Versuch wurde mit
154 grms. Vitellin und 100 grms. Aetzkali ausgeführt.
War daher das Verhältniss des Vitellins zu Kali früher wie 2 zu 1 ,
so war es nun wie 3 zu 2 ; die Substanz wurde demnach einer 3mal
schwächeren Einwirkung ausgesetzt, auch wurde der Versuch nicht
auf 4 Wochen ausgedehnt , sondern schon nach 1 4 Tagen zur Unter-
suchung geschritten.
Beim Abfiltriren der alkalischen Lösung war diesmal der Rückstand
weit beträchtlicher; er bestand wiederum zumTheil aus phosphorsauren
Erden, ferner aber aus einem blendend weissen, schon auf dem Filier
für das blosse Auge sich als krystallinisch erweisenden Körper.
Meine erste, naheliegende Vermuthung war, dass hier wahrschein-
lich Leucin oder Tyrosin vorläge.
Die Masse wurde mit absolutem Alkohol unter Erwärmen behandelt,
wobei der fragliche Körper leicht in Lösung überging, beim Erkalten
aber thcilweise wieder herausfiel.
Unter dem Mikroskop zeigte der Körper eine vollkommen wasser-
helle, überaus schöne, aus sichelförmigen Nadeln arabeskenartig zu-
sammengesetzte Krystallisation.
Durch abermaliges Umkrystallisiren des Körpers aus heissem Alkohol
erhielt ich eine zur weiteren Untersuchung dienende, blendend weisse,
im Aeusseren von Tyrosin und Leucin nicht zu unterscheidende Masse.
Die damit angestellte nähere Untersuchung lieferte folgende Re-
sultate :
Auf Platinblech vorsichtig erhitzt, schmol^z der Körper zu einer
rothbraunen Flüssigkeit und verbrannte mit dem den stickstoffhaltigen
Körpern eigenthümlichen Geruch ohne Hinterlassung eines Rückstandes.
1) 0.0850 grms. Substanz mit Natronkalk verbrannt gaben:
0.007'l7grms. N = 8.44%.
%] 0.121 grms. Substanz gaben bei analoger Behandlung
0.0098 grms. N = 8.18%.
3) 0.1 835 grms. Substanz mitKupferoxyd und vorgelegtem metallischen
Kupfer verbrannt gaben :
0.187 grms. CO2 = 0.0510 grms. C = 36.82 0/0 0.
0.125 » HO =0.01388 » H=10.02%H.
4) 0.146 grms. Substanz ebenso behandelt:
0.199 grms. CO2 = 0.05427 grms. C = 37. 17 0/0 C
Daraus berechnet sich die Formel
Cio H16 NO9.
üeber einen neuen, dem Tyrosiii iind I oiicin ähnlichen Körper. 283
Berechnet : Gefunden :
10 Aoq. KohlonslofT fiO 37.03Vo- 36.82"/,,. 37.17.
16 « Wnsscrstoff 16 9.87 n 10.02 » —
1 y> Stickstoff 14 8.65 » 8.44 » 8.12.
9 » Sauerstoff 72 44.45 » _ _
1 Aeq^ 1*62 100.00%.
Schon vor der genaueren Untersuchung glaubte ich , der Körper
sei vielleicht Butaianin , ein dem Leucin homologer und von Gorup-
Besanez •) in der Bauchspeicheldrüse des Ochsen gefundener und von
ihm näher untersuchter Stoff. Ich gelangte jedoch durch näheres Stu-
dium zu der Uebcrzeugung, dass hier kein Butaianin vorliege.
Gorip-Besanez gibt dem Butaianin die Formel C^q Hu NO4.
Schreibt man die Formel des von mir untersuchten Körpers
C|oHnN04 + 5H0, so war es denkbar, dass mit Wasser inniger verbun-
denes Butaianin vorläge, weshalb der Best meinerSubstanz wieder anhal-
tend bei 1 20 '^ C. getrocknet und nochmals der Analyse unterworfen wurde.
0.195 grms. Substanz gaben mit Natronkalk geglüht:
0.01794 grms. N = 9.2 o/^.
0.1205 grms. Substanz mit Kupferoxyd und metallischem Kupfer
verbrannt gaben :
0.177 grms. CO2 = 0.04827 grms. C = 40.05 7o-
0.111 » HO =0.01233 )) H = 10.23 7o-
C,o Hi5 NO,
Berechnet : Gefunden :
Cio 39.2 40.05.
Hi5 9.8 10.23.
N 9.15 9.20.
Die Zahl des Kohlenstoffes ist zu hoch , jedoch sieht man, dass nur
1 Aequivalent Wasser durch dasTrocknen bei 120" ausgetrieben worden
war, weshalb die Formel Cio H15 NO^ + HO gegeben werden muss.
In kaltem Wasser löst sich der Körper nur schwierig , leichter in
heissem, aus dem er beim Erkalten theil weise wieder herausfällt.
Leucin löst sich leicht in Wasser, Butaianin und Tyrosin schwierig.
Im absoluten Alkohol ist der Körper leicht löslich, noch leichter,
wenn dabei Erwärmung stattfindet.
Leucin ist in kochendem Alkohol schwer löslich, Butaianin noch
schwieriger, Tyrosin unlöslich.
In Acther löst sich der Körper vollständig, namentlich beim Er-
wärmen.
<) .\nnalcn d. Chem. Band 98. Seite 15.
284
Dr. R. Theile,
Leucin und Tyrosin sind in Aether vollkommen unlöslich , ebenso
Butalanin.
Charakteristisch ist vor Allem die Krystallisation.
Fig. I. zeigt den aus wässriger Lösung krystallisirten Körper. Die
Krystallisation bildet ein zusammenhängendes Netz von wasserklaren,
arabeskenartigen Verschlingungen.
Fig. II. gibt einen Theil dieser Krystallisation etwas vergrössert.
Die Krystallisation aus ätherischer Lösung ist zarter und feiner,
sie besteht aus einem regellos ausgebreiteten Netze mondsichelförmig
gekrümmter Nädelchen, die oft farrenkrautartig zusammengefügt sind,
doch auch der Typus von Fig. IL ist vorhanden.
Fig. I. Fig- U.
Fig. III. zeigt eineKrystallisationsform,
wie sie öfters aus alkoholischer Lösung
erhalten wurde. Sie trägt genau das
Gepräge eines maschenförmigen Gebildes.
Die vorgeführten Krystallisationen er-
hielt ich jedesmal ohne Mühe schön und
klar, nur muss mit verdünnten Lösungen
operirt werden. Sie weichen vollkommen
Fig. III. von denen des Leucin und Tyrosin ab,
niemals zeigte sich auch nur eine Spur jener meist kugeligen oder
büschelförmigen Gebilde.
Von Butalanin liegt keine Abbildung vor. Gorup-Besanez schildert
die aus kochendem Alkohol erzielte Krystallisation als aus breiten rhom-
bischen Tafeln und Prismen bestehend, meist sternförmig gruppirt.
Die wässrige Lösung krystallisirt in farrnk rautähnlichen, zuweilen
auch in garbcnförmig gruppirten feinen Nadeln.
üeber einen neuen, dem Tyrosiii und Leiicin ühnlichen Körper. 285
LeucinundTyrosinslimmendarin mildem neuen Körperüberein,dass
sicluille 3 l)ei eerini'erMeni'o durch ausserordentliches Volum auszeichnen.
Man hat dies bei der Darstellung mikroskopischer Objecto zu beherzigen.
Beim vorsichtigen Erwärmen schmilzt der Körper erst zu einer
rothbraunen Flüssigkeit und sublimirt dann in weissen Flocken. Der
Versuch wurde in einer beiderseits offenen Röhre angestellt. Erst bei
einer Temperatur von 190*^0. fing die rothbraune Flüssigkeit an, Nebel
zu bilden, dichte weisse Nebel lagerten sich unmittelbar neben der er-
wärmten Stelle ab und konnten bei vorsichtigem Erwärmen der ganzen
Röhre entlang getrieben werden. Diese Dämpfe reagirten nicht alkalisch.
Bei Leucin tritt kein Schmelzen ein, sondern schon bei 170° eine
directe Sublimation. Tyrosin schmilzt, ohne zu sublimiren, Butalanin
schmilzt und sublimirt hierauf in gelben Flocken, wobei deutlich alka-
lische Reaction auftritt.
Verdampft man den Körper auf dem Platinblech vorsichtig mit einem
Tropfen Salpetersäure, so wird die Masse intensiv citrongelb.
Leucin bleibt dabei ungefärbt, Tyrosin dagegen gibt ebenfalls eine
gelbe Verbindung.
Bei nachheriger Behandlung der gelben Verbindung mit einen
Tropfen Natronlauge tritt eine intensiv braunrothe Färbung ein, gerade
wie bei Tyrosin.
Mit einer wässrigen Lösung des Körpers wurden folgende Reactionen
angestellt :
Ammoniak bewirkte keine Fällung, die. damit versetzte Flüssig-
keit zeigte die Krystallisation des ursprünglichen Körpers.
Natron bewirkte keine Fällung, doch zeigte sich unter dem Mikro-
skope eine von der des reinen Körpers abweichende Krystallisation. Zur
Controle liess ich das angewandte Natron, sowie kohlensaures Natron
für sich krystallisiren und überzeugte mich, dass die Krystallisation
durch diese allein nicht bedingt sein konnte. Es dürfte demnach eine
Natronverbindung vorgelegen haben.
Die Verbindung war in Wasser sehr leicht löslich, was der Körper
an und für sich bekanntlich nicht ist.
Barythydrat bewirkte keine Fällung.
Die mit Salzsäure versetzte wässrige Lösung kryslallisirte in
schönen verfilzten Nadeln, nach längcrem Auswaschen mit Aether, um
alle überschüssige Salzsäure zu entfernen, trat bei Zugabe von salpeter-
saurem Silberoxyd eine deutliche Reaction auf Chlor ein, so dass jeden-
falls eine Verbindung des Körpers mit Chlorwasserstoffsäure vorlag.
Dieselbe Verbindung existirt bekanntlich auch von Leucin. Ein
Theil der wässrigen Lösung wurde mit Salpetersäure in» Wasserbade
286
Dr. R. Theile,
verdampft. Die Krystallisation erwies sich Iheilvveise als die des reinen
Körpers, theilweise traten gerade Nadeln auf, es zeigten sich aber auch
an vielen Stellen citronengelbe Partieen, die aus keulenförmig zusam-
mengesetzten Massen kleiner gerader Nadelchen bestanden.
Dieser gelbe Körper dürfte wohl auf eine dem Nitrotyrosin ent-
sprechende Verbindung hinweisen.
Platinchlorid bewirkte auch nach längerem Stehen keine Fällung.
Essigsaures Kupfer ox yd bedingte weder eine Fällung noch
eine Färbung; unter dem Mikroskope Hessen sich die Krystalle des ur-
sprünglichen reinen Körpers und die des essigsauren Kupferoxydes
genau erkennen und trennen.
Quecksilberchlorid gab auch nach Zugabe von Aether keine
Fällung. Leucin verhält sich ebenso.
Salpetersaures Quecksilberoxyd bewirkte eine starke,
weisse, flockige Fällung, die überstehende Flüssigkeit zeigte eine deut-
liche rosenrothe Färbung.
Leucin wird dadurch weder gefärbt noch gefällt.
Bei Tyrosin tritt eine rothe Fällung ein und auch die überstehende
Flüssigkeit zeigt eine intensive Färbung.
Phosphor-Molybdänsäure, lodkalium, salpetersaures Quecksilber-
oxydul sowie schwefelsaures Zinkoxyd bewirkten weder in der Kälte
noch in der Wärme eine Fällung,
Sow eit in Kürze, was ich von dem neuen Körper ermittelt habe.
Im Folgenden stelle ich die hauptsächlichsten Reactionen und
Eigenschaften parallel mit Leucin , Tyrosin und Butalanin zusammen,
es wird dadurch das Verschiedene und Gemeinsame dieser 4 Körper am
besten und deutlichsten charakterisirt.
Bei Butalanin konnte selbstverständlich nur das bis jetzt über das-
selbe Bekannte mit aufgenommen werden.
Löslichkeit in Wasser
Leucin
Leicht löslich
Tyrosin 1 liutalanin
Schwer löslich Schwer löslich
Neuer K örper
Schwer löslich
Löslichkeit in Alkohol
» » Aether
Schwer löslich Unlöslich
Unlöslich
Sehr schwer
löslich
Unlöslich
Leicht löslich
Verhalten hei höherer
Temperatur
Bei 170" subli-
mirbar ohne zu
schmelzen
Schmilzt ohne
zu suhlimiren
Schmilzt und
sublimirt dann
in gelb. Flocken
Unter 190
schmelzbar,
bei 190" in
weissenFlocken
sublimirbar
Auf Platinbiech
mit Salpetersiiure
behandelt :
Farblose Masse
Gelbe Masse
Gelbe Masse
Nach Zugabe von
Natron
Bleibt farblos
Braunrothe
Masse
Braunrothe
Masse
.*^iilpt(tersaures
Quecksiiberoxyd
bewirkt ;
Keine Fällung,
Flüssigkeit
Bleibt ungefärbt
Rolhe tlockige
Fällung
FliLSsigkeit
stark rosa
gefärbt
Weisse flockig
Fällung,
Schwach rosa
gefärbte
Flüssigkeit.
üeber einen neuen, dem Tyrosiii iiiid Leiiein ahnlichen Körper. 287
Bopp *) erwähnt in seinen Untersuchungen »Ueber Albumin, Gasem
und Fibrin«, dass er beim Schmelzen des Albumin mit Aetzkali neben
Leucin und Tyrosin noch einen dritten Körper in sehr geringen Mengen
gefunden habe, der im äussern Ansehen dem Tyrosin, in einigen Eigen-
schaften dem Leucin gleiche. Die erhaltene Menge war so gering, dass
es bloss möglich war zum Zweck seiner Wiederauffindung seine äusseren
Eigenschaften kennen zu lernen.
Bopp charakterisirt diesen Körper kurz Wie folgt:
'!) Sublimirbar und hierbei baumwollenartige Flocken bildend ohne
Hinterlassung eines Rückstandes.
2) Schwer löslich in Wasser.
3) Leichtlöslich in absolutem Alkohol.
4) Nadeln, die keinen besonderen Glanz haben und sich beim Aus-
krystallisiren aus absolutem Alkohol gerade so durch das ausser-
ordentliche Volum bei geringer Menge auszeichnen, wie das Ty-
rosin beim Auskrystallisiren aus Wasser.
Die Eigenschaften stimmen soweit mit denjenigen unsers Körpers
überein.
In einem Harne, der aus dem hiesigen Krankenhause zur Unter-
suchung auf Leucin und Tyrosin eingeschickt worden war, fand ich den
einen Tag Leucin , die beiden folgenden Tage aber zeigte sich weder
Leucin noch Tyrosin , .wohl aber ganz deutlich die Krystallisation des
fraglichen Körpers.
füfer Kranke litt an einer allmählichen Zersetzung der Muskeln. Es
scheint also dieser Körper auch wie Leucin, Tyrosin und Butalanin im
Urin aufzutreten.
Frerichs und Städeler^) haben einmal im Harne neben dem Tyro-
sin einen dem letzteren sehr ähnlichen und wie sie aus einer Stickstoff-
bestimmung schliessen, ihm wahrscheinlich homologen Körper gefunden ;
der Stickstoflgehalt betrug nach ihren Angaben 8.83 %• Die hier ge-
fundene Formel CioHisNOj^ -f- HO entspricht einem Gehalt von 8.64 %
Stickstoff.
Frerichs und Städeler theilen nichts Näheres über ihre Nachwei-
sung mit, die Vermuthung liegt aber nahe, dass der gleiche Körper vor-
gelegen habe.
1) Annalori der Cli. u. Ph. LXIX. S. 28 u. 29.
2) Fkericms, Deutsche Klinik 1855. Nr. 31. p. 343.
Hiitersuchuiig über saiierstoflfreiehe Kohleiistofisäureii.
Von
A. Geuther.
Schon seit längerer Zeit habe ich die Einwirkung der Salzsäure in
höherer Temperatur auf verschiedene Kohlenstoffsäuren , namentlich
solche, in denen sich eine grössere Anzahl von €0^ Gruppen vermulhen
lässt, Studiren lassen in der Erwartung , es würde dadurch ein Theil
dieser Gruppen einfach abgetrennt, ein anderer unter gleichzeitiger
Wasserzerselzung und Bildung eines Reductionsproductes als Kohlen-
säure entfernt und so neue Anhaltspuncte für die Constitution dieser
Säuren gewonnen werden können. Ich habe dabei die Bildung chlor-
haltiger Säuren, analog der Bildung bromhaltiger Säuren, welche von
Kekule 1) bei der Einwirkung von Bromwasserstoffsäure beobachtet
worden ist, wenn auch nicht für unmöglich, doch als in den meisten
Fällen nicht eintretend erachtet und zwar einmal, da schon lodwasser-
stoffsäure und Bromwasserstoffsäure sich in ihrer Wirkung wesentlich
unterscheiden , welche letztere offenbar von der geringeren oder grös-
seren Festigkeit mit der der Wasserstoff in ihnen gebunden ist, abhängt,
sodann aber, weil bei der höheren Temperatur, welche zur Einwirkung
der Chlorwasserstoffsäure erforderlich ist, manche der möglicherweise
entstehen könnenden chlorhaltigen Säuren unter den vorhandenen Um-
ständen nicht mehr bestehen , also auch nicht entstehen können. So
z. B. beginnt die Einwirkung der Salzsäure auf Glycolsäure erst bei
'I50", bei dieser Temperatur wird aber Monochloressigsäure durch
Wasser schon vollständig in Glycolsäure und Salzsäure zerlegt.
Die Versuche haben bereits ergeben, dass ohne Bildung chl or-
haltiger P r od u c te zersetzt werden die Weinsäure, Trauben-
säure und G i t r n e n s ä u r e. Die ersteren beiden liefern Pyrowein-
säure, die letztere eine neue Reihe von Säuren, welche sich von 2Mgte.
1) Aiinal. (I. Chem. u. Pliarm. Bil. 130. p IG, u. s. w
l'jiiwirk. roiic Siilzsiiiiic iiuf Wciiisiiiirc. 280
Cilroiiensiiuro resp. Acoiiilsiiiirc — denn in diese geht die Cilronen-
siiure zunächst ill)cr — ableiten. Z^^ci von ihnen, welchen die Zusam-
nienselzuug €'" H'- O'** und 4^" H'o 912 zukommt, sind bereits näher
untersucht. Unter Bildung chlorhaltiger Producte werden
zersetzt die A e p f e 1 s ü u r e und Chinasäure. Erstere, welche zunächst
in Fumarsäure übergeht, liefert bei höherer Temperatur — bei lüO"
bleibt der grösste Theil der Fumarsäure noch unverändert — eine in
Wasser leicht lösliche chlorhaltige Säure, letztere liefert ausser Hydro-
chinon und zwei l>raunen harzartigen Substanzen ein chlorhaltiges Oel,
das seiner Zusammensetzung nach als ein Abkömmling derCarbolsäure
angesehen werden könnte.
Mit dem Folgenden beginnt die Miltheilung dieser Versuche und
Resultate.
1. Abhandlung.
Ueber die Eiuwirkuug couceutrirter Chlonvasserstoffsäure auf
Weinsäure und Traubensäure in höherer Temperatur.
Von
Dr. H. Biemann.
i. Weinsäure.
Gepulverte, käufliche Weinsäure wurde mit dem dreifachen Volu-
men reiner concentrirter Salzsäure in Röhren eingeschlossen und im
Oelbad von I20"C. an erhitzt. Nach je zehnstündiger Einwirkung
wurde das Oelbad erkalten gelassen und die Röhren geöffnet. Nach
abermaligem Verschluss wurden sie während der gleichen Zeit von
Neuem um 5" höher erhitzt und so fortgefahren. Beim Oeünen der
Röhren zeigte sich je nach den Temperaturen , denen sie ausgesetzt
waren, eine mehr oder minder starke Gasentwickelung, welche nach
dem Erhitzen bei 1 4ü " so stark war, dass beim Oeffnen des Rohrs nur
mit der grössten Vorsicht das Herausschleudern des Inhalts vermieden
werden konnte. Bei 12.'i" beginnt die Zersetzung, von 145** an nimmt
der Druck in den Röhren wieder ab und ist erst bei 180" gleich Null.
Die Gase w urden nach jedesmaligem OefTnen der Röhren unter-
sucht. Sie erwiesen sich als ein Gemisch von Kohlensäure und Kohlen-
oxyd. Kohlensäure wai' stets im Ueberschuss. Nach beendigter Ein-
üanil IV. 2. VJ
290 ", Rioiiiiiiiu.
Wirkung wurde der stark gcbraunlc und eine kohlige Materie führende
Röhreninhalt zur Trockne im Wasserbad gebracht und die wiissrige
Lösung des Rückstands mitThierkohle entfärbt. Die entfärbte und ein-
gedunstete Flüssigkeit ergab nach längerem Stehen über Schwefelsäure
kleine farblose Krystalle. Dieselben lösten sich sehr leicht in Wasser,
auch in Weingeist und Aether. Ihre wässrigc Lösung reagirte stark
sauer und fällte weder Kalksalze, noch Kalkwasser. Der Schmelzpunct
Um bei 1 1 1 *^. Die lufttrockne Säure verlor kein Wasser über Schwefel-
säure.
0,2331 grni. geschmolzene Säure ergaben 0,3873 grni. Kohlen-
säure und 0,1313 grm. Wasser, aus welchen Resultaten sich die Formel
€5 U^ 0« ableitet
€5 = 60
bcr.
45,4
gef.
45,3
H8= 8
6,1
6,2
08 = 64
48,5
132
100,0
Die erhaltenen Krystalle besitzen demnach die Zusammensetzung
und den Schmelzpunct der Pyroweinsäure. Ihre Identität damit wird
durch die daraus erhaltenen Salze erwiesen, welche mit denen von
Arppe ') dargestellten übereinstimmen. Ich habe mir zur besseren Ver-
gleichung der Salze die gleichen aus Pyroweinsäure , welche durch
trockne Destillation erhalten war, dargestellt. Die Darstellung dieser
Säure anlangend erwähne ich, dass man eine grössere Ausbeute erhält,
wenn man die mit Bimsstein gemischte Weinsäure aus dem Oelbad
bei 200 — 210 " langsam destillirt, als wenn man die Destillation über
freiem Feuer ausführt. Ich erhielt an Pyroweinsäure 10 "/o der ange-
wandten Weinsäure (während Arppe nur7"/(, erhielt) und fast gar keine
Brenztraubensäure.
Saures Ammoniaksalz.
Von zwei gleich grossen Mengen Säure wurde -die eine in Wasser
gelöst, mit Anunoniakflüssigkeit genau neutralisirt und der Lösung die
andere Hälfte zugefügt. Das Salz kam beim Verdunsten in schönen,
blättrigen, farblosen Krystallcn. Sie verwittern nicht an der Luft und
verlieren weder über Schwefelsäure noch beim Trocknen bei 100'^
Wasser, lieber J30" erhitzt scheint die Zersetzung zu beginnen.
Das Salz ist also wasserfrei wie das pyroweinsäure Salz.
■I) A. E. Ari'pe, De aciclo pyrotartarico. Specimen acadeniicum. Ilclsitig-
forsiae 1847,
Fiiiwirk. cniif. Salzsiiiirc .ml Wciiisiiiin'. 291
Neutrales ß a r y l s a I z.
Die wässrit^c Lösung der Säure wurde durch längeres Kochen mit
kohlensaurem Baryt neutrulisirt und die lilliiile Lösung zur Krystalli-
sation hingestellt.
Das Salz krystallisirte in kleinen körnigen, glänzenden Krystallen,
welche sich leicht in Wasser, nicht in Alkohol lösten.
0,6520 grm. lul'ttrockne Krystalle verloren nach längerem Stehen
über Schwefelsäure 0,0309 grm. und bis 100'^ erhitzt 0,0506 grm. =
12,2% Wasser. Darüber hinaus bis 200 " erwärmt land kein Gewichts-
verlust mehr statt. Sie hinterliessen nach dem Glühen 0,4165 grm.
BaO, C02 entspr. 0,3235 grm. BaO = 49,6 %.
berechn. gef.
BaO 50,5 49,6
HO 11,9 12,2
Es entsprechen diese Zahlen der Zusammensetzung
2 BaO, €5H6 06 + 4110,
welche auch Arppe gefunden hat.
Saures Barytsalz.
Von 2 gleichen Mengen Säure wurde die eine in Wasser gelöst,
mit kohlensaurem Baryt neutralisirt und der filtrirten Lösung die andere
Portion zugefügt. Das Salz krystallisirt aus der bei gelinder Wärme
ziemliclt weit abgedampften Lösung in warzenförmig gruppirten Kry-
slällchen. Wegen der ganz gleichen Gestalt dieser Kryslalle mit den von
ARrrK erhaltenen habe ich nur eine Barytbestimmung ausgeführt.
0,4515 grm. lufttrocknen Salzes gaben
0,2123 » BaO, CO-, entsprechend
0,1648 » BaO = 36,5%.
berechn. gef.
BaO = 35,14 36,5.
Die von den Krystallwarzen abgegossene Flüssigkeit gab beim wei-
teien Abdunsten über Schwefelsäure krystallinische Krusten, deren
Analyse folgende Zahlen lieferte:
0,1462 grnj. lufttrocknes Salz verloren bei 1 05 ^ 0,0137 grm. und
bei 125 "noch 0,0047 grm., zusammen 0,01 84 grm. = 12,6%, Wasser.
Nach dem Glühen hinlerblieb 0,0630 grm. BaO, CO"^ entspr.
0,0497 grm. BaO = 33,4%.
Danach enthält dieses Salz 3 Mgte. Kr y stall w asser.
her. gef.
HO 11,9 12,6
BaO 33,8 34,0
19*
292 ^'- l^i'"'"'"!'!'
Bei uinoi- jinderoii Darstellung cihiell ielidaduich, dass ich die noch
ziemlicli vcrdiinnlc Salzlösung ohne Anwendung von Wärme, sondern
nur über Schwefelsäure eindunsten Hess, die Kryslallwai-zen gar nicht,
sondern nur krystaliinische Krusten, deren Analyse folgendes Resultat
ergab :
I. 0,3 1 1 5 gnn. lufllr. Substanz verloren bei 1 0o " 0,04oö grm. Wasser?
bei weiterem Erhitzen nichts mehr. Sie lieferten 0,1531 grm.
BaO, SO^^ entspr. 0,1005 grm. BaO = 32,3%.
II. 0,1840 grm. lufttr. Salz gaben beim Glühen 0,0778 grm. BaO,
G02 entspr. 0,0602 grm. BaO = 32,7%.
Es entspricht dies der Zusammensetzung
BaO, ^^H^O^ -t- iHO.
berechn. gel'.
1. 11.
BaO 32,0 32,3 32,7
HO 15,3 14,^6
Demnach existiren also ausser dem von Arppe erhaltenen Barytsalz
mit 2 Mgtn. Ki'ystallwasser noch solche mit 3 und iMgln. Wasser. Ihre
Bildung hängt wahrscheinlich ab von der Temperatur und von derCon-
centration der Lösung.
Neutrales Bleisalz.
Es wurde durch Umsetzung äquivalenter Mengen des neutralen
Natronsalzes mit neutralem essigsaurem Bleioxyd dargestellt. 3 bis 4
Stunden noch dem Mischen der beiden Salzlösungen war das Salz in
farblosen glänzenden Nadeln abgeschieden, genau wie das pyrowein-
saure Bleioxyd von Arppk. Die Krystalle lösen sich in heissem Wasser
und scheiden sich beim Erkalten als solche wieder aus. Weingeist fällt
aus ihrer Lösung, das Salz amorph.
1. 0,7572 grm. lufttrocknes krystallisirles Salz verloren beim Erhitzen
auf 140—145« 0,0733 grm. = 9,7 o/o Wasser und gaben 0,6091
grm. PbO, SOi entspr. 0,4482 grm. PbO = 59,2"/;,.
IL 1,1576grm. des durch Weingeist gefällten lufttrocknen Salzes gaben
0,9440 grm. PbO, SOUmtspr. 0,6947 grm. PbO = 60,0%.
herechu. gef.
i. II.
PbO 60,0 59,2 60,0
HO 9,6 9,7 —
Es hat demnach das Salz auch die gleiche Zusammensol/.ung wie
das \on Arppe untersuchte, nämlich
;>PI»0, CMP'O" -j- 'laii.
Kiiiwirk. coiic. Siil/.siiiin! iiul Triiiibeiisliiirfi. 293
II. T ra ul)cn.sä iiic.
Die Veränderung, welche die Traubensäure erleidet ist der, welche
bei der Weinsäure beobachtet wurde, gleich, nur l)eginnt die Zersetzung
erst bei höherer Temperalur, nämlich 130'*, und ist früher, schon bej
H)0", beendet. Die stärkste Zersetzung findet auch hier zwischen 140
bis läO'^C. statt. Die entwickelten Gase waren auch hier Kohlensäure
und Kohlenoxyd. Nach dem Erhitzen auf 160" wurden dicRöhren ent-
leert, da die Reaction beendet war und der Inhalt wie oben angegeben
behandelt. Es wurden farblose Krystalle erhalten von gleichem Aus-
sehen wie bei der Weinsäure. Ihr Schmelzpunct lag bei 111 — 11 2 f".
0,2117 grm. geschmolzener Säure geben bei der Verbrennung
0,1011 grm. Kohlensäure, entspr. 0,1091 grm. Kohlenstoff = 41,9%
und 0,1 "Vi 9 grm. Wasser, entsprechend 0,01199 grm. Wasserstoff
Das entspricht der Zusammensetzung der Pyrowein^äure , mit
welcher die Krystalle auch in ihren sonstigen Eigenschaften überein-
stimmten.
herechn. gef.
^■^ = 60 4ö,4 44,9
HS = 8 6,1 6,1
0^ = 64 48, ü —
132 100,0
Die Bildung <Jer Pyroweinsäure aus Weinsäure und Traubensäure
durch Einwirkung voa Salzsäure scheint der durch trockne Destillation
analog zu sein ')•
Nach VöLKEL '-) erleidet die Weinsäure bei der trocknen Destillation
zwei von einander unabhängige Zersetzungen
fJMI'Oif' = €2H^0^ -»- €0^ -+- €0-'
und
€^H^Oi" = €'11*0'' -I- €0^
2 CMPO'N = €^H^0^ + €0'
Die erstere Zersetzung scheint bei der Einwirkung von Salzsäure
auf Weinsäure nicht stattzufinden, wenigstens konnte ich keine Essig-
säure beobachten, hingegen wird die Bildung der Pyroweinsäure wohl
nach der zweiten und dritten F\)rmel vor sich gehen. Es gelang mir
1) Diese Aiialoiiie hat Grabe (Annal. il. Cheni. ii. Phanr.. Bd. i39 j). 134
auch für die Salicylsaiiro, Oxybenzoesäure, Paraoxybenzoesäino und Carbohydin-
ohinonsäure hoobachtet.
i> Annal. d Chem. ii. Pharm Md. S9. S. 57.
294 II- Ricmann, Einw. conc. Salzsäure auf Traiibensün re.
indess nicivt, das Zwischenglied, die Brenztraubensäure zu isoliren.
Ich unterbrach einmal die Einwirkung schon bei 140", da es wahr-
scheinlich schien, dass bei dieser Temperatur die Brenztiaubensäure
noch nicht zersetzt sei, dasselbe vielmehr erst zwischen 140 — 145" ge-
schehe, als der Temperatur, bei welcher die grösste Kohlensäureentwicke-
lung beobachtet worden war. Nach dem Abdampfen des Röhreninhalts
erhielt ich aber auch da einen Krystallbrei, der fast nur ausBrenzwein-
säure und unzersetzter Weinsäure bestand.
Die bei längerem Stehen über Schwefelsäure noch vorhandene ge-
ringe Menge einer nicht krystallisirenden , syrupförmigen Substanz,
welche den Brei durchtränkte , kann wohl Brenztraubensäure gewesen
sein. Ihre Menge war aber so unbedeutend, dass eine Trennung und
weitere Untersuchung nicht möglich war.
Das Auftreten von Kohlenoxyd neben Kohlensäure ist wohl durch
eine secundäre Wirkung bedingt , welche auch die Ursache der Ent-
stehung der kohligen Materie sein kann.
Von chlorhaltigen Producten hat sich nirgends etwas wahrnehmen
lassen. Die Einwirkung der Chlorwasserstoffsäure verläuft also anders,
wie die der Bromwasserstoffsäure').
Jena, im März 1868.
4; Vergl. Kekule. Annal tl. Chein. u. Pharm. Bd. 130. p. 30.
i
lieber Reizung der .^liiskelfaser durch den ronstanten Strom.
Von
Dr. Th. W. Engelmann
in Utrecht.
Ein Versuch am Froschsartorius, den ich zur Entscheidung der Frage
nach dem Ort der Reizung in der Muskelfaser bei Schliessung undOeff-
nung eines constnnlen Stromes, im vorigen Jahr anstellte und in dieser
Zeitschrift ') publicirt^, hat Aeby veranlasst, eine längere Untersuchung
über denselben Gegenstand vorzunehmen. Die Resultate seiner Unter-
suchung sind im Archiv für Anatomie und Physiologie von 1867. p. 688
flg. mitgetheilt. Es sei mir erlaubt, zu dieser Arbeit einige Bemerkungen
zu machen.
Der erste Punct betrifft die Beweiskraft meines Versuchs. Aeby ist
durch einiges Nachdenken zu der Ueberzeugung gekommen , dass der-
selbe das nicht beweise, was er solle. Der Versuch um den es sich
handelt, besteht darin , dass ein Froschsartorius frei aufgehängt, nahe
seinem obern Ende, am rechten und linken scharfen Rand, mit zwei
Elektroden berührt und nun durch Schliessen oder Oeffnen einer
schwachen constanten Kette gereizt wird. Es zeigt sich dann, dass der
Muskel bei der Schliessungszuckung concav nach der Seite der nega-
tiven Elektrode, bei der Oeffnungszuckung concav nach der der positiven
sich krümmte.
Aeby meint, hieraus könne man nur folgern, dass bei der Schlies-
sung die an der negativen Elektrode gelegenen Fasern stärker als die
an der positiven gelegnen zuckten.
Ich habe hiergegen nichts einzuwenden. Dass der Versuch in der
erwähnten Form in der That nicht mehr beweisen konnte, das lag so
sehr auf der Hand, dass ich es der Erwähnung nicht für werth hielt und
es war mir um so besser bewusst, als ich nicht durch ein Spiel des
Zufalls, sondern durch Ueberlegung auf den Versuch gekommen war.
1) U.l tu 1867 pau' 445.
296 l'r. Tli. W. Iliioelinrtiin.
Ich miisste den Versuch deshalb modificireii, damit er wirklich den Satz
bewies oder widerlegte, dass Schliessungsreizung nur am negativen,
OeflFnungsreizung nur am posiliNen Pol statthabe. Diese Modification,
welche einfach darin bestand, dass der Muskel der Länge nach in zwei
nur oben zusammenhängende Hälften gespalten ward, von denen nun,
wie sich zeigte, die eine bei Schliessung , die andre bei Oeffnung des
Stromes zuckte , — diese Modificalion des Versuchs , deren strengere
Beweiskraft ich allerdings nicht genug hervorgehoben habe , wird von
Aeby ignorirt. Dasselbe thut Adolf Fick in Canstatts Jahresbericht für
1867 (Abschnitt: physiologische Physik, pag. 9lj. Auch Fick hat nur
den Versuch am ungespaltenen Sarlorius vor Augen, meint aber, die
Krümmung des Muskels könne )>höchslens zeigen, dass die verschie-
denen Fasern desselben Muskels sich nicht gleichzeitig contrahiren,
sondern die, aus denen der Strom in den Draht austritt, zuerst.« Wie
das aus dem Versuch hervorgehen, ja nur wahrscheinhch werden könne,
ist mir nicht verständlich.
Alles was aus dem Versuch geschlossen werden darf, ist, so viel
ich sehe, nur : dass bei Schliessung die Reizung an der Kathode stärker
als an der Anode, bei Oeffnung das Umgekehrte der Fall ist. Dass aber
bei Schliessung eines schwachen Stromes in der That an der positiven
Elektrode keine, bei Oeffnung an der negativen Elektrode keine Erregung
zu Stande kommt, das beweist erst die beschriebene Modificalion des
Versuchs, welche von beiden Forschern nicht berücksichtigt wird.
Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen , gebe ich hier die
Erklärung des Versuchs. Sie setzt nur vpraus, dass man erstens den
Bau des Sartorius, zweitens die Vertheilung des elektrischen Stromes
im Muskel bei der gegebenen Versuchsanorduung, und endlich den Satz
kenne, dass sehr geringe Dichtigkeitsschwankungen des elektrischen
Stromes die Muskelsubstanz nicht mehr erregen.
Ueber den Bau des Sartorius brauchen wir kein Wort zu verlieren,
wohl aber erfordert der zweite in Verband mit dem dritten Punct eine
kurze Betrachtung. In unserm Versuchc^wird der Muskel nur in sehr
geringer Ausdehnung, nämlich an zwei kleinen , einander gegenüber-
liegenden Stellen seiner beiden scharfen Ränder, von den Elektroden
berührt. Hieraus ergibt sich mit Berücksichtigung der Gesetze derStrom-
vertheilung Folgendes. Der Stiom tritt bei Schltessung der Kette mit
grösster Dichtigkeit in die von der A n o d e berührten Fasern e i n und ver-
lässt jede von diesen Fasern mit geringerer Dichtigkeit auf ihrer der nega-
tiven Elektrode zugekehrten Seite, um mit noch etwas geringerer Dich-
tigkeit in die nächsten Muskelfasern einzutreten. Umgekehrt besitzt der
Strom da, wo er aus den von der Kathode berührten Fasern in die
Uober Heizung der MiiskcHiiscr limrli den ciiiistiiiilcii Stioiii. 297
lU'galivo Elektrode oiisti i(l , eine grössere Dichtigkeit als da, wo er in
diese Fasern einlritl. In diejenigen Fasern aber, \velch(> genau in der
Mitle zwischen beiden Electroden liegen, wird der Strom, — vollkom-
mene Synnnelrie der Anordnung, wie sie in unserm Versuch nahezu
hergestellt ist, vorausgesetzt — , mit derselben Dichtigkeit eintreten, mit
der er sie wieder verlässt, und zwar wird der Strom an dieser Stelle
die geringste Dichtigkeit im Muskel haben. Unter allen Umständen wird
also die reizende Stromschwankung am steilsten sein da, wo der Strom
in die von der Anode berührten Fasern eintritt und da wo er aus den
von der Kathode berührten Fasern austritt. An beiden Stellen wird die
Dichtigkeitsschwankung unter den angegebenen Versuchsbedingungen
nahezu gleich gross sein. — Findet nun bei Schliessung eines constanten
elektrischen Slronjcs Erregung sowohl an der Eintrittsstelle desselben
in die Muskelfaser, als an seiner Austrittsstelle statt, so müssen sich so-
wohl die an der Anode wie die an der Kathode gelegenen Muskelfasern
zusammenziehen. Der Versuch lehrt aber, wie wir gesehen, dass nur
die an der Kathode liegenden Fasern bei der Schliessung zucken. Dass
der Versucl» nur bei Anwendung schwacher Ströme gelingt, versteht
sich von selbst. Uebersch reitet die Stromstarke ein gewisses Maass, so
werden beim Schliessen der Kette auch die an der positiven Elektrode
gelegenen Fasern zucken müssen; denn hier ist dann die Dichtigkeits-
schwankung des Stromes auch an den Stellen, wo er aus den von der
Anode berührten Fasern austritt, noch gross genug, um erregend zu
wirken, bnmerhin werden aber diese Fasern schwächer zucken, als die,
welche an der negativen Elektrode liegen. Darum gelingt der Versuch
am ungespaltenen Sartorius innerhalb weiterer Grenzen der Strom-
stärke. Für die Richtigkeit unserer Erklärung spricht, dass man
den Versuch auch in folgender Weise so einrichten kann, dass bei der
Schliessung eines schwachen Stromes nur die an der positiven Elektrode
gelegenen Fasern zucken und erst bei Anwendung stärkerer Ströme
auch die an der negativen Elektrode. Dazu braucht man nur die nega-
ti\e Elektrode mit sehr breitei- Fläche, die positive aber mit scharfer
Spitze an den Muskel anzulegen. Hier ist dann die Dichtigkeit des
Stromes da, wo er aus den von der Anode berührten Muskelfasern aus-
tritt, grösser als an den Stellen, wo er die von der Kathode berührten
Fasern \erlässt. Bei schwachen Strömen geben deshalb allein die an
der positiven Elektrode gelegenen Fasern Schliessungszuckung. ^ In
umgekehrtem Sinn wirkt natürlich Verbreiterung der positiven , bei
spitzer negativerElektrode. — Man stellt diese Versuche am bequemsten
mit den unpolarisirbaren Thonstiefelelektroden von dl Bois an. —
Wir kommen nun zu den Veisuchen . welche Af.bv nnsestellt hat.
298 Dr. Th. W. Kugflmiuiii,
Mit Vergnügen conslatiren wir zuerst, dass Aeby auf anderem Wege
sich davon überzeugt und bewiesen hat, dass bei Schliessung schwachep
Ströme die Erregung nur an der negativen Elektrode, bei Oeffnung nur
an der positiven stattfindet. Die Versuche von Aeby sollen aber noch
mehr beweisen. Sie sollen beweisen, dass bei Schliessung stärkerer
Ströme die Erregung auch an der Eintrittsstelle des Stromes in die
Muskelfaser stattfindet, wenn schon im Allgemeinen schwächer als an
der Austrittsslelle. Es würde demnach nur ein quantitativer Unterschied
zwischen der Grösse der Erregung an den beiden Polen bestehen. —
Eine nähere Betrachtung der AEBv'schen Versuche zeigt indessen , dass
sie diesen Beweis keineswegs liefern.
Aeby suchte zuerst festzustellen, ob »ein Unterschied in der
Stärke der Zuckung vorhanden sei, je nachdem sie im Gebiete des
einen oder des anderen der beiden Pole auftrete.« Er klemmte dazu
die beiden Oberschenkel eines curarisirtcn Frosches, nach Ent-
fernung des grösslen Theils der femora durch eine subcutane Ope-
ration , mittelst des Beckens fest und brachte sie mit den beiden He-
beln eines Myographion in Verbindung. An die unteren Endender beiden
Schenkel wurden die beiden Drähte einer galvanischen Batterie geleitet.
Im Kreis befand sich ein Stromwender. Es zeigte sich nun, dass im
frischen Präparat stets der Schenkel, an dessen unterem Ende der Strom
austrat, bei Schliessung viel stärker als der andere zuckte. Jedenfalls
zuckle auch der Schenkel, durch den der Strom in das Präparat eintrat
und Aeby glaubt hiernach annehmen zu dürfen, dass in diesem Schenkel
die Schliessungsreizung an der positiven Elektrode stattgefunden habe.
Eine sehr einfache Ueberlegung zeigt aber, dass dieser Beweis durchaus
nicht geliefert ist.
Offenbar kommt es für unsere Frage darauf an , zu wissen,
wo der Strom in die zu erregenden Muskelfasern ein- und wo
er aus ihnen austritt. Aeby scheint zu meinen , dass für alle Muskel-
fasern des Präparats der positive Pol an dem unteren Ende des einen,
der negative Pol am unteren Ende des anderen Schenkels liege, Diess
könnte aber offenbar höchstens dann der Fall sein, wenn das Präparat
ein einziger, hufeisenförmiger Muskel wäre, dessen Fasern alle parallel
durch die ganze Länge des Muskels verliefen. In dem AEBY'schen Prä-
parat hat man aber zwei grosse , vollkommen von einander getrennte
Muskelmassen. Der Einfachheit halber können wir, ohne dadurch am
Wesentlichen etwas zu verändern, jeden Schenkel als einen einzigen
Muskel auffassen, dessen Fasern alle parallel durch die ganze Länge des
Muskels gehen. Beide Muskeln sind an ihrem oberen Ende, am Becken,
(IuihIi einen feuchten Leiter von ziemlich grossem Querschnitt verbunden.
Ueber Reizung der Miiskcllaser durch den coiistanten Strom. 299
Offenbar liegt nun für den Schenkel, an dessen unterem Ende der elek-
trische Strom ins Präparat eintritt , die negative Elektrode am obern
Ende, da wo die Fasern am Becken enden. Für den Schenkel aber,
durch den der Strom aus dem Präparat austritt, liegt am Becken die
positive Elektrode. An den unteren Enden beider Schenkel hatte Aeby
die Reizungsdrähte angebracht. Diese Anordnung musste es mit sich
bringen, dass an diesen Stellen die Stromdichte im Präparat am grössten
war. Nahezu am kleinsten wird, des grossen Querschnitts wegen, die
Stromdichte — und demzufolge auch jede Schwankung, derselben —
am Beckenpole jedes Schenkels gewesen sein. Die Resultate der Aeby-
schen Versuche, soweit sie den frischen Muskel betreffen, erklären sich
hiernach vollständig unter der Voraussetzung, dass auch bei Schliessung
stärkerer Ströme die Erregung nur am negativen Pole stattfinde. Denn
dass der Schenkel, an dessen unlerem Ende der positive Strom eintrat,
viel schwächer zucken musste als der andere, ist dann selbstverständ-
lich, weil der Strom da, wo er am Becken aus dem Schenkel austrat,
wo also der negative Pol für die Fasern dieses Schenkels lag , eine viel
geringere Dichtigkeitsschwankung ausführte, als an der Stelle , wo er
aus dem zweiten Schenkel in die Drahtleitung austrat.
Die erwähnten Versuche von Aeby sind also principiell falsch , da
in ihnen irrthümlicherweise vorausgesetzt wird, dass Anode und Ka-
thode für den Muskel da liegen, wo der Strom das Präparat und nicht
da, wo er die Muskelfasern betritt und verlässt. Sorgt man dafür, dass
der Querschnitt der Strombahn, also die Dichtigkeit an der Eintrittsstelle
in die Fasern derselbe sei , wie an der Austrittstelle , dann zucken na-
türlich beide Schenkel sowohl bei Schliessung als beiOeffnung ungefähr
gleichstark. Selbstverständlich ist aber an einem solchen Präparate
unsere Streitfrage nicht zu entscheiden.
Nicht besser steht es mit den anderen Versuchen von Aeby. Um
den Einfluss des Kettenstromes auf die einfache Muskelfaser zu prüfen,
fixirlc er, wie dies v. Bezold früher schon gethan, die Mitte des Sarto-
rius durch Einklemmen und brachte an die Enden des Muskels die Lei-
tungsdrähte der Kelle. «Bei dieser Anordnung bildete der JVIuskel in
seiner ganzen Länge die intrapolare Strecke; in ihrer Bewegung war
diese vollkommen frei, nur dass durch die Klemme die Verschmelzung
der Zuckung der einen Hälfte mit derjenigen der andern verhindert
wurde.« »Aus verschiedenen Grünilen erschien es zweckmässig, blos
die eine Muskelhälfte zum Aufschreiben zu verwenden und ihr ver-
millelst des Gyrotrops abwechselnd die positive und die negative Elek-
tricität zuzuleiten. Der Erf«lg entsprach auch hier vollständig den Er-
warlunt'en. Bei derSchliessuui'szuckung entwickelte im fiischen Muskel
300 l'i. Tli. W. Iliiiieliiiuiiii.
der negative Pol ausnahmslos eine viel ij;rössore Energie als der po-
sitive.«
Wie aus diesem Versuch lieixoigehen soll, dass am positiven Pol
Schliessungserregung, wenngleich in geringerem Grade als an der ne-
gativen Elektrode stattgefunden habe , ist vollkommen unbegreiflich-
Denn lag die positive Elektrode am unteren Ende der schreibenden
Muskelhälfte, so musste natürlich letztere bei der Schliessung auch
zucken, wenn, wie ich annehme, die Erregung am negativen Pol statt-
fand, der jenseits der eingeklenunten Stelle lag. Die Zuckung musste
aber schwacher sein, weil die Erregung sich durch die eingeklemmte
und dadurch offenbar alterirte Stelle fortpilanzen musste. — Vielleicht war
aber der Muskel an der geklemmten Stelle todlgequetschl. Dann konnte
natürlich eine in der oberen Muskclhiilftc staltfindende Erregung sich
nicht bis in das schreibende Muskcislück fortpflanzen. Oflenbar wird
aber, sowie die geklemmte Stelle zer(|uetscht und dadurch in einen ein-
fachen Leiter der Elektricität verwandelt wird, an dieser Stelle die eine
Elektrode für das zeichnende Muskelstück, liegen. Hier besass aber der
Strom, wegen des grösseren Querschnitts, eine geringere Dichtigkeit,
als am unteren Ende, wo der Leitungsdiaht den Muskel berührte und
dann war dies der Giund, weshalb die Zuckung schwacher ausfiel,
wenn die positive Elektrode an dem unteren Ende lag'). Auch in
diesem Falle ist also dieser Versuch von Akuy principiell falsch.
In einem andern , auf pag. 699 beschriebenen Versuche vermied
Akby die Einklenunung und hing den zeichnenden Apparat an einei'
(|uer durch die Mitte des Muskels gestochenen Nadel auf, während alles
Uebrige unverändert blieb. Es ergab sich dasselbe Resultat. — Ich
muss fürchten, den Veisuch falsch zu verstehen , denn ich sehe aus dei-
kurzen Schilderung desselben nicht, wie er in unserer Frage etwas ent-
scheiden kann. Jedenfalls ist er unbrauchbai', da auch in ihm nicht
Rücksicht genommen ist auf den Einfluss der Stromdichte auf die Grösse
der Erregung. Dasselbe gilt von den auf pag. 701 beschriebenen Ver-
suchen und von den Versuchen am Gaslrocnemius (pag. 703 flg.). Hier
werden wiederum die Stellen , wo dei- Strom aus der Drahtleitung in
denGastrocnemius eintritt oder aus ihm in den Draht austritt, fälschlich
für die .\node und Kathode allei- Muskelfasern angesehen und auf Grund
1) Hieraus erkliircD sich auch die von Atitv au demselben Präparate gefun-
denen Thatsachen über den Eintluss verstiiiedener Stromstärken , vor allem die
Thatsache, dass, nach der Ausdrucksweise von Aebv, bei Zunahme der Strom-
stiirkc sicli der Gegensalz zwischen positisem und uegaliviMii Poh- inimei mehr
\er\visrhl.
Pchpr Roiziiiiü (Irr Miiskcitiiscr dnirb di'ii rnnsliinton Strom. ;*ül
dieses MissNersliiiulnisses eine Ueiiie unriehliiiei' Belr;iclilun!^en niiijc-
stcllt, die einzeln zu \viderlec;en wir uns ersparen können.
Endlich hat Aeby noch zeitmessende Versuche angestellt. Die einen
dieser Versuche wurden an dem oben beschriebenen Präparate ange-
stelh, welches aus zwei durch das Becken verbundenen Oberschenkeln
bestand. Es zeigte sich, wie nach dem oben Gesagten auch gar nicht
anders zu erwarten war. dass beide Schenkel genau gleichzeitig zu zucken
begannen. — Eine zweite Reihe von zeitmessenden Versuchen wurde
im Wesentlichen nach der BEzoLDschen Methode angestellt. Doch be-
nutzte Aeby statt eines Muskels zwei : es waren die Adductoren des
Frosches oder die Schultorblattheber dos Kaninchens. Sie wurden >^frei
präparirt und vermittelst des zwischen ihnen liegenden Skeletab-
schnittes durch eine Klemme befestigt. Jedem der beiden Muskeln
wurde einer derMyographionhebel angehängt und am freien Ende einer
der Leitungsdrähte zugeführt Dadurch wurde das untere Ende des
einen Muskels positiv, das des andern negativ, während das obereEnde
natürlich entgegengesetzte Verhältnisse darbot.« Hier verwechselt also
Aeby die Pole des Präparates nicht mehr, wie in den früheren und den
eben vorausgegangenen Versuchen , mit den Polen der Muskelfasern.
Beide Möskeln wurden durch eine Klemme dergestalt in zwei Hälften
zerlegt, dass nur die untere Hälfte ihre Thätigkeit auf den Apparat zu
übertragen vermochte. Aus leicht ersichtlichen Gründen musste sich
nun ein zeitlicher Unterschied im Anfang der Zuckungen beider zeich-
nenden Muskelhälften ergeben, wenn bei Schliessung und Oeffnung des
Stromes die Reizung nur an einem Pole stattfand. »Das Resultat war
in zahlreichen Versuchen ein durchaus constantes. Bei keiner Reizungs-
grösse Hess auch nur der geringste Unterschied in dem zeitlichen Beginn
der beiden Zuckungen sich wahrnehmen.« -^ Wir heben zunächst her-
vor, dass dieser letzte Satz mit Aeby's eigenen Angaben in Widerspruch
steht. Denn Aeby gibt selbst zu , dass bei schwächeren Strömen die
Schliessungserregung nur von der negativen Elektrode ausgehe. Er
hätte also wenigstens bei kleineren «Reizungsgrössen« einen zeitlichen
Unterschied wahrnehnien müssen. Vielleicht war aber auch in diesen
Versuchen der Muskel an der eingeklemmten Stelle todtgequetscht und
damit dei" obere Pol jedes Muskels vom Becken nach der Klemme ver-
legt. Auch wepn nur ein Theil dei- Fasern durch die Klemme todtge-
quetscht war, musste für diese Fasern w enigstens der obere Pol an der
Klemme liegen, und es hing von der Grösse der reizenden Dichtigkeits-
schwankung des Stromes an dieser Stelle ab, ob hier Erregung statt-
fand. Falls die Fasern aber hier erregt wurden , mussten natürlich
beide Schreibhebel .^ich gleiclizeitig zu IioIxmi beginnen. — Man könnte
3()2 Dr. Tli. W. Kiiuelmrtiiii.
.nuch (hnvin denken, dass dielVIuskeln nicht stark genug mit Curare ver-
giftet waren, um so mehr, als Aeby von der, allerdings selbstverständ-
lichen Vergiftung nichts erwähnt. Wie dem auch sei, wir sehen, dass
auch durch diese Versuche der Beweis nicht streng geliefert ist, den
Akby geben wollte, und dass ihre Resultate ebenso wie die der anderen,
auf falschen Voraussetzungen fussenden Experimente von Aeby sich
unter der Annahme erklären lassen, dass im frischen Muskel die Schlies-
sungserregung nur an der negativen, die OefFnungserregung — von der
wir, da sich alles darauf Bezügliche von selbst ergibt, nicht weiter ge-
redet haben — nur an der positiven Elektrode stattfinde i). — Die
Frage, wie sich beim ermüdeten und absterbenden Muskel diese Ver-
hältnisse ändern, muss weiteren Untersuchungen zugewiesen werden.
Es bleibt uns nur noch Übrig, einige neue Versuche zum Beweise
des von uns vertheidigten Satzes mitzutheilen. Das Princip dieser Ver-
suche ist nicht neu. Es ist im Wesentlichen dasselbe, welches von Be-
zoLD zur Entscheidung unserer Frage angewendet wurde. Doch brauch-
ten wir nicht das HELMHOLxz'sche Myographien , sondern ein gewöhn-
liches Kymographion in Verband mit der Stimmgabel als Chronoskop.
Beifolgender Holzschnitt wird die Versuchsanordnung am Besten er-
läutern.
Fig. 1.
1) Die Versuche vonCHAuvEAu, auf welche Aeby anspielt, .waren mir unbe-
kannt geblieben und erst Herr Chauveau selbst machte mich bei seinem Besuch
in Utrecht im September 1867 auf sie aufmerksam, als ich ihm meinen Sarlorius-
versuch zeigte. Die CHAuvEAu'schcn Versuche, unter denen mehrere sehr instruc-
tive si(;h befinden, leiden an denselben principiellen Fehlern wie die von Aeby: kein
einziger von ihnen beweist, dass bei starken^Strömen die Schliessungserregung
(luch an der Eintrittsstelle des Stroms in die Muskel- oder Nervenfaser statthabe.
lieber Kpjziiiiii dfi Muskt'llasci (IiiitIi iIph ( oiislaiiteii Strom. 303
CC ist der mil oinoiu herusston Pa|)ierI)üü;on überzogene Cyliiuler
(los Kyniographions. Der Cyliiuler ist ausser Verband mit dem Uhr-
werk gesetzt und kann mitderlland gedreht werden. Auf der berussten
Papierlliiche werden von drei feinen Spitzen dicht Übereinander drei
Curven gezeichnet. Die oberste Spitze gehört zum Muskel hebel h und
verzeichnet die Zuckungscurve. Auf der n)illleren Curve, zum Inter-
ruptor / gehörig, wird der Moment der Reizung verzeichnet. Die untere
Feder, an einem Arm der Stimmgabel .<; befestigt, regislrirl die Zeit.
Die Reizung geschieht in folgender Weise. Von der Kette A führt
ein dicker, kurzer Kupferdraht zur Säule a eines Unterbrechers, wiesle
an den Schliltenapparaten von di' Bois sich befinden. Von hier geht
der Strom durch die Feder / nach der Platinspitze 6 und von da durch
einen dicken, kurzen Kupferdraht nach dem Quecksilbernäpfchen c, von
wo der Strom nach der Kette zurückkehrt. Der Strom kann nur bei
b unterbrochen werden, indem die Feder i niedergedrückt wird. Dies
kann in bekannter Weise geschehen , indem man das weiche Eisen m
durch den Strom einer starken Kette magnetisch macht. Es genügt aber
auch, die Feder i mit dem Finger oder einem Stäbchen rasch nach unten
zu drücken. Im Moment, wo dies geschieht, und damit der Contact von
6 und « aufhört , ergiesst sich der Strom in die Nebenschliessung , in
welcher sich der Muskel befindet. Der Strom geht dann von a durch
die Wippe IV zum MuskclJ/, durchfliesst diesen in seiner ganzen Länge,
geht zurück zur Wippe und durch das Quecksilbernäpfchen wieder
zur Kette. Der Muskel M, der Sarlorius eines mit starker Dosis Curare
vergifteten Frosches — wird am oberen F^nde (/ durch die breite Kloiimio
meines Muskclhalters ') fixirt. An einer bestimmten Stelle seiner Länge
wird er durch die schmale Klemme A' desselben Instrumentes vorsichtig
soweit eingeklemmt, dass bei alleiniger Zuckung des oberen Muskel-
slücks der Hebel h sich nicht bewegen, die Erregung sich aber durch
die eingeklemmte Stelle fortpflanzen kann. Das untere Muskelstück zieht
an einem leichten Schreibhebcl von Holz, der sich bei x um eine feste
horizontale Axe dreht. -Ein dünner Kaulschukslreifen, der dicht bei x
cjuer über den Hebel ausgespannt wird, in der Figur aber nicht ange-
deutet ist, sucht den Hebel nach abwärts zu drücken und erlaubt so,
das schreibende Muskelstück durch Heben oder Senken der Klemme k
bis auf seine normale Lance auszudehnen.
1) Eine Beschreibung undAbbildung dieses kleinen Fnsliunnentes findet sich in
dei- Arbeit von Dr. T. Place, de contracticgolt der willekeurige spiercn. Nederl.
Ar Chief voorgenees-ennaluurk. D. III. 1867. p. 239. — S. auch . Onder-
zockingen, gedaan in hei physiologisch laboratorium der ülrecht'sche hoogeschool.
1867—68.
304 "i- "i« ^^- l'.nat-'liiiiiiiii.
Vor Beginn des Versuchs sorgt man, class die drei schreibenden
Spitzen hei rahendem Cylinder genau in einer vertikalen Linie über-
einander stehen. Ist dies der Fall, so wird die Stimmgabel, durch
rasches Hervorziehen eines zwischen ihre Arme geklemmten Holzklötz-
chens, in Schwingung versetzt, der Cylinder rasch um etwa 90 bis 180''
gedreht und während der Bewegung des Cylinders der Strom bei b
unterbrochen. Nun wird die Wippe umgelegt, Stimmgabel und Cylinder
wieder in Bewegung versetzt und die Feder i wieder niedergedrückt.
Man erhält so, rasch nach einander, zwei Zuckungscurven. Bei der zweiten
Reizung fliesst der Strom in entgegengesetzter Richtung als bei der
ersten durch den Muskel. Findet nun die Erregung bei Schliessung des
Stromes auf der ganzen intrapolaren Strecke statt, so muss in beiden
Fällen die Zeit zwischen Moment der Reizung und Beginn der Zuckung
des schreibenden Muskelstücks gleichlang sein, nicht aber, wenn die
Erregung nur von einem Pole ausgeht. Liegt der positive Pol am un-
teren Ende des zeichnenden Muskelstücks, dann muss die Schliessungs-
zuckung selbstverständlich später kommen, wenn die Erregung nur am
negativen Pol geschieht. Denn sie muss sich dann durch die ganze
Länge des zwischen den Klemmen befindlichen Stückes und durch die
untere Klemmstelle selbst fortpflanzen, ehe sie zum schreibenden Muskel-
slück kommt.
Die Versuche, welche ich hierüber angestellt habe, beweisen, dass
selbst bei Schliessung starker Ströme die Erregung in der frischen
Muskelfaser nur an der negativen Elektrode geschieht. Zum Beweise
dafür habe ich hier die Anfangsstücke von vierCurven abdrucken lassen,
welche von ein und demselben Sartorius rasch nach einander gezeichnet
sind. Der erregende Strom ward von drei hinter einander verbundenen
kräftigen DxNiELL'schen Zellen geliefert, und gab maximale Schliessungs-
zuckung. Das zwischen den Klemmen befindliche Stück war 7 Mm.
lang. Bei der ersten und dritten Reizung lag die positive Elektrode, bei
den beiden anderen Reizungen die negative Elelitrode am unteren Ende
des schreibenden Muskelstücks. Die Stimmgabel machte 250 Schwin-
gungen in der Secunde.
Was lehren nun die Curven ? Bei Curve 1. liegen zwischen Mo-
ment der Reizung und Beginn der Zuckung 5.7 Stimmgabelschwingungen
= 0.023 Secunden, bei Curve IL nur 4. 3 == 0.017 Secunden, bei Curve
Hl. 6.5 = 0.026 Secunden, bei IV. wieder nin- 1.3 = 0.017 Se-
cunden. — Diese Zahlen bestätigen vollkommen das von uns ver-
theidigte Gesetz. Denn wenn in Curxc 1. die Erregung, wie wir an-
nehmen, am oberen Ende des nicht schreibenden Muskelstücks stattfand,
Ijpber Reizniif!,' der Miiskcitiisn ilmcli den (■(iiistiUitiMi Sliniii.
305
diinn niussto sio ein 7 Mm. langes
Muskelslüek durchlaufen , bevor sie
sich am Hebel verrathen konnte. In
der That beginnt die Zuckung in 1. um
D.OOfiSecunden später als inCurvell.,
wo die Reizung nach unserer Vorstel-
Uing allein von dem unteren Ende des
schreii)enden Muskelstiicks ausging';.
In Curve 111., wo die Rei/Aing wieder
am oberen Ende des nicht zeichnenden
Muskelabschnilts geschah , dauert es
noch 0.003 Secunden länger als bei 1.,
also 0.009 Secunden länger als bei IL,
ehe die Zuckung beginnt. Diese grös-
sere Verzögerung ist offenbar den Ver-
änderungen des Muskels an der ein-
geklemmten Stelle k zuzuschreiben.
In Folge der fortdauernden Quetschung
wird das Leitungsvermögen für die
Erregung an der geklennnten Stolle
verschlechtert: die Erregung braucht
längere Zeit um sich durch eine ge-
quetschte, als um sich durch eine gleich Pi,, .,
lange, normale Muskelstrecke hindurch
fortzupflanzen. In IV. dagegen beginnt die Zuckung wieder, wie in II.,
0.017 Secunden nach der Reizung: denn hier, wo die Erregung, nach
unserer Annahme, wieder am unteren Ende des schreibenden Muskel-
stücks stattfand, konnte sich der schädliche Einfluss der Klemmstelle
nicht mehr äussern.
Wir lassen uns an diesem einen Beispiel, dem wir leicht weitere
beifügen könnten genügen. Was unser Versuch am gespaltenen Sarto-
rius für schwache Ströme bewies, gilt nach diesen zeitmessenden Ver-
suchen auch für starke Ströme. Wir halten den Satz, dass im frischen
Muskel Schliessungserregung nur am negativen, Oeffnungserregung nur
am positiven Pole stattfinde, um so strenger aufrecht, als es immer wahr-
scheinlicher wird, dass dieser Satz nur ein specieller Fall eines allge-
1) Aus der Zeit von 0.006 Secunden ergibt sich zugleich die Fortpflanzungä"
geschwindigkeil der Erregung im Muskel, unter den geschilderten Versuchshedin-
gungen zu 1.17 Meter in der.Scoundc. Diess stimmt mit den Angaben vouAehv und
V. Bezoli) gn( ül)eiPin.
Ba.iil l\. 2. iO
306 Dr- Th. W. Engelmanii, lieber Reiz. d. Muskelfaser etc.
meinen Gesetzes ist, welches für alle reizbaren Elemente den Ort der
Schliessungs- und Oeffnungserregung an die Ein- und Austrittsslelle
des Stroms verlegt. Wir erinnern hier an die Beobachtungen von Kühne i)
über den Einfluss constanter Ströme auf gewisse Protoplasmakörper
(Actinophrys z. B.), und fügen hinzu, dass auch für die Flimmerzellen
einige Thatsachen, die neuerdings -) an das Licht gekommen sind , es
in hohem Grade wahrscheinlich machen, dass diese Elemente demselben
Gesetz gehorchen. Schickt man nämlich durch Flimmerzellen einen
Constanten Strom, so beschleunigt sich bei der Schliessung und bei der
Oeffnung des Stroms die Bewegung der Cilien. Schliesst man nun un-
mittelbar nach der Oeffnung den Strom in umgekehrter Bichtung durch
die Zellen, so beschleunigt sich die Bewegung viel stärker als wenn man
den Strom in der gleichen Richtung wie vorher wieder schliesst. Diese
Thatsache erklärt sich sehr einfach, wenn man annimmt, dass jede Zelle
da, wo der Strom in sie eintritt , in einen Zustand von herabgesetzter
Erregbarkeit (Anelektrotonus) , da wo er sie verlässt, in einen Zustand
erhöhter Erregbarkeit (Katelektrotonus) versetzt wird ^), und wenn man
weiter annimmt, dass die Schliessungserregung auf dem Entslehen des
Katelektrotonus , die Oeffnungserregung auf dem Verschwinden des
Anelektrotonus beruhe.
Da es jetzt möglich ist ^), unter den verschiedensten Bedingungen
am Mikroskop mit unpolarisirbaren Elektroden zu reizen, würde es eine
lohnende und nicht schwere Aufgabe sein , auch andere reizbare Ele-
mentarorganismen der Untersuchung zu unterwerfen.
1) Unleisuchungen über das Protoplasma und die Contractilität. 1864.
2) Over de trilbeweging. II. In Nedeil. Archief voor genees-en natuurk. D.
IV. 1868. p. 107 flgde.
3) Natürlich könnte auch die Rolle der Pole die umgekehrte sein.
4) Vergl. Centralblatt f. d. med. Wiss. 1868. Nr. 23. — Over de trilbeweging.
In: Nederl. archief voon genees-en natuurk. D. III. 1867. p. 307. — Ibid. D. IV-
1868. p. 60 flgde.
Zur Lehre von der iXerveiidiguiig hn Muskel.
Von
Dr. Th. W. Engelmann
in Utrecht.
Vor einigen Jahren ') machte ich darauf aufmerksam, dass gewisse
Muskeln der Kiifor Trichodes apiarius und alvearius Nervenendplatten
von übeiraschendcr Grösse und Zahl besitzen, und dass man an diesen
mit grösster Leichtigkeit den Uebergang des Neurilemms ins Sarkolemm,
d. h. die intramusculäro Lage der Endplatte demonstriren könne. Da
die genannten Küfer aber nicht überall leicht zu beschaffen sind , halte
ich es der Mühe nicht für unwerth , hier auf andere Objecte die Auf-
merksan)keit zu lenken, welche die erwähnten Verhältnisse wenigstens
ebensogut zeigen und zugleich vom Frühling bis zum Herbst überall in
Menge zu haben sind. Es sind die Raupen vieler Schmetterlinge , so-
wohl die von Tag- und Nachtfaltern als die von Mikrolepidoptern. Fast
alle Arten von Raupen sind günstige Objecte ; bei weitem am besten
scheinen aber die glatten, unbehaarten Raupen kleinerer Nachtschmel-
terlinge (Noctua und viele andere Gattungen) zu sein. Hier sind die
Endplatten an der ganzen Rumpf- und Extremitätenmusculatur enorm
entwickelt. Die einfachste Art, ein gutes Präparat zu bekommen, be-
steht darin, dass man der Raupe ein Bein (am besten eins der stumpfen
Hinterbeine) abschneidet und dasselbe in einem Tropfen Kochsalzlösung
von I — i,ö"/„ nut zwei Nadeln in kleine Stückchen zerzupft. Bringt man
das Präparat nun unter das Mikroskop, so sieht man sogleich die quer-
gestreiften Muskelfasern, die nur von ihren Nerven , hie und da auch
von Trachoenästchen zusammengehalten werden. Nicht selten ist das
Erste, was man sieht, ein prächtiger Nervenhügel ; immer aber findet
man wenigstens nach kurzem Suchen dann eine grosse Anzahl von
Nervenhügeln in den verschiedensten Lagen, darunter stets gute Flachen-
1) Vergl. diese Zeit soll ritt isfit Bd. I. p. 321.
20 *
308 Hr. Tli. W. Kiioeliniuin,
und Profilansichten. Da das Anfertigen des Präparats bei einiger
Uebung nicht mehr als 10 bis 15 Secunden Zeit nimmt, bekommt man
Nervenhiigel immer zur Ansicht, wenn die Muskelfasern noch zucken,
oder wenigstens zuckungsfahig sind. Dieser Umstand in Verband mit
der ausserordentlichen Grösse der intramusculären Nervendigung machen
unser Objeel besonders geeignet zu Reizversuchen. Wir finden vielleicht
später Gelegenheit, hierüber Einiges mitzutheilen. Hier möge nur eini-
ger anatomischer Verhältnisse Erwähnung geschehen.
Wenn es gleich der Mühe nicht mehr werth erscheint, neue Be-
weise für die intrau)usculäre Lage der Nervenendigung beizubringen,
möchte doch der folgende Versuch, der diesen Beweis in einer beson-
ders sprechenden Weise führt, Mittheilung verdienen. Untersucht man
ein auf die eben geschilderte Weise hergestelltes Präparat von Raupen-
nmskeln, so findet man stets eine Anzahl Muskelfasern, welche nur an
einem Ende noch auf der chitinisirten Grundlage festsitzen, mit dem
andern Ende aber, das durch Schneiden oder Reissen geöffnet ist, frei
in die Flüssigkeit hineinragen. Der Inhalt dieser Muskelfasern ist meist
geronnen. Man sieht den Gerinnungsprocess von der Rissstelle aus nach
dem andern Ende der Muskelfaser zu fortschreiten. Zum Versuch wählt
man eine dieser Fasern, welche einen Nervenhügel im Profil zeigt, und
bringt diesen in den Focus des Mikroskops. Nun lässt man plötzlich
einen starken Strom Salzsäure von 0,1 ^o unter das Deckglas fliessen.
Im Moment, wo die Salzsäure die Muskelfaser erreicht, erblasst diese
(nachdem sie vorher durch Gerinnung dunkler geworden war), schwillt
ungemein stark auf, der ganze Inhalt des Muskelrohrs strömt aus dem
offnen Ende des Sarkolemraaschlauchs und reisst die Endplatte mit sich
heraus. Nach einigen Secunden liegt der ganze Muskelinhall, ein quer-
gestreifter gesch\^ ollner Cylinder vor der Oeffnung des leer zurück-
bleibenden Sarkolennnaschlauchs ; auf dem ausgeflossenen Cylinder reitet
die gleichfalls etwas geschwollene und erblasste Endplatte. Zuweilen
sitzt an dieser noch ein Stück der Nervenfaser an, das durch die Gewalt
des Stroms aus seiner Scheide herausgerissen ward und nun gleichfalls
den Weg durchs Muskelrohr machte. Besessen die Flüssigkeilen die
richtige Goncentration, so erfolgt das Ausfliessen des Muskelinhalts und
der Endplatte so rapid, dass man an das Abschiessen eines Geschützes
erinnert wird. In andern Fällen, besonders wenn die Säure ein wei.ig
zu stark ist, strömt der Inhalt langsamer aus. Man kann dann oft den
ganzen Process, vom Losreissen der Endplatte von ihrem Nerven an
bis zum Austritt derselben aus dem offnen Muskelrohr verfolgen. An-
fangs wird die Endplatte durch den stärker schwellenden Muskelinhalt
etwas abgej)lattet und gegen die Hügelmembran angedrückt. Ist die
Zur f. ehrt' vnii Hör Ncwnidiiriinu im Muskel. 300
Nervenfaser tjeradc an der EinlriUsslello in den Hiii^el abgerissen und
hierdurch in der llUgehncinhran ein Loch onlslanden, so kann einThei'
der EndphUte durdi dieses Loch ausgetrieben werden, ja, wenn das
Muskelrohr an beiden Enden geschlossen ist oder nur einen kleinen
Riss besitzt, kann es geschehen, dass die gesaniinte Endplatte und hinter
ihr her ein grosser Theil derMuskelsubstan/ durcii das Loch im Nerven-
hügel heraustritt. Gewöhnlich reisst aber der Nerv in einiger Entfer-
nung vom Nervenhügel ab und dann vermögen die elastischen Kräfte
desSarkolemms bei geschlossenem Muskelrohr nicht, den geschwollenen
Inhalt der Faser durch die enge Nervenröhre herauszutreiben. DieEnd-
plalle wird dann nur an die Hügelmembran angcpresst. Wenn aber
die Muskelfaser am einen Ende offen ist, beginnt der Muskelinhalt lang-
sam auszullicssen. Die fliessende Masse zerrt an der Endplalte und
sucht sie mit sich zu nehmen. Die Platte wird dadurch gedehnt und
i-eissl endlich ab, entweder oben an der Eintrittsstelle des Nerven, oder
unten, wo sie auf dem Muskehnhalt aufliegt. Zuweilen reisst sie auch
mehr in der Mitte durch. Reisst sie vom Nerven ab, so sieht man sie
sogleich aus dem Nervenhügel in das Muskelrohr und hier dicht unter
dem Sarkolemm hingleiten , bis sie zum offnen Ende des Sarkolemma-
schlauchs heraustritt. — Fliesst der Muskelinhalt sehr langsam aus,
dann bleibt die Endplatte in derRegel am Nerven hängen und tritt nicht
aus dem Nervenhügel heraus. — Der Sarkolemmaschlauch zieht sich,
indem der gequollene Muskelinhalt herausfliesst, vermöge seiner Elasti-
cität stark zusammen und bildet dann eine ziemlich dicke, glashelle,
gefaltete Röhre, deren offene Communication mit dem gleichfalls dicken
Nervenrohr, selbst bei ganz schwachen Vergrösserungen, (^^Yi)' ^^^
l'rofilansichten in unübertrefflicher Klarheit zu übersehen ist. Kommt
es blos darauf an, zu zeigen, dass die Membran des Nervenhügels und
die Nervenscheide gleichsam nur Ausstülpungen des Sarkolemms sind,
so nimmt man statt der Salzsäure verdünnte Kalilauge. Hier bleiben
mir die leeren Scheiden zurück. Leicht würden sich von solchen Prä-
paraten überzeugende Photographien anfertigen lassen.
Beim Herstellen des Präparats , durch Zerzupfen mit Nadeln , ge-
schieht es zuweilen, dass der ganze Nervenhügel von der Muskelfaser
abreisst und wie eine Glocke am Endo der Nervenfaser ansitzt. Hier ist
das Sarkolemm also in dem Umfang durchgerissen, wo es zur Membran
des Nervenhügels wird. Wenn man sieht, dass so etwas selbst bei einer
so dicken Haut wie dem Sarkolemm der Raupenmuskeln geschehen
kann, wird man sich nicht wundern, wenn dasselbe auch bei Wirbel-
thiermuskeln zuvveilen vorkommt ; man wird sich dadurch aber nicht
310 Pi- Tli. W. Riifft'lmiimi.
wie ein neuerer Schriflsleller zu der Annahme verleiten lassen , dass
der Nervenhügel blos aussen auf das Sarkolemm aufgeklebt sei. Dass
auch die Endpialtcn der Reptilien , Vögel und Säugethiere unter dem
Sarkolemm liegen, davon wird man sich allmähhch allgemein überzeu-
gen, wenn man ganz frische, möglichst gut isolirte Muskelfasern unter-
sucht oder sie wenigstens nicht mit Flüssigkeiten behandelt, die den
Muskelinhalt fest und dunkel und damit scharfe Contouren machen, wo
während des Lebens keine sind.
Ein zweiter Punct , der hier noch zur Sprache kommen soll , ist
der feinere Bau des Nervenhügels. Wir alle hatten, von der ganz ab-
weichenden Auffassung Krause's abgesehen , bei der ersten Unter-
suchung angenommen, dass dieEndplatte, eine protoplasmaartige Masse,
die unmittelbare Verbreiterung des Axencylinders sei. Erst Kühne
fand bei wiederholter Untersuchung, dass man an der Endplatte zweierlei
unterscheiden könne : eine verästelte , oft netz- oder plattenförmige
Ausbreitung des Axencylinders und eine granulirte, gleichsam als Sohle
für diese dienende Masse mit Kernen.
Nur wenige Beobachter haben seitdem ihre Aufmerksamkeit dieser
Ausbreitung des Axencylinders im Protoplasma des Nervenhügels zuge-
wandt. Einzelne scheinen sie gar nicht gefunden zu haben, andere wie
RouGET und KöLLiKER erklären sie für ein Kunstproduct. Ich kann mich
in dieser Frage nur auf Seite Kühne's stellen. Am besten eignen sich
die grossen Nervenhügel der Schlangen und Eidechsen zu einer ent-
scheidenden Untersuchung. An ganz frischen Muskelfasern eben ge-
tödteter Thiere sieht man indessen — worin ich im Widerspruch mit
Kühne bin — bei keiner Art der Beleuchtung die Verästelung des Axen-
cylinders im Nervenhügel deutlich , mag man auch die stärksten Im-
mersionssysteme gebrauchen. Zuweilen nur erkennt man die erste Gabel-
theilung des Axencylinders in der Nähe der Eintrittsstelle ; der übrige
Inhalt des Hügels erscheint matt, kaum körnig. Darin liegen einige
mattglänzende, ellipsoidische Bläschen mit centralem Kernkörperchen,
die Kerne des Protoplasma und in der Membran des Nervenhügels
einige kleinere, ebenfalls matte Kerne, in der Regel ohne Kernkörper-
chen. Nach einiger Zeit, oft erst nach Stunden tritt die baumförmige
Ausbreitung des Axencylinders im Hügel deutlicher hervor; sie erscheint
anfangs ohne Varicositäten und Ausbuchtungen, nur als ein mati glän-
zendes Astwerk üichotoniisch vertheilter Streifen von ziemlich ver-
schlungenem Verlauf, die sich rückwärts bis in den Axencylinder der
markhaltigen Nervenfaser verfolgen lassen. Nach dem Ende zu werden
sie feiner und scheinen ohne Grenze in das Protoplasma des Hügelsi
überzugehen. Wartet man noch länger, dann verlieren die blassen
Zur I/Cliic von der Ncivnijiiüiinii; im Muskel. 31 1
Fasern ihre parallelen Conlouien , schnüren sich vielfach ein, liildcn
später Tropfen, auch Schleifen und dann ähnelt das Bild im Neiven-
hUgel einer vielfach durchbrochenen und ausgebuchtelen Platte. In
diesem Zustand ist das ganze Gebilde am Deutlichsten. Lässt man eine
Schlange (Tröpidonotus natrix) oder Eidechse, nachdem man sie durch
Zerstörung des Gehirns getödlet hat, einen Tag lang liegen , so zeigen
dann fast alle Nervenhügel, wenn man sie in Kochsalz von 0,5% unter-
sucht, die Ausbreitung des Axencylinders in der letzterwähnten Form.
Später unterliegt die letztere noch weiteren Veränderungen : die Fasern
schnüren sich mehr und mehr ein und zerfallen e'ndlich in einen Haufen
Tropfen, aus dem die ursprüngliche Form des Organs nicht mehrheraus-
zikennen ist. Diese Tropfen können auch unter sich wieder zum Theil
verschmelzen und grössere Vacuolen bilden. — Nach der Untersu-
chung möglichst frischer Präparate kommt es mir demnach nicht wahr-
scieinlich vor, dass die Ausbreitung des Axencylinders jemals die
Form einer durchbrochenen ausgebuchteten Platte besitze ; ich halte
diese Form für ein Kunstproduct, entstanden aus theilweiser Ver-
klebung , Verschmelzung und Abschnürung einzelner Zweige der
baumartigen Verästelung des Axencylinders. Diese Zweige gehen
wahrscheinlich ohne Grenze in das Protoplasma des Hügels über; doch
lässt sich das mit den jetzigen Mitteln nicht entscheiden. — Auch an
den grossen Nervenhügeln derRaupcnmuskeln kann man, wie ich mich
vor längerer Zeit schon überzeugte, eine Fortsetzung des Axencylinders
in der körnigen Masse des Hügels unterscheiden. Oft treten zwei, ja drei
Axeacylinder mit der Nervenfaser in den Hügel und laufen nun , was
Bttan an frischen in möglichst indifferenten Flüssigkeiten liegenden
Präparaten sehen kann, erst im oberen oder mittleren Theil des Hügels
eint Strecke weit hin. Dann theilen sie sich ein oder einige Male nach
einander^n kleine Zweige, die gewöhnlich nach unten laufen und sich
im Protoplasma des Hügels verlieren. Nach längerem Liegen zerfallen
auch diese Fasern in Tropfen. Sie sind übrigens viel dünner als die ent-
spredienden Fasern im Nervenhügel der Schlangen und nehmen, wie
es sei eint, ein relativ kleineres Volum der im Hügel liegenden Masse ein.
K I e i II e 1* e M i i 1 li e i l u ii gen.
Zur forensischen Diagnose des diescblechts.
Von
B. S. Schnitze.
Bis in die neueste Zeit hinein hat wohl keine Branche des medicinischen \^Ss-
sens so zahlreiche Irrthümer mit sich geschleppt, als die gerichtliche Mediän.
So traurig die Thatsache, so plausibel die Gründe derselben.
Keine Branche der Medicin weiset in ihrer praktischen Ausübung den Einzelnen
in gleichem Grade auf subjective Kritik an, und bei Ausübung seines medicinischen
Specialfaches ist der Praktiker, wegen des enormen Umfanges der Disciplin, so
oft darauf angewiesen, sein Urtheil auf Beobachtungen Anderer zu basiren. Nun
ist aber drittens — und das ist weniger in der Natur der Sache begründet — gegen
allen sonstigen Gebrauch in der gerichtlichen Medicin zum Theil noch heute ütlich,
Urtheile für Beobachtungen zu registriren ; da kann sich natürlich einirrthum lange
halten.
Von dieser sehr allgemeinen Einleitung zu meinem ganz speciellen Thema.
J. L. C ASPER, welcher bekanntlich gerade um Ausmerzung von Irrthüfnern
aus der gerichtlichen Medicin sich bedeutende Verdienste erworben hat, sag'; im
zweiten Theil seines praktischen Handbuches (Teratologiscber Theil) im CaDitel
von der äusseren Besichtigung der Leiche (Seite 101 der vierten Auflage von 1864).
»Das Geschlecht. Dass dasselbe bei ganz von der Verwesung zerstcrten
»Leichen nicht mehr zu erkennen, ist bekannt. In etwas niedrigerem Fäuhiss-
»grade ist es zuweilen noch möglich, wenn auch die sexuellen äusseren Wiich-
»Iheile verschwunden, aus dem geschlechtlichen Haarwuchs noch dasGescllecht
»des Individuums zu erkennen, insofern der umschriebene Kranz von Haarm auf
»dem Schamberg das Weib, die wenn auch noch so geringe Fortsetzuig des
»Haarwuchses vom Schamberg bis an den Nabel hmauf den Mann erweist«
Ich weiss nicht, und halte es auch für belanglos, es zu ermitteln, ob diisedia-
gnostische Notiz mit dieser Bestimmtheit zuerst \um Cf^spER oder von einei älteren
Autorität herrührt; wichtig aber ist es, dass dieselbe vollständig irrig ist.
Unter etwa 1Ü0 Schwangern und Wöchnerinnen, welche im ersten Halbjahr
1867 von mir inspicirt wurden, habe ich 5 notirt, bei welchen der Haarwachs vom
Schamberg bis an den Nabel sich fortsetzte. Die Weiber waren 22, 23, f5, 28—28
.lahre alt und konnte über diren Charakter als Weiber , da sie gebäreni von mir
beobachtet wurden, keinZweifi'l sein; auch spreche ich natürlich nicht von einem
Haarwuchs, wie ihn diellaul am ielon Stellen zeigt, sondern von einemius starken,
Ueber die rnnslitiilinn oiniffor SilifimnvfrhiniluiißPii plr. '^\^^
pisnicntirli'ii Haaron bcstclietitlcn Haarwuchs , der auf 10 Sclirill als solclicr /u
erkennen sein würde. Unter 33 Weibern, wciclie am 1. d. M. in meinem Inijtilul
als Pfleglinge sich befanden, waren vier, von 20, 20, 21 und 28 Jahren, bei denen
starke, pigmentirte Haare, bei zweien derselben etwas entfernt stehend, bei zweien
ziemlich dicht, vom Schamberg bis zum Nabel hinauf sich erstreckten. Dagegen
zeigten von 1*0 kraftigen jungen Mannern (Soldaten), welche heut auf die obere
Grenze des Haarwuchses amSchamberg untersucht wurden, 34, von 19— 22 Jahren,
eine rundlich umschriebene Grenze des Haarwuchses, ohne jede Fortsetzung gegen
den Nabel hinauf. Sehr wohl möglich, dass bei Männern in vorgerückterem Aller
sehr viel häufiger als bei den hier untersuchten die Behaarung vom Schamberg bis
an den Nabel sich erstreckt.
Es bleibt ja überhaupt ausser Zweifel, dass beiden meisten Weibern der Haar-
wuchs des Schamberges rund endet, während er bei den meisten Männern bis zum
Nabel sich fortsetzt, aber die Häufigkeitder Ausnahmen verbietet, wo
das Geschlecht eines vorliegenden Körpers zweifelhaft ist, aus
der genannten Di fferenz irgend ein diagnostisches Motiv zuent-
nehmen.
Ob gar am Lebenden bei man;-'elhaft ausgeprägtem (icschlechlscharakter die
permanente FormdifTerenz dos Haarwuchses zur Diagnose des Geschlechts ver-
werthet werden dürfe, wie Casper am genannten Orte Th. 1. pag. 86 meint, bedarf
hiernach keiner Besprechung.
Jena, den 12. Februar 1868.
Ifber die Constitution einiger SiliciumTerbinilHngen und Einiges, was sich auf
das niscliungsgewicht des Siliciums bezieht.
Von
A. Qeuther.
Die Untersuchungen von Friedel und Grafts') und von Friedf.l und Ladenbürg^)
haben eine grössere .\nzahl neuer Verbindungen des Siliciums kennen gelehrt und
auf einige dervonWöBLER entdeckten Verbindungen dieses Elements ein neues Licht
verl)reitet.
In der Einleitung der ersteren Abhandlung, in welcher vorzüglich die Producle
beschrieben werden, welche bei der Einwirkung von Siliciumchlorid auf normale
Kieselsäureäther entstehen und deren Wirkung auf verschiedene Alkohole, sagen Fr.
und Cr , nachdem sie ^cheerer's neuerer Begründung der Kieselsäureformel = SiO'
gedacht haben, dass sie nicht gesonnen seien, sich bei der Discussion dieser Argu-
mente aufzuhalten, glaubend, man werde vielleicht eine hinreichende Antwort in
1) Annal. de Chim. et de Phys. S. IV. T. IX. p. 5.
2; Compt rend. T. LXI. p. 792: T. LXIV. p. 84; p. 359, p. 1295 u. T. LXVI.
p. 339; p 816.
^
314 A. Gfullier,
der Millheilung von Thatsachen finden, welche mit der Meinung Soheerer's schwer
zu vereinigen seien Sie erklaren sich dann weiter dahin, dass bei der Frage nach
dem Mischungsgewicht eines Elementes zunächst den c h e m i s c h e n Betrachtungen
der Vorrang gebühre, und dass diess eben es gewesen sei , weiches sie veranlasst
habe die Versuche zu unternehmen, in der Hoffnung sie würden einigen Verbin-
dungen begegnen , welche durch rein chemische Betrachtungen die Mischungs-
gewichtsfrage des Siliciums zu entscheiden vermöchten. »Wir glauben« fahren sie
dann am Schlüsse fort, »dass es uns gelungen ist zu zeigen, dass die einfachsten
Formeln, welche der Kieselsäure und dem normalen Kieselsäureäther beigelegt
werden können, sind: SiO" und Si 4(€'H*0), und demgemäss das Atomgewicht des
Siliciums Si = 28 ist.«
Es haben dann ferner durch weitere Versuche mit dem Siliciumchlorür ver-
anlasst, Friedel und Ladenburg die Meinung Wöhler's'j, dass das Silicon »als eine
nach Art der organischen Körper zusammengesetzte Verbindung betrachtet werden
könne, in welcher das Silicium die Rolle des Kohlenstoffs in den organischen Kör-
pern spielt«, nichtbloss soangenommen, sondern sind so weit gegangen, in manchen
Siliciumverbindungen eine wirkliche Vertretung von Kohlenstoff durch Silicium,
von C durch Si, zu finden und demgemäss diesen Namen beizulegen, welche den
ihrer Ansicht nach diesen entsprechenden reinen Kohlenstoffverbindungen nach-
gebildet sind (Silicichloroform ; dreibas. Siliciameisensäureäther ; Silicononyl-
alkohol etc.).
So vollkommen einverstanden ich damit bin, dass bei der Feststellung des
Mischungsgewichts eines Elementes den chemischen Betrachtungen der Vorrang
gebührt, ja noch mehr, dass ihnen ganz allein die endgültige Entscheidung darüber
zukommt, so entschieden muss ich bestreiten :
1) dass in der Zusammensetzung von all den beschriebenen Siliciumverbin-
dungen irgend ein Moment enthalten ist, welches die Siliciummischungsgewichts-
frage, ob U oder 21 (oder ein Multiplum davon) nur im Geringsten ihrer Lösung
näher zu führen vermöchte und
2) dass die Annahme einer Vertretung des Kohlenstoffs durch das Silicium in
den vorliegenden Verbindungen eine gerechtfertigte sei.
Denn es lässt sich einmal zeigen, dass die Zusammensetzung all der betreifenden
Siliciumverbindungen durch Formeln mit Si = 21 in gleich einfacher Weise auszu-
drücken sind und dann, dass die Verbindungen, in denen eine Substitution des
Kohlenstoffs durch Silicium stattfinden soll als nichts anderes erscheinen wie die
übrigen, nämlich als einfache Abkömmlinge einer Siliciumverbindung.
Bevor ich diess näher zu zeigen unternehme, muss ich mir gestatten ein Wort
über die Bedeutung der oben angeführten Ansicht Wöhler's zu sagen , dass das
Silicium nach Art der organischen Körper zusammengesetzte Verbindungen zu bilden
vermöge. Vom gegenwärtigen Standpunct der Chemie aus kann dies weiter nichts
heissen, als dass ein Zusammenhang, wie er bei den Kohlenstoffverbindungen zwi-
schen den heterologen oder genetischen, denhomologen und isologen Reihen existirt
in gleicher oder ähnlicher Weise auch bei den Siliciumverbindungen sich findet.
Da nun die genetischen Reihen eines jeden Elementes sich-auf ganz gleiche, von
diesem aber völlig unabhängige und nur durch die mit ihm sich verbindenden anderen
Elemente bedingte Weise ableiten, so ist klar, dass die Formgleichheit in dieser
1) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 4 27 p. 268.
Ueber die. roiislidilinii i'iniuor Siliriiinivi'rbiii(liiiigpii clc.
315
Ri'ihc niclits über AohnlichVeit oder Unähtilichkcit verschiedener Eletncntc aussagt.
Dies vermöfjen nur die hom ol opcn und in noch hosliinmterer Weise die iso-
logen Reihen zu thun. Krst, wenn man für den Kohlenstoff und dasSiiiciuin auch
die Gieicidieil dieser nadigewiesen liat,\vird manlierechtigt sein sie als chemisch
ähnliche, in eine Gruppe gehörende, gleichwe rthige Elemente aiizusehoD»
weiche, wenn nöthig die Annahme einer Vertretung zulassen. Bis jetzt aber kennt
man keine homologe Reihe von Siliciumverbindungen und von einer isologen Reihe
nicht mehr als Andeutungen, die ihrerseits aber nicht geeignet sind jene voraus-
gesetzte Gleichheit zu bestätigen.
.Mit .Vusnahme des Silicons lassen sich alle hier in Betracht kommenden Sili-
ciumverbindungen ableiten von einem Siliciumwassersloff n Sij H* oder nSitt',
nämlich Sii^H** oder Si*H'* ") und zwar in gleicher Weise, wie es sonst auch ge-
schieht: der Wasserstoff kann nämlich zu gleichen Mischungsgewichten ersetzt
gedacht werden 1) durch die halogenen Körper, 2) durch Sauerstoff, Schwefel*) etc.,
3) durch die Hydroxyl-Hydrosulfi-Gruppe .• MO", HS^ *) durch andere einwerthige
zusammengesetzte Radicale, so dass auf diese Weise eutstehen 4. die chlor-, brom-
elc. haltigen, 2. die Oxy-Sulfi etc., 3 die Hydroxy-IIydrosulti etc. Abkömmlinge
und *) die Aethyl- etc. Verbindungen.
Genereller Typus:
Sil»«» oder Si*«i2
Silicium Wasserstoff:
Aetherverbindung :
Slliciumaethyl:
etc.
M n o c h I o r s i 1 i c i u m ae t h y I :
Siliciumchlorid:
etc.
Kieselsäureanhydrid etc.
Normales Kieselsäur ehydrat:
etc.
Aetherverbindungen ;
Kieselsäureäther:
etc.
Gemischte Aelher :
Kieselsäureaetliylmethyläthci
etc.
E s s i g k i e s e I s ä u r e a n h y d r i d .
Essigkieselsäureäther:
Sii'H"
Si,* (€*H*)»
Si 4 (€'**')'
Si,4€l«
Sl,408
Sil« (H02j»
Si»Hi2
Si*(€-H'').»2
*' (C2H4€1)3
si4ei'2
Si4 0'2
Si4(H02]12
Sil* (€2 «502,8 Si* (€2 «5 02) 12
, ^. .(€2tt5 02j6
., ci* €2H5 02j4
0] »•» (€143 02)4
(€2H502)2
Ci Ml (€«3 02)6
Si,«(G2«3 0*)«
Si«(€2«3 0*)2 .
' (€2 «5 02]« *'
g.. (€2 «3 02) 9
*' (€«3 02)3
.^(€2 «5 02)6
* (€«3 02j*
..4(€2«5 02)3
*' (€«3 02)3
Si*(€2«3 0«)»2
*(€2H3 0*)3
(€2 «502)9
4) Sil = U; Si = 21.
IJ.Q = 8; S = 16.
316
1. Speciellcr T y puü
\. (iPiitlipr,
Unbekannt: "'
Unbekannt:
Aetherverbindung :
T r i a e t h y 1 s i 1 i c i u m o \ y d ;
etc.
Unbekannt:
Aetherverbindung :
S. g. Siliconony 1 al k oliol :
S. g. Essigs. Siliconony iaikohoi
oder Si*„3
Si4«'
S i 1 i c i u in h y d r c h 1 o r ü I" ;
(Siliciumchlorür)
(Siliciumchloroforme)
Siliciumbromochlorür;
Siliciumoxychiorii r:
Unbekannt:
Aetherverbindung :
S.g. TrichlorhydrinvomKieseisäureäther
S i 1 i c i u m h y d r s u I f o c h 1 o r ü r :
(Siliciumchlorosulfh drat)
S ii i c i u m h y d r o \ y d (weisses Oxyd aus Chlorür)
Unbekannt:
Niedi'igstes Kieselsa ureh yd rat:
02
Sil jjjo2)2
Si.4 l*^ ** I
^'1 (€2ft5 02)2
^'1 (€2^3 04)2
Sii*g,6
„, 4{e2M5 02j2
Sil* e,6
Sil* ei6
Si,*;
Si 4€''
S.4(tt02)2
Si*
€13
„. 4(€2«5,fi .i4(€2«5)9
Sil' n2 SI» ,.3 ,
03
»' (i402)3
* (e2H502)3
Si4(€-H5j9 *
*' (€2H304)3
Si4
H3
€1»
Si4
Si4'
Si4
Bf3
03
€P
;4(H02)3
€19
..4(C2M502)3
SI e|9
S' €19
Si4
Si
W3
09
.€13
*09
»' 09
Unbekannt :
Aetherverbindung ;
S. g. drei ba sis eher
Kieselameisensäureäther:
S. g. d rei basischer
Kieselpropionsäureäther:
Unbekannt :
Aetherverbindung :
S . g. M n c h 1 r h y d !• i n
vom Kiesel Säureäther:
Mittieres Kieselsäurehj drat
Aetherverbindung :
6 od . 9 b a s. K i e s e 1 s ä u r e ä l h e r ;
J42
Sil*(JJ02;6
tt2
Sil* (€2^5 02) R
o; 4(€2H5)2
S'l (€2H5 02,6
€12
(M02)f
Si 4ei2
„. .€12
O'l (€2tt5 02)6
02
S'i*(i402)ti
S>l*(€2'H5 02)fi
44'f
SI (üOi/J
Si*
443
€2H502)9
*' (€2H502)9
Si4€13
»' (M02j9
€13
(€2H502)9
03
(M02ji
Si*
Si*^'
Si*(€2H602)9
Ueber die CoiistitiitioK cliiiüt'i Siliciiiinveibiuduiigpn ftr.
317
II. vSpecicllcr Typ us
l'nliekannl :
etc.
1 iiliokaiiiit
Ai'tliei\oil)iii(iuiit; :
S. t;. 1) ic li lor 1» y d ri u
\ Olli K i e s e 1 s ü u I' e a l h e I* :
etc.
Unbekannt ;
Aetlicrveihindung.
2 Proii. aus Monochlorhydiin v. Kieselsäureäther
und Zinkaolhyl :
Lnl)okaniit :
oder Si*
-.^s;
s.,^^*
^.,^W'0-i,*
Gl«
Si,4
(HO--')
'''•*04
Hfi
• ' G16
*' GI6
Gl"
Si«
H6
(«02,
s4 (e^;«
(G2H502j<
Lnliokannt :
AolluMverbindung:
l'iod. aus d. s. 'j,. Kioselpropionsäureäther und
Kalihvdrat :
m
Si,4(MO-2;2
6«
«2
Si,4(G2tt5 02jä
0«
M3
Si«(«02j:'
Oß
»3
Si«(G2H^>0-')3
06
Dioso Zusamiuonslellung und Formulirung zeigt, wie unnöthig die Annahme
einer Vertretung des Koliienstofl's durch das Silicium oder umgekehrt bei einigen
dieser Verbindungen ist, die sich alle höchst einfach und ich denke auch nalur-
geniäss in einen Typus zusammenfassen lassen. Mit der Nothvvendigkeit der An-
nahme einer solchen Vertretung fällt auch ihre Berechtigung, da Letztere durch
Nichts, als durch den Hinweis auf einige KohlenstofTvcrbindungen, die sich den
Körpern hier chemisch analog verhalten sollen, bis jetzt begründet worden ist.
Dem Typus Sii«H* oder Si«H''- gehört aber nicht an das Sil ic on Wöhler's,
für das ich früher') die Zusammensetzung Si-0, MO = Si«H204 wahrscheinlich zu
machen gesucht habe und welchen Wöhler neuerdings die Formel : Si)'2M6 08 bei-
legt 2), Die erstere Formel wird Sii = 14 angenommen zu Sii'2M«0**. Wäre Wöh-
ler's Formel die richtige, so würde die Verbindung, von welcher das Silicon deri-
viite Sii'-W«, Sil '2H'2 oder Sil 12 «6 sein können:
Si,»2H«4 Si,i2#i2 Si,i2H6
S'l'^(U02)4
'^'1 0« Si,i2H02
0«
Wäre meine Formel die richtige, so würde das Silicon atn einfachsten als ein
M«
Abkömmling vonSii'2H'2, nämlich Sii'2 betrachtet werden können.
beitle Aimahmen der Zusammensetzung führen also zu Formeln mit <2Sii oder
wenn man die mögliche Division mit 2 ausführt, wenigstens zu solchen mit 6 Si|.
Da in den oben angeführten Verbindungen aber 4 Sii ausreichen, so bliebe für das
Silicon nur die Annahme übrig, es sei der Abkömmling eines siliciumrelcheren
1) Diese Zeitschrift Bd. II. p. Hl.
i) Grundriss d. unorgan. Cheniie \L Aull. 1868. [). 121.
318 A, Geuther, lieber d. fnnslit. ein. Siliciumverb.
und wasserstoffärmeren vielleicht mit Sii^H^ homologen Kieselwasserstoffs oder
doch das isologe Glied eines solchen.
Uebersetzt man aber die von Wühler aufgestellte Formel in eine solche mit
Si = 21, so hat man, da Si,i2Hfi08 zu Si^HSO* wird :
WöHLER Geuther
Silicon Si<H3 04 Si4H2 04
In diesem Falle kommt man also zu Formeln mit 4 Si d. h. dergleichen Anzahl,
wie bei den oben angeführten Verbindungen, und zwar wäre dann das Silicon ein
Abkömmling von Si*H^ oder Si*^^. Der letztere Kieselwasserstoff, auf welchen zu-
rück meine Formel führt ist aber ein Glied der isologen Reihe vonSi*Hi-, welche
nach der aus der Zusammensetzung der Verbindungen abstrahirten und in den spe-
ciellen Typen ausgedrückten Art der Wasserstoffdifferenzirung sich offenbar so
formirt :
Si,4H8 oder S\*m^
Sii^Mß Si4M9
S\i*H* Si4H6
Sii4H2 si4H3
allgemein: Si|4H2D_m.2 si^H^n-m.a')
Wäre diese Entwicklungsform der isologen Reihe die einzige, so könnte das
Silicon, obwohl es als ein Derivat von Si^H*» erschiene und obwohl dieser Kiesel-
wasserstoff ein Glied der isologen Reihe ist, doch kein Abkömmling von Si^H*" sein,
M2
weil die Differenzirung des Wasserstoffs darin nicht nach der Form S\*^a, sondern
nur nach der Form Si*u3 möglich wäre , das Silicon aber der ersteren Form ent-
sprechen würde.
Diese Verhältnisse zusammengenommen mit der Existenz von einigen Silicium-
verbindungon, die gleichfalls nicht als Abkömmlinge dieser isologen Reihe erschei-
nen, wie daskryst. SiliciummagnesiumMgSSi- 2) und das daraus entstehende weisse
Oxyd : Si-HO^ 3\ lassen an die Evistenz zweier Entwicklungsformen, zweier iso-
logen Reihen denken. Die zweite, nur bei Si = 21 mögliche Form wäre:
Si*»»2
Si^Hio
Si«H8
Si*H6
Si«««
Si4H2
allgemein : Si«H3n-ra.2
Beiden Reihen ist ausser Si*«'-' nur noch das Glied Si«H6 gemeinschaftlich.
Von diesem Glied dieser 2. Reihe würde dann das Silicon, wenn seine Zusammen-
setzung durch Si*H204 ausgedrückt wird, deriviren. Desgleichen würde das aus
U2
denjSillciummagnesium hervorgehende Oxyd in diese Reihe gehören Si«^,Qund das
Siliciuuunagnesium selbst Si4MgW, während das Siliciumcalcium, aus dem das Si-
licon sich bildet: Si^Ca^ oderSii4Ca2 der ersteren isologen Reihe angehören würde.
Ausser dem von Friedel und Ladenbukg durch die Einwirkung von Natrium
auf den sog. dreibas Kieselameisensäureäther erhaltenen Siliciumwasserstoff:
i) Vergl. diese Zeitschr. Bd. I. p. 494.
2) Ebend. Bd. II. p. 208.
3) Ebend. p. 212.
AnzeitiP. 319
Si|<H8 oder Si*JJ'*, welcher in reinem Zuslando an der Luft sich nicht selbst ent-
zündet, oxistirt, wie ich früher wahrscheinlich gemacht habe, noch ein zweiter im
freien Zustande von der Zusammensetzung ; Si)*H* oder Si^H*"', der sich bei der
Zorselzuni; des Siliciummagnesiums bildet').
Dem üben Mitgetheiiten zufolge würde Si ^ 21, das Normalhydrat der Kiesel-
säure Si*0'-, 12 HO, die Kieselsäure also eine 12 basische Säure sein Ob diese
Korm alle Silicate umfassen kann, wird einer näheren Prüfung bedürfen.
1) Vergl. diese Zeitschr. Bd. II. p. 218.
Anzeige.
Von VincHow's Handbuch der speciellen Pathologie und The-
rapie ist in 2. Auflage auch die 2. Abtheilung des 5. Bandes erschienen,
die Krankheiten des Herzensvon Prof. Friedreich und die Krank-
heiten der Blut- und Lym phge fasse von Prof. Leber t. Friedreich hat
mit genauer Berücksichtigung der zahlreichen Arbeiten, die auf dem von ihm be-
handelten Gebiete seit der ersten Auflage publicirt wurden, diese 2. Autlage er-
gänzt und vermehrt. Irgend erhebliche Aenderungen in den Anschauungen des
Verfassers und in der ganzen Darstellung sind nicht eingetreten.
Eine vollständige Umarbeitung hat die zweite Hälfte des Bandes erfahren und
zwar sind es specieller die Krankheiten der Blutgefässe, deren Darstellung das
Doppelte des Raums der ersten Auflage einnimmt. Lebert hat zum Theil nach
seinen eigenen monographischen Arbeiten die früher etwas kurz dargestellten Aneu-
rysmen besonders ausführlich dargestellt. Auch die Beschreibung der Erkran-
kungen der Venen hat nicht unwesentliche Erweiterungen und Umänderungen er-
fahren. So dankenswerth nun auch das Bestreben des Verfassers ist, seine Dar-
stellung zu einer möglichst vollständigen zu machen, so lässt sich doch kaum
verkennen, dass seine Bearbeitung ?lie Grenzen, innerhalb deren das Gesammlwerk
angelegt ist, erheblich überschreitet. Bei sachgemässem Zusammenfassen, prä-
ciserer Darstellungund Meidung mannichfacher Wiederholungen wäre esunsersEr-
achtens nach möglich gewesen unbeschadet der Klarheit und Ausführlichkeit auf
viel geringerem Räume das Gleiche zu leisten.
Seidel.
Heber die Flimiiierbewegung.
Von
Th. W. Engelmann
in Utrecht.
Mit Tafel VI.
Einleitung.
Die Bedingungen zu untersuchen , unter welchen die Flimmer-
bewegung zu St;inde kommt, und die Veränderungen zu ermitteln,
welche dieselbe bei Aenderung dieser Bedingungen erleidet, war die
Aufgabe der folgenden Arbeit. Es war wünschenswerth, diese Aufgabe
in möglichst weitem Umfang anzufassen. In der letzten Zeit hat sich
die Ansicht immer mehr befestigt, dass alle die sogenannten Gontracli-
litatserscheinungen, unter ihnen auch die Flimmerbewegung, im We-
sentlichen unter gleichen Bedingungen stattfinden, alle im Wesentlichen
durch dieselben Einflüsse begünstigt, durch dieselben Einflüsse ge-
henmit werden. Die Richtigkeil dieser Ansicht vorausgesetzt, bot sich
somit die Aussicht, durch möglichst genaue Ermittelung dieser Bedin-
gungen für eine der genannten Erscheinungen, auch auf die andern
einiges Licht zu werfen. Zur Lösung dieser Aufgabe schien nun die
Fliiinnerbewegung vor allen verwandten Bewegungen geeignet, weil
sie in der Weite der Excursionen , in der Frequenz , mit welcher die
Schwingungen der Flimmerhaare erfolgen, und in den mechanischen
Leistungen der thiitigen Flimmerhaare messbare Grössen an die Hand
giebl. Die Amplitude der Schwingungen lässt sich unter dem Mikroskop
messen, die Schwingungen lassen sich zählen. Der Grad der Beschleu-
nigung oder der Verlangsamung der Flüssigkeitsströmung an der flim-
mernden Oberfläche kann wenigstens in den meisten FäUen in Zahlen
ausgedrückt \^ erden. Dieser Vortheil, zusammengehalten mit dem re-
gelmässigen Rhythmus der Bewegungen , welciiei- dem Auge verhält-
nissmässig feine Aenderungen der Bewegung im Mikroskop zu bemer-
ken gestattet, ist nicht hoch genug zu schätzen, wenn man weiss, wie
scliwieiip: os ist, bei andern Bewegungen, z. B. denen des Protoplasma,
Uli. i\. :<. i\
322 Th. W. Engelmaiiii,
zu entscheiden , ob eine kleine Beschleunigung oder Verlangsamung
vorhanden, und wenn sie vorhanden, ob sie d^m Einfluss des ange-
wandten Agens zuzuschreiben sei oder noch in's Bereich der normalen
Schwankungen falle.
Trotz dieser Umstände nun, welche die Flimmerbewegung als ein
so besonders günstiges Untersuchungsobject erscheinen lassen und trotz
des Umstandes , dass das Phänomen dieser Bewegung nun schon seit
langen. Jahren bekannt ist, kann man doch nicht sagen, dass mit der
Lösung unserer Aufgabe bisher viel mehr als der Anfang gemacht wor-
den sei. — In der bekannten Schrift von Purkinje und Valentin i),
welche sich besonders über das Vorkommen der Flimmerbewegung
sehr ausführlich verbreitet, findet man eine Aufzählung von vielen
Stoffen, von denen angegeben wird, in welcher Verdünnung sie noch
schädlich auf die Flimmerbewegung wirken. Diese Angaben sind in-
dess ziemlich unbrauchbar, da die Abstufung der Concentrationsgrade
eine sehr rohe war: es ist nur von 10-, 100-, lOOOfacher Verdünnung
u. s. f. die Rede. Es gelten ferner alle Angaben nur für Flimmerhaare
von Unio und Anodonta. Die Verfasser beschränken sich auf diese
Muscheln, weil sie in der auch jetzt noch hie und da auftauchenden
irrthümlichen Meinung befangen waren, dass es für solche Versuche
gleichgültig sei, ob man das Flimmcrepithel von der Schleimhaut eines
Wirbelthieres oder von den Kiemen einer Muschel oder sonst woher
nehme. Sie hätten überlegen sollen, dass die Bewegung von Flimmer-
haaren, von denen die Einen während des Lebens von alkalischer
Feuchtigkeit, andere, wie die der Süsswassermollusken, von beinahe
reinem Wasser , w iedcr andere — die von Seethieren — von starker
Kochsalzlösung umspült werden , sie hätten überlegen sollen , dass die
Bewegungen dieser verschiedenen Arten von Flimmerhaaren nicht in
allen Fällen durch dieselben Einflüsse in derselben Weise verändert
werden können. So erwähnt denn auch schon Valentin 2) selbst, dass das
Blut von Wirbelthieren, welches »das beste Erhaltungsmittel der Flim-
»merbewegung der gleichartigen Geschöpfe sei«, auf die Flimmer-
bewegung von Muscheln vernichtend wirke.
Aus den Angaben von Purkinje und Valentin verdient ferner Er-
wähnung, dass die verlangsamte Flimmerbewegung durch mechanische
Erschütterung verstärkt werden könne , eine Thatsache, die schon im
1) Purkinje et Valentin, De phaenomeno generali et fundamenlali motus vibra-
loiii. Wratislaviae 1835. — Valentin, Artikel Flimnierbewegiing in R. W. H. I.
pag. 484—516 184ä.
2) a. a. 0. p. 512.
Heber die Flimmerbewegiing. 323
Anfang dieses Jahrhunderts von Steinbuch i) beobachtet worden ist.
Dass bei hüh(M"en Wärmegraden die Be\veij;ung erlischt, erwälinen die
genannten Forscher glciclilalls. Sie ivonnlen Flinunerhäute von Säuge-
thieren und Vögeln »ohne Störung des Phänomens« momentan in Was-
ser von Sl" Celsius tauchen. wKiemenstUckc von Unio konnten ohne
»Nachtheil eine halbe bis zwei Minuten in Wasser von 44o bis 41" Cel-
»sius gehalten werden.« Zwischen G" bis 12^ Celsius soll die Bewe-
gung bei warmblütigen Thieren in der Regel aufhören; vor Kälte er-
starrte Frösche und eingefrorene Muscheln sollen dagegen »das Phä-
»nomen ungestört bewahren.« Ein vor Kälte erstarrtes Flimmerepithe-
lium könne in der Regel durch Wiedererwärmung nicht wieder zum
Leben gebracht werden. — Leitelen Purkinje und Valentin mit Hülfe
einer Leydener Flasche starke elektrische Schläge durch eine Muschel,
so ward die Flimmerbewegung nicht im Geringsten verändert. — »Der
Galvanismus hat« nach ihnen »nur in so fern Effect, als er mit ther-
» mischen und elektroly tischen Wirkungen verknüpft ist 2).« Schliess-
lich erwähnen die Verfasser noch, dass es nicht gelinge, die Flimmer-
l)owegung wieder zu erregen, wenn sie einmal vollständig durch Ein-
trocknen, Kälte, chemische Reagentien zur Ruhe gebracht worden sei.
Bald nach der Arbeit von Purkinje und Valentin erschien der erste
Band von Todd's Cyclopaedia of Anatomy and Physiology, für welchen
Sharpey"*) den Artikel Cilia bearbeitet hatte. Ein Abschnitt^) dieses
Artikels ist den Einflüssen äusserer Agentien auf die Flimmerbewe-
gung gewidmet, hn Allgemeinen werden Purkinje's und Valentin's Er-
fahrungen bestätigt, insbesondere was den Einfluss der Spannungs-
elektricität und des galvanischen Stromes angeht. Erwähnung verdient
aber, dass Sharpey ausdrücklich auf den Unterschied aufmerksam
macht, welchen dieselben Substanzen in ihrer Wirkung auf Flimmer-
haare von verschiedenen Thieren zeigen. Er beobachtete beispiels-
weise, dass süsses Wasser augenblicklich die Bewegung bei Seewasser-
mollusken aufhob, dass schwache Lösung von salzsaurem Morphium
wohl die Bewegung bei der Flussmuschel, nicht aber bei Froschlarven
vernichtete, dass Blut von Wirbelthieren sogleich die Flimmerbewe-
gung der Wirbellosen hemmte. Von der Beschleunigung durch mecha-
nische Erschütterung bemerkt er, ob sie nicht vielmehr auf Wegräu-
1) Steinhucii, Analeklen neuer Beobachtungen u. Unlorsuchungen zur Natur-
kunde. Füiili, Ib02.
2) Valentin, a. a. 0. 511.
3) Sharpey, Art. Cilia in: Todd, Cyclop. of Anat. and Physiol. Vol. I. 1835 —
36. pag. 606 — 638.
4) a. n. 0. \)i\'J,. G'i'i.
41 *
H24 ll'- ^^- Kii(ip|iiiiiiiii,
rniine oines Hindernisses, als luil' (liierter Reizung benilie. Endlich
erwähnt er, dass (l;)s Fliinni(M|)h;inomeu ;uM' den Kiemen \oii Frosch-
larven ungehindert fortbestehe in ;iiisi:ekochlein. in destillirtem und in
kohlensäurehaltigeni Wasser.
Die nächste wichtige Bereichern mü; erfuhr die Lehre von der Fliin-
inerbcN^egung durch die Entdeckung des Einflusses von Kali und ^'a-
tron durch ViRCHOW 'j. Dieser fand bei Untersuchung einer menschli-
chen Trachea, dass diese beiden StolFe die zur Ruhe gekonunene Flim-
merbewegung wieder er\N ecken Jtönnen. Als er zu einem Objecte, an
dem die anfangs sehr lebhafte Bewegung zum Theil nachgelassen hatte,
zum Theil sehr schwach geworden war, Kalilauge hinzufügte, sah er
»an allen Stellen die Bewegung sich wieder beleben und so lange an-
»dauern, bis eine Zerstörung der Thcile selbst durch Clorrosion eintrat.«
Ebenso wie das Kali verhält sich nach Virchow das Natron ; Ammoniak
soll dagegen die Bewegung sofort zum Stillstand bringen. Letzteres
stimmte mit der älteren Beobachtung von Purkinme und Valentin über-
ein, welche fanden , dass kaustisches Ammoniak noch in lOOO-facher
Verdünnung die Be\\egungen hemmte. — Zwei .lahre spätei- theilte
Kölliker2) im Anhang zu einer umfassenden Fnlersuchung über die
Samenflüssigkeit einige Beobachtungen über Flimmerbewegung mit.
Er fand, dass die Flimmern der Froschzunge >^in NaCl von 1"/,) und
»SNaO, HO, PO5 von " und 10 "/q in lebendigster Action bleiben,
»dass dagegen NaCl von ö"/o ihre Bewegung aufhebt, welche jedoch
»durch nachherigen Zusatz von Wasser wiederkommt.« Aehnliches
fand er für die Bewegungen von Opalina und von der kleinen Flagellate
aus dem Mastdarm der Frösche. —
So waren erst wenige Mittel gefunden, welche die erschlaffte Be-
wegung wiedei' zu beleben im Stande waren. Dass man denselben
Effect durch Temperatursleigerung erreichen könne, ward bald darauf
durch GALLiBURCfes-^), einen Schüler Claude Bernarp's gezeigt. Derselbe
construirte einen Apparat , welcher aus einem oben durch einen Me-
talldeckel verschlossenen Glasgefäss bestand, in welchem auf einer i>i
verticaler Richtung ^erstellbaren Platte die Rachenschleimhaut eines
Frosches horizontal ausgespannt war. Durch Verstellung einer Schraube
1) Virchow, Ueber die Erregbarkeit der Fliiiiiiiei'zelleii. In: Arch. f. patti.
Anat. Bd. VI. 1854. pag. 133.
2} KöLLiKER, Physiol. Studien liher die SanienflUssigkeit. Ztsclir. f. wiss. Zool.
•1856. Bd. VII. pag. 251.
3 .1. Calliburces, Recheiciies experini. sui' linnuence exercee par la clialeur
sui- les inanifcstalidn'^ de la conlractilile des oiganes. in: Conipt. rend. Vol. XLXIl.
1858. pag. 638.
f'i'hni' ilic riiinmprhcwPCniiL'. 325
koniilc die l'l;ilii' mit dcv l{;iclionschleiii)h;nil so pingestcUt woidcn,
dass lolztpro mit einem sehr dilnnen hori/.ontnl c;elai^erten Glascylinder,
dessen Axe ein feiner Aluminiiinidralit bildele , in Berührung kam.
Durch die Th;itic;keit d(M- Fliminerhaare ward das Glascylinderchon in
lindrehunp versetzt. An dem einen Ende des die Axe des Glascylin-
derehens l)ildenden AluminiunuIralUes, welches eine der Wände des
Glasaefiisses durchhohrte, war ein dünner Glasfaden befestigt, welcher
sich als Zeiger über eine aussen auf dem Glasgefiiss eingeritzte Kreis-
theilung hinbewegte. Die Bewegungen des Glascylindercben im binern
der Flasche konnten somit aussen in vorgrössertem Maassstabc abgele-
sen und gemessen werden. Aus Versuchen, die CALLinuRCfes an 52
Schleimhäuten anstellte, ging nun hervor, dass bei einer Temperatur
\on l'S" (]. die Bewegung des Zeigers im Mittel etwa sechs Mal schnel-
ler war, als bei einer Temperatur von 12^' bis 19" C. — Bernard'),
der diese Beobachtungen erwähnt, fügt hinzu, dass die Intensität der
Bewegung i^va en augmentant jusqu'a 50 ou tiO degres, point a partir
«duquel le mouvement commence ä dimiuuer, pour cesser complete-
)iment ä 80 degres. c —
in den im Sommer ISO i \on Claide Bernard gehaltenen Vorle-
sungen über die Eigenschaften der lebenden Gewebe, worin die Flim-
merbewegung ausführlich behandelt wird, finden sich einige bemer-
kenswerthe Beobachtungen mitgetheilt. Bringt man, nach Bernard, den
Oesophagus eines Frosches unter eine Glocke, unter welcher ein mit
Aether getränkter Schwamm liegt , so sieht man bald die Bewegung
vollständig aufhören, nach dem Abheben der Glocke aber sogleich wie-
der beginnen. Bernard bestätigt den wiederbelebenden Einfluss der
Alkalien und fügt die interessante Thatsache bei, dass auch der durch
Säuren herbeigeführte Stillstand durch Alkalien aufgehoben werden
könne. Die Gase sollen gar keinen Einfluss ausüben, wovon man sich
leicht überzeugen könne, wenn man nach einander den Oesophagus
eines Frosches in den luftleeren Hnum, in Kohlensäure, in Sauerstoff,
in Stickstoff und in die andern (iase bringe: die Flimmerbewegung
bestehe darin genau so fort wie in atmosphärischer Luft.
Ueber den Einfluss der Elektricität wurden im Jahre 1865 neue
üntQisuchungen durch Kistiakowsky^] im Grazer physiologischen Labo-
ratorium angestellt. Derselbe mass die Stärke d(M- Flimmerbewegung,
1 (-(.AiDi; Beknahu. Lec<^"^ >i'r li'S propriötcs des lissus vivants. Paris 1866.
p. 146.
2 KisTiAKOwsKV . Leber die Wirkung des conslantcn und Indnclionssironies
auf die l"limmerbe\vei.'\in!:. In: Wiener Sitzungsber. Bd. !J. 1860. pag. 263 — 279.
326 Th. W. Engelmann, "
indem er die Geschwindigkeit eines durch die Bewegung der Härchen
über die Rachenschleimhaut des Frosches geführten Signals bestimmte.
Das Signal bestand aus einem kleinen an einem Goconfaden Jiangenden
Siegellacktropfen. Die Geschwindigkeit der Bewegung des Signals
ward durch die Schläge eines Pendels gemessen. Die mit Humor aqueus
eben bedeckte Rachenschleimhaut wurde in einem flachqji viereckigen
Glastroge der Länge nach ausgespannt zwischen zwei oben und unten
durch Blasenstücke geschlossenen und mit Hühnereiweiss gefüllten
Glasröhren. Diese tauchten mit ihren unteren Enden in mit Zinkvitriol
gefüllte Gefässe, aus welchen Elektroden von amalgamirtem Zink zur
Kette führten. Bei Anwendung eines constanten Stromes von 6 Chrom-
säure-Kohle-Elementen erhielt nun Kistiakowsky folgende Resultate.
Bei geschlossener Kette bewegte sich das Signal schneller als bei geöff-
neter, zuweilen um das Zwei- bis Dreifache. Nach Oeffnung des Stro-
mes zeigte sich eine allmählich verschwindende Nachwirkung : die
Geschwindigkeit des Signals nahm allmählich wieder ab , so dass nach
einigen Minuten die anfängliche Schnelligkeit ungefähr wieder erreicht
war. In den meisten Fällen verminderte sich die Schnelligkeit des
Signals allmählich in den späteren an ein und derselben Membran an-
gestellten Versuchen (»Ermüdung« Kistiakowsky). Ein Einfluss der
Stromesrichtung war nicht wahrzunehmen. »Dagegen zeigte es sich in
»Versuchen, die, unmittelbar auf einander folgend, mit derselben Stro-
»mesrichtung angestellt wurden, dass die anfängliche Beschleunigung
>)allmählich abnimmt; wird dann umgelegt, so tritt manchmal eine
»neue Beschleunigung ein, die wieder allmählich abnimmt, ein neues
»Wenden des Stromes beschleunigt dann wieder u. s. f.« Doch soll die
Beschleunigung beim Umlegen des Stromes oft sehr gering sein , oft
auch ganz fehlen. — Der Einfluss von Inductionsschlägen eines du ßois'-
schen Schlittenapparates (ohne HELMHOLTz'sche Abänderung) bestand
ebenfalls in Beschleunigung der Bewegung des Signals ; in den ange-
führten Versuchen erreichte die Schnelligkeit der Bewegung während
des Einflusses der Inductionsströme zuweilen die dreifache, ja fünf-
fache Höhe. Eine deutliche Nachwirkung war vorhanden. — Für
die Beobachtung des Einflusses elektrischer Ströme unter dem Mikro-
skop giebt Kistiakowsky einen Objectträger mit unpolarisirbaren Elek-
troden an und erwähnt, dass es auch hier gelinge, »eine sichtliche und
»nicht zu verkennende Beschleunigung an Präparaten, deren selbstän-
»dige Bewegung sich nach längerem Liegen in Humor aqueus bcdeu-
»tend verlangsamt hat«, wahrzunehmen. — Kistiakowsky zieht aus
diesen Beobachtungen den Schluss, dass der constante wie der In-
ductionsstrom eben so wie die Wärme und wie Kali und Natron erre-
üeber dio Flinimprhpwoßiinc. 327
pond auf die Fliinniorbowogunt; wirken. Ob dieser Einfluss der Eleklri-
citat nicht vielleicht auf Erwärmung dos einen starken Widerstand
bietenden Präparates zu setzen sei, wird nicht in Erwägung gezogen.
Die nächste auf unseren Gegenstand bezügliche Arbeit ward von
M. Roth geliefert. Nachdem derselbe in einer kurzen Miltheilung ')
darauf aufmerksam gemacht hatte, dass alle »protoplasmaartigen Be-
wegungserscheinungen« (Protoplasma-, Flimmer-, und Spermabewe-
gung) in schwach alkalischen, niemals in sauren Flüssigkeiten statt-
linden, wendet er sich in einem zweiten Artikel 2) der Flimmerbewe-
gung speciell zu. Er beobachtete vorzugsweise Flimmerzellen aus den
Eileitern von Fröschen und von den Kiemen von Anodonta. Letztere
wurden in Wasser, erstere in lodserum , Kochsalz von 0,5% oder
phosphorsaurem Natron von 2 0/o bis 2,5% untersucht. Roth bestä-
tigte den beschleunigenden Einfluss der Wärme. Er findet die obere
Temperaturgrenze für die Bewegung der Flimmerzellen des Frosches
bei 440 bis 45" C. Nur kurze Zeit auf diese Temperatur erwärmt, kön-
nen die Flimmerzellen beim Abkühlen wieder erwachen ; bei längerer
Einwirkung tritt Tod ein. Dieser erfolgt meist erst bei 48**, »unter un-
günstigen Bedingungen« aber schon früher. Aehnliches gilt für die
Flimmerzellen von Anodonta und vom Kaninchen. — Die Erfahrungen
von Purkinje und Valentin, über den Einfluss niederer Tempef^ur-
grade, werden bestätigt. Bei Zellen von Anodonta konnte die Bewe-
gung noch nach kurz dauernder Abkühlung auf — 3*^ bis —i^C. wieder
erweckt werden. »Bei — 6^ C. war immer Tod eingetreten.« — Roth
fand ferner, dass durch Aenderung der Concentration des Mediums
eine zur Ruhe gekommene Bewegung wieder hergestellt werden könne.
War die Flimmerung (beim F'rosch) durch Kochsalz von 1 y^, abge-
schwächt, so erschien sie beim Verdrängen mit Kochsalz von 0,5%
wieder in der alten Lebhaftigkeit. Nachdem Roth noch den günstigen
Einfluss der Alkalien, den schädlichen der Säuren und Metallsalze be-
stätigt hat, gedenkt er schliesslich noch der Wirkung mechanischer
Reize. Er konnte die stillstehende Bewegung durch Klopfen auf das
Deckgläschen , durch mehrmaliges Lüften desselben , am besten aber
durch einen Flüssigkeitsstrom (von derselben Concentration) wieder
erwecken, den er unter dem Deckglase durchgehen liess. Diese Ver-
suche reichen für Roth aus, eine »mechanische Reizbarkeit« der Flim-
merhaare zu beweisen.
i) Roth, Ueher die Reactionen der Gewebe mit protoplasraaartigen Bewe-
Sungserscheinungen. Vikchow's Arcii. Bd. XXXVI. 1S66, p. 145 — 147.
2) Roth, Ueber einige Beziehungen des Flimmcrcpithels zum conlractilen Pro-
toplasma. Ib. Bd. XXXVII. pag. 184 — 195.
328 Th. W. Enffelmann.
Fast gleichzeitig mit der Rorirschen Arbeit erschien ein Aufsatz
von Kühne 1), in welchem der wichtige Nachweis geliefert wurde, dass
die Flimmerzellen zu ihrer Thätigkeit Sauerstoff bedürfen. Verdrängte
Kühne, der an Flimmerzellen von Anodonta experimentirte , die atmo-
sphärische Luft in der feuchten Kammer durch reinen Wasserstoff, so
hörte die Bewegung nach einiger Zeit auf, um, bei Zumischung schon
äusserst geringer Sauerstoffmengen, sofort wieder zu beginnen. Kühne
überzeugte sich mittelst des Spectroskops bei Flimmerzellen , die in
Hämoglobinlösung lagen, dass der Stillstand erst dann eintrat, wenn
aller Sauerstoff verschwunden war. Auf demselben Wege überzeugte
er sich, dass die Flimmerzellen der Muschel nicht bloss der Luft, son-
dern auch dem Oxyhämoglobin den Sauerstoff entziehen können. —
Kohlensäure bewirkte, selbst wenn sie in nur sehr kleinen Mengen
einem sauerstoffhaltigen Gasgemisch beigemengt war, sofort Stillstand,
der durch reine atmosphärische Luft aufgehoben werden konnte.
Brachte Kühne die Bewegung durch Dämpfe von kohlensaurem Ammo-
niak zur Ruhe, so konnte er sie durch Essigsäuredämpfe wieder er-
wecken, und umgekehrt den Säurestillstand durch Ammoniak aufhe-
ben. Merkwürdigerweise gelang es ihm aber nie, einen Ammoniak-
stillstand durch Kohlensäure zu beseitigen, woraus er auf eine specifisch
schädliche Wirkung der Kohlensäure schliesst. Von Kohlenoxyd sah
Kühne keine Wirkung.
Eine kurze Erwähnung verdient die Beobachtung von Huizinga^),
dass Ozon erst beschleunigend, dann hemmend auf die Flimmerbewe-
gung von Opalina ranarum wirke; ferner die vor Kurzem erschienene
Arbeit von A. Stuart «^j, worin in Bezug auf Temperatur die Erfah-
rungen von Purkinje und Valentin, und von CALLiBURcfes, in Bezug auf
Elektricität die von Kistiakowsky, ebenso der von Virchow entdeckte
Einfluss der Alkalien, die schädliche Wirkung der Säuren, endlich der
schon von Purkinje und Valentin und unlängst von Roth beobachtete
Einfluss verschieden concentrirter Lösungen von chemisch indifferen-
ten Substanzen bestätigt werden.
Meine eigenen Versuche wurden Ende März 1867 begonnen. Ein
Theil der Resultate, zu welchen ich bis Mitte Juni gelangt war , findet
1) W. Kühne, lieber den Einfluss der Gase auf die Flimmerbewegung. Arch.
f. miiir. Anat. 1866. II, p. .372 — 378.
2) HuiziNG.\, Chemisch-biologische Notizen über Ozon. Centralbl. f. d. med.
Wiss. 1867. pag. 323.
3; Alex. Stuart, Ueber die Flinimerbewegung. Diss. inaug. Dorpat 1867. —
S. a. Ztschr. f. rat. Med. 1867.
Tphor dif Fliininprbpwpüiitiir. ii29
sich publieirl in oinor \orlauligon Mitlhoilung '] und auslühilicli itn
Archiv von Dondkrs und Kostkr- . Die Versuche \^;lren meist an Flini-
nierzcllen der UacluMischleinihavU vom Frosch] aniieslelll und ich be-
diente mich bei vieU-n derselben einer feuchten Kammer eigener Con-
struclion. weh-he das Durchleiten \on Gasen , elektrische Reizung mit
unpohu-isirl)aren Kleklroden, und die Anwendung aul' dem heizbaren
Objecttisch gestall«'te. Die Hauptergebnisse waren folgende. In Was-
serstoH" erlischt die Bewegung. Der Wasserstoffstillstand kann durch
SauerslolV aber auch ohne SauerstolTzulrilt durch Säuren und Alkalien
aufgehoben werden, falls er nicht zu lange Zeit bestanden hat. — Rei-
ner Sauerstoff besclileunigt im Allgemeinen die Bewegungen. — Die
verschiedensten Siiuren , wie Kohlensäure , Milchsäure , Essigsäure,
Salzsäure, Schwefelsäure, erwecken die in atmosphärischer Luft oder
reinem Sauerstoff in sogenannten indifferenten Flüssigkeiten erloschene
Bewegung wieder, und bewirken erst nach längei'er Einwirkung Still-
stand unter Trübung der Zellen. Der Kohlensäurestillstand kann durch
einen Strom Luft, Sauerstoff oder Wasserstoff, der durch andere Säu-
ren herbeigeführte Stillstand aber in der Regel nur durch Alkalien auf-
gehoben werden. Ammoniak, Kali und Natron erwecken die in Sauer-
stofT, unter Umständen auch die in Wasserstoff erloschene Bewegung
ohne vorherigen Sauerstoffzutritt. Im Ueberschuss bewirken sie Still-
stand, welchen Säuren — auch Kohlensäure — beseitigen können. —
Durch Temperaturerhöhung kann die in Luft, Sauerstoff, für kurze
Zeit oft auch die in Wasserstoff zur Ruhe gekommene Flimmerung wie-
der angefacht werden. — Die Bewegungen der Spermatozöen des
Frosches verhalten sich unter dem Einfluss der hier genannten Agen-
tien im Wesentlichen ebenso wie die Flimmerbewegung. — Zugleich
wurden einige Beobachtungen über Richtung, Frequenz und Form der
Bewegungen der Flinnnerhaare mitgetheilt. Die Thatsache, dass die
Flimmerhaare nach einer Richtung — vorwärts — schneller als nach
der entgegengesetzten schlagen , wurde erklärt durch den Nachweis
besonderer elastischer Kräfte, welche an der Basis jedes Flimmerhaars
wirken, das Haar in vorwärts geneigter Lage zu halten bestreben, sich
der Rückwärtsbewegung des Haars widersetzen. F^ndlich wurde, zur
Erklärung der »unter gewöhnlichen Bedingungen« nach Entfernung
aus dem Organismus eintretenden Starre der Flimmerhaare , die An-
1 Leber die Fliinmerbewegung. — Cetitralbl. f. d. med. Wissensch. 1867.
Nr. 42.
2 Over de trilbeweging. — Nederl. .Vrcliicf voor Gences-en Nntiunkunde.
Deol III. 1867. p. 30'. -356. M. 1 Plaal.
330 Th. W. Engelinanii.
nähme herbeigezogen, dass diese Starre auf Bildung eines Gerinnsels
(etwa Myosin) in der conlractilen Substanz des Haares beruhe, und die
Vermuthung ausgesprochen, dass die belebende Wirkung der Säuren
und Alkalien möglicherweise der Verflüssigung dieses Gerinnsels zuzu-
schreiben sei. — Im October vorigen Jahres nahm ich die Versuche
wieder auf und untersuchte zunächst den Einfluss von Wasser, von
verschieden concentrirten Salzlösungen, von Aether, Alkohol, Schwe-
felkohlenstoff, Chloroform und von verschiedenen Giften. Eine kurze
Notiz 1) hierüber wurde durch Professor Donders der k. Akademie der
Wissenschaften zu Amsterdam mitgetheilt.
Inzwischen ist noch eine unseren Gegenstand betreffende Arbeit
von HuiziNGA^j erschienen. Derselbe stellte seine Versuche an Opalina
Ranarum an. Dabei fand er die Angaben von Kühne und mir über
Säure- und Alkalistillstand bestätigt; unter dem Einfluss von Chloro-
form, Aether- und Schwefelkohlenstoffdämpfen sah er die Bewegun-
gen erlöschen, bei Aether zuweilen erst nach 20 Minuten. Bei einmal
durch Aether oder Chloroform bewegungslos gewordenen Opalinen er-
wachte nach Zufuhr reiner Luft die Bewegung nicht wieder. Beim
Schwefelkohlenstoff gelang diess vorübergehend. Schweflige Säure
tödtete schon in äusserst kleinen Mengen, und weder Luft noch Ammo-
niak konnten diese Wirkung aufheben. In Schwefelwasserstoff lebten
viele Opalinen noch nach 5 Minuten. Chlor, Ozon und salpetrige Säure
bewirkten schnell Stillstand , den weder Luft noch Ammoniak besei- I
tigten.
i) Trilhaar-en protoplasmabeweging onder d. invloed v. verschill. agentia. —
Process verbaal d. k. Akad. v. wetensch. — Vergadering 30 November 1867.
2) HuiziNGA, Ueber die Einwirkung einiger Gase auf Flimmer-, Blut-, und Ei-
terzellcn. — Geutralbl. f. d. med. Wiss. 25. Jan. 1868.
Hebpr die Flimmerbeweßiiiiß. 331
Beschreibu-ng einer Gaskammer für mikroskopische
Untersuchungen.
Bei den meisten der folgenden Versuche brauchte ich einen
Apparat, der die Einwirkung von Gasen auf das im Gesichtsfeld des
Mikroskops befindliche Object zu beobachten gestattete. Hierzu Hess
ich eine Gaskammer verfertigen, die so eingerichtet ist, dass sie sowohl
allein, als in Verbindung mit dem heizbaren Objecttisch von Max
SciiuLTZE gebraucht werden kann, und zu gleicher Zeit die Anwendung
der elektrischen Reizung in verschiedenen Gasen erlaubt. Es können
dabei die stärksten Objectjvsysteme angewendet werden, und weil der
Apparat klein ist, kann man ihn ohne Weiteres bei jedem Mikroskop
gebrauchen. Seine Dauerhaftigkeit und die Bequemlichkeit mit der er
sich handhaben lässt, möchten ihn vor ähnlichen, früher beschriebenen
Apparaten empfehlen. Man kann ihn vom Mechanikus Herrn Olland in
Utrecht beziehen.
Die Gaskammer (s. Tafel VI.. Fig. 1 — 3) besteht aus einen Käst-
chen von 80 Mm. Länge, 42mm. Breite und 6 Mm. Höhe. Die Seiten-
wändo sind von Messing; den Boden bildet eine mittelst eines schwer
schmelzbaren Kittes luftdicht eingekittete Glastafel (/") von 1 Mm. Dicke,
SO Mm. Länge und 36 Mm. Breite. Der Deckel des Kästchens {aa) ruht
auf einem 1 Mm. tiefen stufenartigen Ausschnitt der Seitenwände und
ist abhebbar. Beim Gebrauche wird dieser Ausschnitt der Gaskammer,
in welchen der Deckel eingelegt wird, oder die Ränder des Deckels
selbst mit etwas Fett bestrichen, und der Deckel fest aufgedrückt. Diess
reicht bei weitaus den meisten Versuchen zu einem völlig luftdichten
Verschluss hin. Nur wenn der Druck im Innern des Gaskammer auf
eine bedeutende Höhe steigen sollte , kommt es vor, dass die blosse
Adhäsion nicht mehr genügt, und der Deckel dann von Innen gelüftet
wird. In diesen Fällen kann man den Deckel durch eine oder zwei
Messingklammem {cc Figg. 1, 2, 3) in angepresster Lage fixiren.
Für gewöhnlich dient ein Messingdcckel von 76,5 Mm. Länge,
Iio2 Tli. W. Kncplmann.
36 Mm. Breite und I Mm. Dicke, der in seiner Mitte ein Loch (/; Fii^. 1
u, 2), von etwa 15 Mm. Durchmesser hat. Diese OefFnung wird ver-
schlossen durch ein auf der innern Seite des Deckels, mittelst irgend
eines in Wasser unlöslichen Kittes befestigtes Deckglas von beliebiger
Dünne. Die Ränder der Oeflnung sind nach unten keilförmig zuge-
schärft, so dass die Oeffnung auf der äusseren Seite einige Millimeter
weiter ist (etwa 17 Mm. im Ganzen) als auf der inneren Seite. Diese
Einrichtung gewährt den Vorlheil , dass man mit breitgefassten , star-
ken Objectivsystemen das Präparat in grösserer, namentlich seitlicher
Ausdehnung untersuchen kann als es bei einer cylindrischen Form des
Loches möglich sein würde. — Das Object kommt in einem Tropfen
Flüssigkeit auf die Seite des Deckgläschens, welche beim Auflegen des
Deckels dem Inneren der Gaskammer zugekehrt wird. Der Deckel lässt
sich, wie man schon aus der Beschreibung sieht, -ganz wie ein gewöhn-
licher Objectträger handhaben. Man vermeidet hierbei den Uebelstand,
welcher die neuerdings von Böttcher , Stricker, Huizinga angegebe-
nen Apparate kennzeichnet, dass nämlich das Deckglas selbst, aul
welchem das Präparat liegt, auf den mit Fett bestrichenen Rand auf-
gedrückt wird. — Der verticale Abstand des Objects von der Ober-
fläche des Objecttisches beträgt im Mittel nur etwa 4 Mm. Die Hellig-
keit des Gesichtsfeldes nimmt hierbei so wenig ab, dass bei nur eini-
germassen erträglichem Himmel, selbst bei Immersionslinsen wie ]Vr. 10
von HART^ACK noch ziemlich enge Diaphragmen im Objecttisch benutzt
werden können. — Will man die Gaskammer auf dem heizbaren Ob-
jecttisch von ScHULTZE benutzen , welcher nur ein dünnes Strahlen-
bündel durchlässt, so kann es bei ungünstigem Himmel wünschens-
werth werden, das Object in eine grössere Nähe zum Spiegel zu brin-
gen. Man kann dann einen gläsernen Deckel von denselben Dimensio-
nen wie dererstere, aber mit weiterer Oeffnung, benutzen, auf dessen
innere Seite ein etwa 2 Mm. hoher, unten durch das Deckglas ver-
schlossener Glasring aufgekittet ist. Dann befindet sich das Object nur
etwa iiMm. über der Oberfläche des Objecttisches. Wenn man mit
schwächerer \ ergrösserung untersuchen u ill , kann man den Tropfen
mit dem Object auch unmittelbar auf die Glasplatte bringen, welche
den Boden der (iaskammer bildet. Auch könnte man, obschon weniger
praktisch, Glasring und Deckglas weglassen, am Tubus des Mikroskops
eine feuchte Kammer der RECKLiNGHALSEN'schea Conslruction anbringen
und diese aussen auf den Deckel der Gaskammer aufsetzen. Das Object
\Aürde dann auf den Boden der Gaskammer kommen. In diesem Falle
befände sich das Objectivsystem in einem mit der Gaskammer commu-
nicircnden Rnum. Ks kann duich die Oetfnung im Deckel beliebig weil
IJeber die Fliminerbewegiing. 3Ji'i
iti »lio Gnskaiiiinor hinabgesenkt worden. 1)(m- !ir(:)ss<'r(' Durchmesser
der OclVniinij: im Derkc^l oilanbt sclbsl bei liefern Stand des Objectivs
genügende seitliehe K\cursioncn. Für ObjeetivsN steine, deren Fassung
nicht allzubreit ist, reicht ein Durchmesser der Oetfnunc von 20 Mm.
aus. Auf die Zu^el•lässigkeit der Tliermonieterangaben bei Anwendung
der Gaskaivnner auf dem heizbaren Objecttiseh kommen wii- spiiler
zurück.
im in der (iaskanuuer elektrisch zu reizen, kann man sich eines
gläsernen Deckels Fig. i u. •■>' von den oben angegebenen Dimensio-
nen bedienen, welcher in der Mille eine oben 17, unten loMm. weile,
ui\len durch ein Deckglas verschlossene Oeffnung besitzt. Unweit die-
ser Oeftnung (ludet sich zu beiden Seiten je eine kleine eylindrische
Durchbohrung im Deckel, durch welche die Elektroden in's Innere der
Kammer gelangen. Auf die Einrichtung der Elektroden komme ich bei
Besprechung des Einflusses elektrischer Reizung zurück. — Das Object
befindet sich auch hier in einen» an der Unterseite des Deckgläschens
hängenden Tropfen. Reizt man auf dem heizbaren Objecttiseh, so be-
nutzt man, falls die Beleuchtung nicht günstig genug sein sollte, besser
einen Glasdeckel mit weiterer Oeflnung, und kann, wie oben, entwe-
der das Deckglas durch Vermittlung eines Glasringes herabrücken, oder
man setzt eine Hi:cKi.i.>GHAi:sEN'sche Kammer auf und bringt das Object
und die Elektroden auf den Boden der Gaskammer,
Um die Gase in den Apparat ein- und auszuführen, ist in der Mille
von jeder der zwei kürzeren Seitenwände eine Messingröhre von 4 Mm.
Dicke und 2 Mm. Lumen eingeschraubt, über welche der Kautsch uk-
scblauch gezogen wird. Bei Anwendung auf Schultzens heizbarem Ob-
jecttiseh ist es, der Erhitzung der Kautschukschläuche halber, nölhig,
dass die Enden dieser Röhren über die Räntler des Tisches herausra-
gen. F^ine Länge von 36 Mn). ist hierzu ausreichend. — Wie man sieht,
kann die Gaskammer auch als gewöhnliche feuchte Kammer benutzt
werden. Sollten die langen Ansatziöhren beim gewöhnlichen Gebrauche
unbequem werden, so schraubt man sie ab und verschliessl die Oeff-
nungen mit nassen Papierpfröpfen u. dgl., oder schraubt kurze Röhr-
chen an. Man hat hier den Vorlheil vor der RECKLrxGHArsE.Vschen Kam-
mer, dass Mikroskop und Object sich nicht in fester Verbindung mit
einander behnden.
334 Th. \V. Eiigelmanii,
Untersuch iing.
Bei der mikroskopischen Beobachtung der Schwingungen von
Fiimmerhaaren hat man vor Allem auf Form und Geschwindigkeit der
Bewegungen zu achten. Aendert sich die Bewegung, so hätte man
jedesmal zu untersuchen, ob und wie sich jeder Einzelne dieser Facto-
ren ändere. Ehe wir jedoch diese Aenderungen betrachten, mögen der
Flimmerbewegung, so wie sie unter normalen Verhältnissen von Statten
geht, einige Worte gewidmet werden. Wir haben hierbei nur flim-
mernde Epithelzellen im Auge , besonders die der Bachenschleimhaut
des Frosches, nehmen also keine Rücksicht auf unter dem Einfluss des
»Willens« stehende Wimpern, welche z. B. bei den Infusorien in so
grosser Verbreitung vorkommen.
Die normalen Schwingungen der Flimmerhaare erfolgen in einer
senkrecht auf der Oberfläche der Zelle stehenden Ebene. Davon über-
zeugt man sich leicht — z. B. an den Fühlern lebender Süsswasser-
schnecken , an den Kiemen von Muscheln , an quer herausgeschnittenen
Streifen der Rachenschleimhaut vom Frosch — wenn man in der Rich-
tung dieser Schwingungsebene auf die Zellen sieht. Blickt man tan-
gential zur Oberfläche der Zelle in der Schwingungsebene, so erkennt
man, dass diese Letztere genau senkrecht auf der Oberfläche der Zelle
steht. Blickt man vertical von oben auf die Zelle, so scheint sich jeder
Punct eines Haares in einer geraden Linie hin und her zu bewegen.
Zugleich bemerkt man , dass benachbarte Flimmerhaare in parallelen
Richtungen schwingen. Diese Richtungen sind constant und, wie sich
schon aus den gröberen mechanischen Wirkungen der Flimmerthätig-
keit auf thierische Oberflächen leicht ergiebt, im Allgemeinen der Längs-
axe des betreffenden Organs (Mund- und Rachenhöhle , Oesophagus,
Luftwege, Tuben etc.) parallel.
Zur Untersuchung des Verlaufs der Bewegung innerhalb der
Schwingungsebene, zur Ermittelung der verschiedenen Lagen, welche
das Maar während eines Hin- und Hergangs nacheinander annimmt, ist
es nöthig , senkrecht zur Schwingungsebene auf die Flimmerzellen zu
blicken; man muss also die Zellen so lagern, dass die Schwingungs-
Ueber die FlimmerbeweRung. 335
ebene der Oberflfiche des Objectlisches parallel ist. Diess erreicht man
z. B. bei thierischen Schleimhäuten , wie der Rachenschleimhaut des
Frosches leicht, wenn man schmale Längsstreifen der Haut genau in
ilcr Richtung der Bewegung herausschneidet. Dann hat die Schwin-
gungsebenc von sell)st die gewünschte Lage.
Valentin •) , dessen Angaben in die Lehrbücher der Physiologie
übergegangen sind , unterscheidet nun vier Typen der Bewegung : die
hakenförmige, die trichterförmige, die schwankende (pendeiförmige)
und die wellenförmige Bewegung. Von diesen soll die hakenförmige
bei weitem die häufigste sein (bei allen Wirbellhieren , Gastropoden,
Muscheln etc.). Die schwankende Bewegung soll sich nur finden, wo
die Flimmerbewegung schwächer wird und auch dann nur ausnahms-
weise. Gleichfalls ausnahmsweise und nur wenn das Phänomen im
Erlöschen begriffen war, glauben Purkinje und Valentin die wellenför-
mige Bewegung bei einzelnen Wirbelthieren bei ihren ersten Unter-
suchungen gesehen zu haben. Später ist sie Valentin nicht mehr vor-
gekommen. Die trichterförmige Bewegung soll bei den »mehr rund-
lichen Haaren« nicht selten wahrgenommen werden. — Die Annahme,
dass die hakenförmige Bewegung die normale Form sei , setzt voraus,
dass das Flimmerhaar im normalen Zustand nur auf bestimmten Stre-
cken seiner Länge activ beweglich sei. In den häufigsten Fällen haken-
förmiger Bewegung würde ein der Basis anliegendes Stück des Haars
active Beweglichkeit besitzen, der übrige Theil bis zur Spitze aber steif,
nur passiv beweglich sein. Das passiv bewegliche Spitzenstück kann
i) R. Wagner's Handwörterbuch der Physiologie. Bd. I. pag. 502. 1842. — Hier
heisst es: »Die Bewegungsart der Wimpern .... kann auf folgend^ vier Typen re-
ducirl werden : 1) die hakenförmige Bewegung (motus uncinatus). Hier macht jedes
einzelne Haar Bewegungen gleich einem Finger, welcher abwechselnd gebeugt und
gestreckt wird. Bei kürzeren Haaren oder Läppchen zeigt sich bei dieser Bewegungs-
weisc nur eine einfache Entwicklung, bei längeren dagegen, z. B. an denen der
Kiemen von Anodonta bisweilen auch eine doppelte, ganz wie bei einem mit drei
Phalangen versehenen Finger. Die Realisation dieser Bewegung scheint niu' denk-
bar, indem wir uns eine contractilc, in dem Haare gelegene Substanz, oder indem
wir eine analoge Einrichtung, wie durch Fingersehnen realisirt wird, uns vorstellen.
2) Die trichterförmige Bewegung (motus infundibuliformis). Hier dreht sich das
Haar um seine Basis als den Mittelpunct und beschreibt mit der Spitze einen voll-
ständigen Kreis, so dass es im Ganzen eine Kegeloberflächc bei jeder einmali-
gen Drehung durchläuft. 3) Die schwankende Bewegung (motus vacillans). Hier
schwankt das Haar nur mehr pendclartig von einer Seite zur andern. Endlich 4)
die wellenförmige Bewegung (motus undulatus). Hier schlängelt sich das Haar,
ungefähr wie ein im Wasser schwimmender Vibrio oder wie der Faden eines Sper-
matozoon.«
33tt Hl. W. Kiiiieliiiiuiii.
nun aber, wie die Beobachtung zeigt, selbst bei Wimpern benachbarter
Zellen sehi" verschieden lang sein. Zuweihni ist nur die äussersle Spitze,
zuweilen das Haar last in seiner ganzen Länge steif. Es kommen nach
Valentin auch Fälle vor, in denen ein Haar doppelte Hakenbiegung
zeigt, etwa wie bei einem mit drei Phalangen versehenen Finger. Hier
würde man von der Basis des Fingeis ausgehend erst ein bewegliches,
dann ein steifes, dann wieder ein bewegliches und nach diesem wieder
ein steifes Stück haben ') .
Alles diess beobachtet man aber an Wimpern , die sich nicht
mehr unter normalen Bedingungen befinden. Nimmt man an , dass
alle Flimmerhaare von ein und derselben Localität in allen wesent-
lichen Puncten gleichgebaut seien, gegen welche Annahme wol Nie-
mand etwas Stichhaltiges wird einwenden können , so muss man
aus obigen Thatsachen schliessen , dass unter normalen Verhältnis-
sen jedes Flimmerhaar an allen Stellen seiner Länge active Beweg-
lichkeit besitzt , dass aber unter noch näher zu ermittelnden Einflüssen
bald die eine bald die andere, bald eine kürzere bald eine längere
Strecke eines Haares diese active Beweglichkeil verliert, starr wird.
Diess zugegeben darf man auch behaupten , dass unter normalen Ver-
hältnissen auf allen Strecken der Haarlänge wirklich eine active Bewe-
gung stattfinde und es fragt sich nur, ob diese Bewegung auf allen
Stellen der Länge gleichzeitig, oder ob sie an verschiedenen Stellen zu
verschiedenen Zeiten und dann in welchei" Reihenfolge sie stattfinde. —
Die Beobachtung entscheidet für ein wellenförmiges Fortschreiten der
Bewegung von der Basis des Haars nach der Spitze zu. Man sieht diess
oft genug an Flimmerhaaren von Wirbelthieren oder Mollusken, wenn
die Schwingungen langsamer werden ; insbesondere wenn die Verlang-
samung in sehr verdünnten Lösungen kaustischer Alkalien stattfindet.
Dasselbe gilt von Samenfäden, z. B. des Frosches, die sich in Samen-
flüssigkeit bewegen. Dasselbe habe ich oft beobachtet an Flimmerzellen
vom Frosch, wenn sie durch Kohlensäure oder andere Säuren aus dem
Wasserstort'stillstande er\\eckt wurden. Es begann dann die erste Be-
wegung — die Rückwärtsbeugung des Haars — mit einer bogenför-
migen Krümmung desselben an der Basis , welche wie eine Welle an
einem Seil nach der Spitze zu fortlieL Aus der Form der Krümmungen,
welche hierbei das ganze Flimmerhaar nacheinander annahm, Hess sich
schliessen, dass der Bewegungsvorgang ungefähr in dem Momente die
Spitze des Haars erreicht hatte, wo ein an der Basis gelegener Punct
I Aehnliclios sieht man bekanntlich \n-\ Samenfäden , \vn oft nur ein Spjtzen-J
liick oder Ulli' dei' Hasaitiieil des l''nd(Mis si^liw jiijil.
Ueber die Flimineibeweguiig. 337
zum ersten Male wieder in seiner Gieicligewichlslace angekommen war.
Die Länge des Haars war also ungefähr gleich der halben Wellenlänge.
In ilem Monienl, wo die Welle an der Spitze ankommt, beginnt sich
das Haar an der Basis von Neuem bogenförmig zu krümmen und zwar
nach der entgegengesetzten Seite als vorher, also mit der Concavität
nach vorn. Auch diese Kiümmung schreitet wie eine Welle, deren
Länge etwa der doppelten Länge des Haares gleich ist, nach der Spitze
zu fori, jedoch, wie die Beobachtung lehrt, mit grösserer n\ittlerer Ge-
schwindigkeit als die erste *). Somit setzt sich jede vollständige Schwin-
gung eines Flimmerhaares aus zwei halben Schwingungen zusammen,
deren erste eine längere Dauer besitzt als die zweite.
Die beschriebenen Krümmungen des Haares können nur zu Stande
kommen , indem das Haar sich abwechselnd in der einen und in der
andern Längshälfte verkürzt und wieder streckt, und zwar muss der
Vorgang der Verkürzung bei Rückwärtsbeugung des Haares sich in der
hinteren , bei Vorwärtsbeugung sich in der vorderen Längshälfte des
Haares von Querschnitt zu Querschnitt von der Basis bis zur Spitze
wellenförmig fortpflanzen.
Durch directe Beobachtung kann man sich wegen der grossen
Schnelligkeit der Bewegungen nicht davon überzeugen , dass die wel-
lenförmige Bewegung die normale sei. Doch ist sie bei verlangsamter
Flimmerlhätigkeit. wie schon erwähnt, oft wahrzunehmen. Die anderen
Formen der Bewegung, wie die hakenförmige, die pendelnde, die trich-
terförmige , entstehen aus der Wellenform dadurch , dass das Haar an
gewissen Stellen steif, starr wird, seine active Beweglichkeit verliert.
Welche Theile des "Haares bei jeder einzelnen der genannten Formen
steif sind lässt sich leicht schliessen und bedarf keiner näheren Erwäh-
nung. Ebensowenig die Thatsache , dass auch viele Uebergänge zwi-
schen den genannten Formen der Bewegung vorkommen.
Es fragt sich nun, warum alle Flimmerhaare gerade nach der
einen Richtung normal mit grösserer Geschwindigkeit schwingen, als
nach der entgegengesetzten ; w arum die Rückwärtsbeugung langsamer
als die Vorwärtsbeugung geschieht? Hierüber vermag die Unter-
suchung matt schlagender oder bereits ruhender Wimpern einigen
Aufschluss zu seben. Man schneide aus einer flimmernden Schleim-
1] Nimmt man an, ein im Maximum der Bewegung befindliches Flimnierhaar
von 0,01 Mm. Länge mache 12 ganze Schwingungen in der Secunde, so ergiebt sich
daraus für die mittlere Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Bewegungsvorgangs im
Flimmerhaar der Werth von 0,24 Mm. in der Secunde. Dieser Werlh kann beim
Firlahmen der Bewegung dui'ch alle Zwischenwerthe bis auf 0,005 Mm. und liefer
herabsinken.
Bd. IN . 3. 22
338 Tli. W. Engelmami,
haut, z. B. des Oesophagus vom Frosch einen schmalen Längsstreifen
heraus , bringe ihn in Kochsalzlösung von 1 % in die feuchte Kam-
mer und warte bis die Bevsegung nachlässt.. Nach kurzer Zeit, oft
schon unmittelbar nach Anfertigung des Präparats , findet man beim
Untersuchen des flimmernden Randes unter dem Mikroskop Zellen-
reihen, deren Wimpern theils nur noch langsame und kleine Schwin-
gungen ausführen, theils schon zu schlagen aufgehört haben. Betrachtet
man die noch in massiger Bewegung befindlichen Wimpern bei stär-
kerer Vergrösserung, so erkennt man, dass in weitaus den meisten
Fällen die Haare fast in der ganzen Länge steif sind, nur passiv bewegt
werden, und nur ihre Basalstücke sich verkürzen und strecken. Die
Excursionsweite der Schwingungen ist hierbei mehr oder minder be-
trächtlich verringert, in der Regel bei allen Haaren derselben Zelle
gleichmässig. Während eine in lebhafter Bewegung befindliche Wim-
per, als Rad!us gedacht, einen Kreisausschnitt von 90" bestreichen
kann, misst hier beispielsweise die Schwingungsweite nur noch 20 'J.
Sogleich fällt auf, dass alle Haare nach einer Seite geneigt sind und nur
in dem auf dieser Seite gelegenen Quadranten ihre Schwingungen aus-
führen. Sie vermögen sich nicht mehr vertikal aufzurichten, oder gar
in den anderen Quadranten hinüberzuschwingen. Sie oscilliren um
eine schiefe Gleichgewichtslage. Diese ist, wie die Beobachtung zeigt,
nach der Seite geneigt, nach welcher die Strömung gerichtet ist.
Betrachtet man nun die bereits völlig zur Ruhe gekommenen Wim-
pern , so fällt auch hier sofort auf, dass dieselben nicht vertikal gerade
gestreckt dastehen, sondern alle nach einer und derselben Seite geneigt
sind, und zwar ergiebt sich auch hier, dass die Spitzen der Haare nach
der Seite zu geneigt sind, wohin während des Lebens die Strömung
auf der flimmernden Oberfläche gerichtet ist. Auf der Mundschleim-
haut vom Frosch sind also beispielsweise alle ruhenden Wimpern schief
nach der Seite des Oesophagus zugeneigt. Die Abweichung des Flim-
merhaares von der Vertikalen kann über 35 "^ betragen. Meist fand ich
25 — 30*^. Es ist bei diesen Messungen natürlich noth wendig, dass die
Schwingungsebene der Haare senkrecht zur Axe des Mikroskops gela-
gert sei. — Man beobachtet dieselbe schiefe Lagerung bei den ver-
schiedensten Formen der Flimmerruhe, z. B. bei Wimpern, welche in
einer Wasserstofl"- oder Kohlensäureatmosphäre zur Ruhe gebracht
worden sind. An einen Tetanus ist also nicht zu denken.
Durch mechanische Mittel, z.B. mit Hülfe eines mikroskopisch fein
zugespitzten Glasstäbchens kann man die schief stehenden Wimpern
unter dem Mikroskop aufrichten und rückwärts umbeugen. Sowie man
loslässt, fahren sie in ihre erste schiefe Stelluna zurück. Ofl"enbar
üeber die Flirarnerbeweguiig. 339
sind also elastische Kräfte Ihätig, welche die Haare in schräger Stellung
fest/uhallon strt'l)on: und /war wirken diese Kräfte bei allen Haaren in
gleiolieni Sinne, und in ungefähr gleicher Stärke. — Dass der Sitz die-
ser elastischen Kräfte an der Basis der Haare ist, ergiebt sich aus dem
Unistande, dass die ruhenden Wimpern in ihrer schiefen Lage vollkom-
men gerade gestreckt und nicht etwa bogenförmig gekrümmt sind. Es
kann also, mit Ausnahme an der Basis, kein merkliches Uebergewicht
der elastischen Kräfte der einen Längshälfte des Haares über die der
andern bestehen ') .
Die Beobachtung in »pendelnder« Bewegung begriffener Wimpern
lehrt nun ferner, dass die an der Basis des Haares wirkenden elasti-
schen Kräfte, und nicht etwa ein auf allen Puncten der Haarlänge vor-
handener Unterschied in der Schnelligkeit des Verlaufs von Verkürzung
und Streckung es ist, welcher verursacht, dass die Vorwärtsbeugung
des Haares schneller als die Rückwärtsbeugung verläuft. Bei der pen-
delnden Bewegung, welche unter verschiedenen Umständen, jedoch
im Ganzen selten, bei nachlassender Bewegung eintritt, ist nämlich das
Basalstück starr, und nur ein kürzeres oder längeres Stück des Haares,
von der Spitze an , beweglich. Hier verlaufen nun Rück- und Vor-
wärlsbeugung gleich schnell, wie man schon daraus folgern kann, dass
an der Oberfläche der Zellen keine continuirliche Strömung, sondern
nur ein schwaches Hin- und Her-Oscilliren der Flüssigkeit zu Stande
kommt. Verkürzung und Streckung müssen also auf jedem einzelnen
Puncto der Länge des Haares mit Ausnahme des Basalstücks unter sich
gleich schnell verlaufen. — Beobachtet man dagegen die sogenannte
hakenförmige Bewegung , welche die weitaus häufigste Form beim
Nachlassen der Bewegungen und dadurch charakterisirt ist , dass nur
das Basalstück noch activ beweglich, das Haar in seiner übrigen Länge
aber steif ist, so findet man selbst bei langsamen Tempo und äusserst
geringer Excursionsweite der Schwingungen (5^) die Flüssigkeit an
der Oberfläche der Zellen stets in continuirlicher, immer gleich gerich-
teter Strömung begriffen. Die Strömung geht stets nach der Seite, wo-
hin die Haare in der Ruhelage geneigt sind. — Nach alledem darf man
nur in den an der Basis der Haare wirkenden elastischen Kräften die
Ursache des Unterschieds suchen , welcher zwischen der Geschwindig-
keit der Rückv\;irls- und der Vorwärlsbeugung der Haare besteht. Da
nun die elastischen Kräfte bei allen Flimmerhaaren aller Zellen in glei-
1) Diess Letztere gilt jedoch nicht für Wimpern aller Localitäten, sondern zü*-
nächst nur für die der Schleimhäute von Wirbeltliieren. Bei Mollusken sind die
Wimpern in der Rnliel.itre häufig stark bogenförmig gekrümmt . mit dcrConcavität,
oder, was niclit selten, sogar mit der Convexität nach vorn.
340 Tli- W. Kiigplinaiin,
chem Sinne wirken, nmss eine continuirliche Ströiiiunij der Flüssigkeit
auf der flimmernden Überfläche zu Stande kommen.
Ein anderer wichtiger Punct , der bei Untersuchung der Flimmer-
bewegung beachtet werden muss , ist die Geschwindigkeit der Bewe-
gungen. Ich verstehe hierunter den Weg, oder den Flächenraum, den
das ganze Flimmerhaar in der Zeiteinheit zurücklegt, also das Product
aus Frequenz (Schwingungszahl) und Schwingungsweite. Diess ist
offenbar das Maass für die Grösse der Bewegung ; nicht aber die Schnel-
ligkeit der Flüssigkeitsströmung an der Oberfläche der Zellen oder gar
die Schnelligkeit des Tempo allein. Der bisherige Sprachgebrauch un-
terschied hier nicht scharf: man findet meist nur gesagt, dass die Be-
wegung schnell oder langsam gewesen sei , sich beschleunigt oder ver-
zögert habe. Damit kann aber einmal — und ist es wol meist — die
Schnelligkeit der durch die Wimperlhätigkeit hervorgebrachten Strö-
mung, zweitens aber die Schnelligkeit des Tempo, d. h. die Frequenz,
und endlich die wahre Geschwindigkeit, in dem oben bezeichneten
Sinne gemeint sein.
Dass die Schnelligkeit der durch die Wimperlhätigkeit hervorge-
brachten continuirlichen Flüssigkeitsströmung nicht ein Ausdruck für
die Geschwindigkeit und Grösse der Flimmerbewegung ist, ergiebt sich
aus der Ueberlegung, dass jede ganze Schwingung eines Flinmierhaares
aus zwei halben Schwingungen von verschiedener Dauer und einander
entgegengesetzter Richtung sich zusammensetzt. Die Grösse des Unter-
schieds zwischen den lebendigen Kräften dieser beiden halben Schwin-
gungen ist es offenbar, von welcher die Geschwindigkeit der Strömung
abhängt. Diese Grösse könnte aber, wie eine einfache Rechnung zeigt,
gewaltige Veränderungen erleiden , während die Geschwindigkeit un-
verändert bleibt, oder sich sogar im entgegengesetzten Sinne ändert.
Die Diff"erenz der genannten lebendigen Kräfte muss z. B. grösser wer-
den, wenn die erste halbe Schwingung des Haares (die Rückwärtsbeu-
gung) um ebensoviel an^ Dauer zunimmt als die zweite halbe daran
verliert. Und umgekehrt muss eine Abnahme der Diff'erenz der leben-
digen Kräfte eintreten, wenn die erste halbe Schwingung an Dauer ab,
die zweite daran zunimmt. Hier könnte es kommen, dass der Unter-
schied der lebendigen Kräfte null wird. Letzterer Fall ist in der pen-
delnden Bewegung verwirklicht. — Aus diesen Gründen sind die oben
beschriebenen Methoden von CALUBuucfes und Kisti.^kgwsky, mit dcnen^
man nur für den Unterschied der genannten lebendigen Kräfte ver-
gleichbare Maasse gewinnt, für die Bestimmung der Gescliwindigkeit
der Fliaunerbewegung streng 'genommen unbrauchbar: der Zeiger aui
fifbor Hip Flimincrhcwciiiiiic:. 341
(Inn Zin'd'hliiU dos Appnriitos von CALLiBURcfes, des SiogcllackAropfon
von KisTiAKOwsKv worden boi dor lobhafteston pendelnden Bewejiuni^
der Flininiorhani-o stillslelien. Nur in den Fällen, wo die Zu- oder Ab-
nahme der DitVorenz dor lebendigen Kräfte auf einer, beide halbe
Schwingungen gleiohniässig und gleichzeitig belreflenden Zu- oder
Abnahme der verschiedenen (Jeschwindigkeiten beruht, würde man
aus der Schnelligkeit der Strömung einen Schluss auf die Schnelligkeit
der Bewegung der Flimmerhanre ziehen dürfen. Diese Bedingungen
scheinen in der That meist erfüllt zu sein.
Selbstverständlich ist, dass die Bestimmung des Tempo (das heisst
der Frequenz , der Schwingungszahl) allein nicht zur Bestimmung der
(leschwindigkeit der Bewegung ausreicht, da die Letztere das Product
aus Schwingungszahl und Schwingungsweite ist. Die Geschwindigkeit
kann zunehmen, wenn bei gleichbleibönder oder sogar abnehmender
Frequenz die Schwingungsweile grösser wird, sie kann zunehmen
durch Steigerung der Frequenz bei gleichbleibender oder abnehmender
Excursionsweite, .sie muss endlich zunehmen, wenn sowol Schwin-
gungsweite als Frequenz wachsen. Alle diese Fälle kommen in Wirk-
lichkeit vor, und es sind durchaus nicht die seltensten, in welchen sich
die beiden Factoren , Frequenz und Amplitude, in entgegengesetztem
Sinno ändern. Es ist desshalb nothwendig, zur Ermittelung der Ge-
schwindigkeit der Bewegung , Frequenz und Schwingungsweite zu-
gleich zu messen. Dieser Forderung kann man innerhalb weiter Gren-
zen ziemlich gut nachkommen, wenn man nur sorgt, dass die Schwin-
gungsebene der Flimmerhaare der Oberfläche des Objecttisches parallel
sei. Die Bestimmung der Frequenz durch Zählen der Schläge unter dem
Mikroskop und die Messung oder Schätzung der Excursionsweite ist nur
dann nicht mehr möglich, wenn die Geschwindigkeit eine sehr bedeu-
tende Höhe erreicht. In diesem Falle sind die Wimperschläge einzeln
nicht mehr zu unterscheiden.
Unter normalen Bedingungen scheint die Geschwindigkeit der Be-
wegungen nun wirklich meist eine solche flöhe zu haben ; wenigstens
habe ich diess bei lebenden kleinen Batrachierlarven und Schnecken
(Planorbis, Paludina) beobachtet, die in demselben Wasser, in welchem
sie gelebt hatten in toto untersucht wurden. Aber auch an frisch und
vorsichtig herausgeschnittenen und in Froschblutserum liegenden Stück-
chen von der Mund- oder Rachenschleimhaut des Frosches kann man
dasselbe unmittelbar nach dem Anfertigen des Präparats, bei gewöhn-
licher Zimmertemperatur sehen. Die Angaben von Krause, der die Fre-
quenz der Wimperschläge (beim Menschen?) auf 190 bis 320 in der
Minute angiebt, und die von Valentin, welcher bei Anodonla nur auf
342 Th. W. Engelmann,
100 bis 150 kam, und ausspricht, » da ss jedes Haar bei normaler Be-
»wegung 2 bis 3, seltner wie es scheint, mehr vollendete Bewegungen
))iu der Secunde vollenden dürfte,« — diese Angaben gellen im Allge-
meinen nur für eine beträchtlich abgeschwächte Bewegung. Untersucht
man die Bewegung beim Frosch unter den eben angegebenen Bedin-
gungen , so erscheint der Wimpersaum im Profil als ein zarter, überall
gleich hoher Schattenstreif, welcher über die äussere Oberfläche der
Epithelzellen hinzieht. Er selbst scheint völlig ruhig zu stehen und
verräth seine Bewegung nur durch die reissende Strömung in welche
er die ihn bespülende Flüssigkeit mit den darin suspendirten festen
Theilchen versetzt. Die Verlangsamung der Bewegung macht sich zu-
erst bemerkbar durch kleine streifige Schatten und Lichter, welche von
Zeit zu Zeit blitzschnell in dem homogen scheinenden Saum auftauchen.
Anfangs kommen sie nur selten und an wenig Stellen, allmählich fol-
gen sie sich schneller und an mehr Orten, und endlich zeigt der grösste
Theil des Flimmersaumes jenes flimmernde Wogen und Wellenrieseln,
welches der Flimmerbewegung eigenthümlich ist. Noch kann man aber
weder die einzelnen Wimpern unterscheiden , noch gar ihre Schwin-
gungen zählen. Der vorher scheinbar continuirliche Gesichtseindruck
ist nur deutlich zu einem intermittirenden geworden. Bald verlang-
samen sich aber die Schwingungen mehr und werden nach einiger Zeit
zählbar. Ich kann sie mit Sicherheit erst zählen , wenn die Schwin-
gungszahl ungefähr auf acht in der Secunde herabgesunken ist. So
weit diese Zahl die von den oben genannten Beobachtern angegebene
übersteigt, gilt sie, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, doch nur
für eine bereits beträchtlich verlangsamte Bewegung. — Wie schnell
das Tempo und wie gross die Schwingungsweite bei noch nicht ver-
langsamter Bewegung sei, lässt sich nicht genau angeben, doch möchte
nach einer Schätzung die Schwingungszahl im Maximum mindestens
12 sein. — Die Schwingungsweite kann im Maximum über 90 '• be- ]
tragen (so häufig in schwach alkalischen Flüssigkeilen) ; wie gross sie
aber im normalen Zustand sei , lässt sich ebenfalls wegen der zu gros-
sen Geschwindigkeit nicht ermitteln. Die Veränderungen, welche 1
Frequenz und Amplitude unter verschiedenen Einflüssen erleiden,
sollen später näher geschildert werden. Das mag aber schon im Vor-
aus bemerkt werden, dass schon sehr geringe Aenderungen der äusse-
ren Bedingungen, Aenderungen, denen die Zellen auch im lebenden
Organisnms normal ausgesetzt sind, genügen, um Tempo und Schwin-
gungsweite in kurzer Zeit erheblich zu ändern.
Wir geihen nun zur Schilderung des Einflusses verschiedener
Agentien auf die Flimmerbewegung über. Da dieser Einfluss bei Wim-
(Tplicr (üp Flinimcrhcwoiriiiiu. 343
poi'hn.nvn vprsohirdrnci' I.oonliläton und 'riiior(> uiclil iiuiiior doiselbc
ist, l)cs('lircil>rn wir erst die Vorsuclic, wololio mit Klimrnerzellon von
Wiihellhioivn — vor Allem von der Rachonschloimluiul dos Frosches — ,
dann die, welche an Süss- und Seewassermollusken angestellt wurden.
Kndlich widm(>n wii- der Bewegung der Samenfäden, die nur ein spe-
ciellcr Fall der Flimmerbewegung ist, einige Worte.
A. Versuche au Fliuuuerzellen vou Wirbel thieren.
I. Einfluss des Wassers auf die F limm erbe we gung.
Der Einfluss des Wassers auf die Bewegungen der Flimmerhaare
ist bisher nicht ausreichend untersucht worden ; doch erwähnen ein-
zelne Untersuchungen schon , dass reines Wasser wenigstens auf die
Flinunerzellen der Schleimhäute von Wirbelthieren sehr schädlich wirkt.
Und hiermit stimmen auch Köllikkr's Erfahrungen an Spermatozoen
überein. Ich untersuchte zuerst, \n eiche Veränderungen die Flimmer-
bewegung in reinem Wasser erleidet.
Bringt man ein kleines Stück der Rachenschleimhaut eines eben
gctödtetcn Frosches in einen Tropfen destillirten Wassers , so zeigt die
l'limmerbewegung in der ersten Minute ausserordentliche Schnelligkeit
und Stärke ') ; aber noch im Laufe der ersten oder in der zweiten Mi-
nute lassen die Bewegungen sowol an Frequenz als an Amplitude merk-
lich nach, und während die Zellen und Flimmerhaare stark quellen,
erstere sich von der bindegewebigen Grundlage abheben und die Kerne
zu grossen hellen Blasen mit deutlich vergrössertem Kernkörperchen
aufschwellen, tritt Stillstand der Haare in schräg nach vorn geneigter
Lage ein. Innerhalb fünf bis zehn Minuten stehen meist alle Wimpern
still. Auch bei Fröschen die bereits zwei, drei, ja sieben Tage todt und
bei gewöhnlicher Zimmertemperatur unter einer mit Wasserdampf ge-
füllten Glasglocke aufbewahrt worden waren, zeigte sich derselbe Ein-
fluss des Wassers: anfangs sehr verstärkte, dann langsam nachlassende
Bewegungen. Noch vier Tage nach dem Tode des Frosches, als die
Schleimhaut schon mit Millionen von Vibrionen bedeckt war, konnten
durch ii'ines Wasser die Bewegungen voi-Ubergehend unzählbar schnell
gemacht werden. Die Zellen sind zu dieser Zeit, wie auch schon am
I, Uiiler Sliirke verstclicn wir liier und in der iMilge immer die Schneiligkcil
der durcii dicFlimmerbewegung verursachten conlinuirliclien Flüssigkeitsströmung.
S. oben.
344 " Jl'- W. Kiiffelmaiiii.
dritten Tage trübe, isoliren sich ungemein leicht, quellen aber in Was-
ser nicht so stark wie frische Zellen , und werden hierbei auch nicht
mehr durchsichtig. Auch tritt der Wasserstillstand die ersten Tage nach
dem Tode nicht so schnell ein, wie bei ganz frischen Flimmerzellen.
Auf sehr verschiedene Weisen kann man , besonders bei frischen
Flimmerzellen den Wasserstillstand aufheben. Vor Allem durch was-
serentziehende Mittel, wie durch Lösungen von Kochsalz, Zucker,
durch Glycerin u. a. m. Welche Höhe die Bewegungen hierbei erreichen,
hängt von der Concentration der Lösung, von der Dauer der Wasser-
einwirkung und von dem Zustande ab , in welchem die Flimmerzellen
sich vor dem Zutritt des Wassers befunden haben. Schon nach 5 Mi-
nuten langer Dauer des Wasserstillstandes können die Bewegungen
für immer erloschen sein. Von einem nur wenige Secunden lang an-
gehaltenen Wasserstillstand kann dagegen durch Kochsalzlösung z. B.
die Thätigkeit der Cilien bis fast zur anfänglichen Höhe wieder gestei-
gert werden, und sich dann lange so erhalten.
Ebenso, wenn gleich minder nachhaltig kann ein kurzer Wasser-
stillstand durch Säuren, z. B. Kohlensäure oder Essigsäure-
dämpfe aufgehoben werden. Die wiedererwachenden Bewegungen sind
aber klein, nicht frequent (selten mehr als 3 in derSecunde) und stehen
bei weiterer Säurezufuhr sehr bald wieder still. Die in den gequollenen
Zellen auftretende Trübung und massige Schrumpfung verräth deutlich
die Anwesenheit der Säure. Dieser Säurestillstand kann durch Luft (bei
Kohlensäure), oder durch Ammoniak (bei Essigsäure) aufgehoben werden.
Von Aether, Alkohol und Schwefelkohlenstoff gilt ungefähr
dasselbe wie von Säuren. Namentlich unter Einwirkung von Aether-
dämpfen kann die in reinem Wasser erloschene Thätigkeit frischer
Flimmerzellen wieder eine beträchtliche Höhe erreichen. Leicht tritt bei
etwas längerer Einwirkung Aetherstillstand ein , der durch Luft wieder
aufgehoben werden kann , dann aber schnell völligem Stillstande Platz
macht.
Anders als die bisher genannten Stoffe verhalten sich die Alkalien.
Ich benutzte meist Ammoniakdämpfe. Liess ich diese in der Gas-
kammer auf frische, soeben in destillirtem Wasser zur Ruhe gekommene
Flimmerzellen einwirken, so erwachte die Bewegung nicht wieder; die
Zellen und Ilaare quollen vielmehr stärker und lösten sich leicht ganz
auf. Waren die Bewegungen durch das Wasser noch nicht völlig zur
Ruhe gebracht, so beschleunigte Ammoniak unter plötzlicher Zunahme
der Quellung den Flintritt des Stillstandes, der dann durch Säuren noch
vorübergehend aufgehoben werden konnte. Durch Kali und Natron
('('Ihm flir FliiiiiiK'ilM'wotriiiiiT. , 345
k;)mi n\i\u den \\ fisserslillsland chonsovvcnig .»Is durcli Ammoniak l)o-
soitigcn.
Auch die Wärme, sonst ein mächliizes Millel zur Beschleuniguni^
erschlalVter Bewegunt; , versagt ihre Dienste, und befördert nui- den
Eintritt der Flimmerruhe. Bei frischen Flimmerzellen vom Frosch,
deren Bewegungen sich in destillirlem Wasser vermindert haben, tritt
der Wiirmestillsland schon viel früher als sonst, und ohne vorausge-
gangene Beschleunigung, häufig schon bei 30" bis 35<> C. ein. Kühlt
man gleich nach dem Eintritt des Wärmestillstandes das Präparat wie-
der ab, so erwachen die Bewegungen \\ iedci-, und dann tritt nach eini-
gen Minuten wie gewöhnlich der Wasscrstillstand ein. Selbstverständ-
lich wird ein einmal eingetretener Wasserstillstand durch Temperatur-
erhöhung nicht aufgehoben.
Auch elektrische Reizung beschleunigt nur, unter Steigerung
der Quellung, den Eintritt des Wasserstillstands und ist niemals im
Stand, einen bereits ausgebildeten Wasserstillstand aufzuheben.
untersuchen w ir nun , unter welchen Umständen reines Wasser
im Stande ist, die durch andere Agentien zur Ruhe gebrachte Flimmer-
bewegung wieder zu erwecken. Wir beginnen mit der Schilderung des
Einflusses, den destillirtes Wasser auf Flimmerzellen vom Frosch ausübt,
welche in sogenannten indifferenten Flüssigkeiten wie Serum,
Amniosflüssigkeit (mit oder ohne lod) ihre Thätigkeit vermindert haben.
In den meisten dieser Fälle beruht der Stillstand, wie aus gleich zu
erwähnenden Thatsachen folgt, darauf, dass die betreffende Flüssigkeit
in Wahrheit nicht vollkommen indifferent, sondern etwas zu concen-
trirt ist, oder dass sie es im Lauf der Beobachtung durch Wasserver-
dunslung geworden ist. Diess geschieht ja leicht , wenn das Präparat
nicht in einem beständig mit Wasserdampf gesättigten Baume liegt.
Wenn auch der Salzgehalt der Lösung den Indifferenzpunct nur sehr
wenig überschreitet, so tritt nach einiger Zeit, oft freilich erst nach
einigen Stunden Stillstand ein. Dieser stimmt vollkomn)en überein,
wird durch dieselben Mittel aufgehoben , wie der Stillstand in etwas
concentrirteren Lösungen von reinem Kochsalz z. B., von dem weiter
unten die Rede sein wird. — In seltneren Fällen beruht die Flimmer-
ruhe, welche man in den oben genannten und den ihnen verwandten
indifferenten Flüssigkeiten eintreten sieht, auf einer etwas zu geringen
Concentration der letzteren. Hier hat dann der Stillstand die Kennzei-
chen des Wasserstillstands, selbst wenn er erst nach Stunden eintritt.
— Aehnlich wie ein etwas zu grosser Wassergehalt der »indifferenten«
Flüssigkeit kann auch ein zu grosser Gehalt an Alkali wirken, wo dann
346 - Tli. W. KngeliTiaiiii,
der Stillstand im Wesentlichen dem spater zu beschreibenden Alkali-
stillstand gleicht. Wir berücksichtigen hier die beiden letzteren Fälle
nicht, dagegen verdient der erstgenannte eine nähere Betrachtung.
Hat sich die Bewegung l)ei einem z. B. in Serum liegenden Schleim-
hautstückchen so verlangsamt, dass die einzelnen Wimperschläge mit Be-
quemlichkeit zu zählen sind — was bei einem Tempo von fünf Schwin-
gungen in der Secunde schon der Fall ist — so erreicht, wenn man
nun das Serum durch reines Wasser verdrängt, die Bewegung sogleich
eine ausserordentliche Schnelligkeit und Stärke. Binnen wenigen Se-
cunden werden die Schwingungen unzählbar. Ein vorher träge und in
wirrem Durcheinander flimmernder Saum erscheint auf einmal als ein
matter, bewegungsloser Schatlenstrcif , an dessen Obcrdächc die Flüs-
sigkeit in reissend schnellem Strome vorbeifliegt. In dieser Stärke er-
hält sich die Bewegung eine oder ein Paar Minuten und nimmt dann
ab, um nach wenig Minuten dem Wasserstillstand Platz zu machen. —
Ganz ähnlich verhielt sich die Bewegung bei Flimmerzellen die 24 Stun-
den oder mehrere Tage nach dem Tode von Fröschen entnommen wur-
den und in frischem Anmioswasser zur Ruhe gekommen waren. Das-
selbe gilt auch, wenn statt des Amnioswassers Blutserum oder Humor
aqueus benutzt wird. Es vei'steht sich von selbst, dass bei diesen Ver-
suchen das Präparat in der feuchten Kammer lag, so dass der erst
eingetretene Stillstand nicht auf eine durch Verdunstung herbeigeführte
Concentrationszunahme der Zusatzflüssigkeit zurückgeführt werden
konnte. — Es gelingt nun freilich auch, die in einem Serumtropfen zur
Ruhe gekommene Flimmerbewegung dadurch wieder anzufachen, dass
man durch Neigen des Präparates den Serumtropfen ein paar Mal hin-
und herfliessen lässt und dadurch die Flimmerzellen mit neuen Flüs-
sigkeitsschichten in Berührung bringt. Diess ist von Roth schon beob-
achtet und zu Gunsten einer mechanischen Reizbarkeit der Fliumier-
haare gedeutet worden. Die mechanische Erschütterung der Flimmer-
haare ist hierbei aber ohne allen Einfluss ') . Die Beschleunigung tritt
1) Der Erfolg scheint vielmehr, wie schon Shakpky vermutiietc, auf der Weg-
iiiiimung eines Hindernisses der Bewegung zu beruhen. Die voiiiberströmende
l'lüssiglceit nimmt (iie Productc der Epithclzeiien mit weg, die sich in der Ober-
llache der Scldeimhaul ansammeln. Hier hat man namentlich an die von den so-
genannten Bccherzellen geliefcrlcn Producte zu denken. Die genannten Zellen,
welche oft in ungeheurer Zahl zwischen den Flimmercylindern zerstreut sitzen,
sondern Tröpfchen einer hellen , ziemlich ziihen Flüssigkeil aJ). Diese kann durch
ihre allmähliche Anhäufung ein mechanisches llindcrniss für die Bewegung abgeben
und somit dtMi Einlrill des Stillslands, der in dem Serumtropfen (wegen der nicht
vollkommenen Indifferenz desselben) auch ohne diess zu Stande kommen würde,
beschleunigen.
['obor (lip Flimtnerbewegniig. 347
clten so schön oiii, wenn das Präparat äusserst langsam aber etwas län-
|j;or geneigt wird — , wobei die Fliinmcrhaare fast gar nicht oder hörh-
stens sein* langsam bewegt werdcMi — , als wenn man das Präparat ein
paar Mal rasch hin- und herschütleU. Die Beschleunigung hält bei die-
sem Verfahren in der Regel einige Minuten an ; dann lassen die Bewe-
gungen wieder nach und werden so langsam als sie vorher waren.
Neues Neigen des Tropfens belel)t sie wieder und dies kann man meh-
rere Male hinter einander wiederholen. Allmählich w ird aber der Erfolg
der Wiederl)elebung schwächer und hält immer kürzere Zeit an: end-
lich ändert sich auch bei dem stärksten Schütteln und Neigen des
Tropfens die Bewegung nicht mehr. Setzt man dann einen neuen Tro-
pfen Serum zu, so verstärkt sich in der Regel die Bewegung für einige
Minuten und lässt dann wieder nach. Wäscht man nun das Präparat
immer w ieder mit frischem Serum aus, bis ein neuer Serumtropfen die
verlangsamte Bewegung nur wenig mehr beschleunigt , dann ruft doch
ein Tropfen destillirten Wassers sofort die heftigsten oft unzählbar
schnellen Bewegungen hervor, die Minuten lang anhalten und endlich
dem Wasserstillstande Platz machen. Hat man Serum, das mit etwas
Wasser verdünnt war, zum Auswaschen des Präparats benutzt, so wird
natürlich nachher die Wirkung des reinen Wassers weniger deutlich
und kann selbst fehlen.
Aehnlich belebend wirkt das Wasser auf Flimmerzellen, die in einer
Atmosphäre von reinem Wasserstoff in indifferenten Lösungen zu
schlagen aufgehört haben. Ich brachte ein kleines Stück der Rachen-
schleimhaut in einem Tropfen Kochsalz von 0,5 ^q auf die untere Fläche
des Deckglases der beständig mit Wasserdampf gefüllten Gaskaiimier,
und dicht neben diesen Tropfen einen zweiten Tropfen von destillirtem
Wassei', so nahe, dass bei einer bestimmten Neigung der Gaskammer
IhmiIc Tropfen zusanmienfliessen mussten. Zuerst wurde nun wie ge-
wöhnlich die Flimmerbewegung in dem Kochsalztropfen beobachtet,
während die Kammer mit Luft gefüllt war. Zeigte sie sich nach fünf
oder zehn Minuten noch eben so schnell als zu Anfang, so ward reiner
Wasserstoff eingeleitet, bis die meisten Wimpern stillstanden. Liess
ich nun den Tropfen, in dem das Präparat lag, vorsichtig hin- und her-
lliesscnj so dass die Flimmerhaare mit neuen FlUssigkeitsschichten in
Berührung kamen, so beschleunigte sich die Bewegung etwas; nach
einigen Secunden , höchstens einer Minute war aber die früheie Ruhe
wieder hergestellt, und bei noch etwas längerer Dauer des Wasser-
stoffstillstandes half dann auch das Neigen des Tropfens nicht mehr.
Alles blieb still. Neigte man nun — während natürlich der Wasser-
stoffstrom ununterbrochen durch die Kammer ging — das Präparat so,
348 Tli. W. Kiioplinaiui,
(lass der Wassorlroj)fen mit dem Tropfen, in welchem sich die Flimmer-
zellen befanden, zusannnenfloss, so erwachte alsbald an den Stellen,
wo das Wasser hindrang , die Bewegung wieder. Zugleich begannen
die Zellen deutlich zu quellen. Ich sah noch nach mehr als halbstün-
digem Wasserstoffstillstand die Bewegungen beim Zutritt des Wassers
eine Schnelligkeit von 6 Schlägen in der Secunde und darüber errei-
chen. Der Effect ist am schlagendsten , wenn man den Tropfen Koch-
salzlösung klein, den Wassertropfen aber gross genommen hat; denn
je verdünnter die aus der Mischung beider Tropfen resultirende Lösung
ist, um so mehr kommt der Einfluss dem des reinen Wassers gleich.
War der Wasserlropfen klein , so sieht man die Zellen nur wenig auf-
quellen und die Bewegungen auch nur wenig beschleunigt. — Einige
Zeit nach der Vereinigung beider Tropfen tritt wieder Stillstand ein
und diesen kann man dann, falls die Zellen nicht durch Quellung zer-
stört sind, aufheben, indem man atmosphärische Luft in die Kammer
dringen lässt.
Vom Einfluss des Wassers auf den durch c o n c e n t r i r t e r e S a 1 z-
lösungen herbeigeführten Stiflstand wird weiter unten die Rede sein.
Hier sei erwähnt, dass unter Umständen auch der durch Säuren, z. B.
sehr schwache Essigsäuredämpfe bei in lodserum liegenden Zellen her-
beigeführte Stillstand durch ein- oder mehrmaliges Auswaschen mit
destillirtem Wasser aufgehoben werden kann. Die wiedererwachen-
den Bewegungen sind immer sehr schwach. Bei etwas stärkerer Es-
sigsäureeinwirkung geschieht es dann leicht, dass Auswaschen mit
reinem Wasser die Bewegungen nicht wieder erweckt, wohl aber
Wasser, dem etwas Alkali zugesetzt ist.
Machte ich frische Flimmerzellen vom Frosch in Serum durch Am-
moniak scheintodt, so begannen die Bewegungen beim Auswaschen
mit Wasser bei den meisten Zellen wieder, darauf trat dann sehr
schnell unter Zunahme der Quellung Stillstand mit den Eigenthüm-
lichkeiten des Wasserstillstandes ein. — Stillstand durch Aether,
Alkohol oder Chloroform in indifferenten Lösungen herbeigeführt,
konnte , wenn er durch Luft allein nicht mehr beseitigt wurde , auch
durch Auswaschen mit destillirtem Wasser nicht aufgehoben werden.
Ebensowenig Wärme starre, wenn sie auch sonst beim Abkühlen
bestehen blieb, oder Stillstand, den Tetanisation mit starken Induc-
tionssch lägen veranlasst hatte. —
Uebei die KlimiiierbL'Wt'nun^!,. 349
II Kinfluss von Kochsa l zlös u n j^en v ersclii od cn o r Con-
central i o n au f (1 i F I i in ni e r b e \v e i; u n g.
Dass man durch conccntrirlorc Kochsalzlösungen die Flinimer-
howegung aufhoben könne, haben schon Purkinje und Valentin gezeigt;
dass man die Bewegung durch Veniünnen der Lösung wieder erwecken
könne, wird von Kölliker ') zuerst erwähnt und von Roth und Stuart
i)estiilii:l. Ich habe untersucht, wie sich die Flimmerbewegung gegen
Salzlösungen von verschiedenem Concentrationsgrade verhält, welche
Mittel den durch concentrirtere Salzlösungen herbeigeführten Stillstand
aufheben , und unter welchen Bedingungen stillstehende Wimpern
durch Salzlösungen wieder in Bewegung gebracht \verden können.
Alle Angaben beziehen sich auf die Rachenschleimhaut des Frosches.
Wie bei anderen chemisch indifferenten Substanzen giebt es auch
beim Kochsalz eine Concentrationsstufe , bei w elcher die Bewegung
sich Stunden , ja Tage lang erhält. Diese Concentrationsstufe liegt
für Kochsalz, wie auch Roth findet, bei etwa 0,5%. Auch in Lösun-
gen von 0,6% kann die Flimmerung noch Tage lang fortbestehen;
ebenso in solchen von 0,4%. Vermindert man aber den Salzgehalt
noch weiter, so tritt allmählich der Einfluss des Wassers deutlicher
zum Vorschein. Bringt man z. B. Stückchen der Rachenschleimhaut
in Kochsalz von 0,3% oder 0,2-5%, so beschleunigt sich anfangs die
Bewegung bedeutend, die Schwingungen bleiben Minuten lang sehr
frequent und gross, und nehmen dann ab, um bald unter Quellung der
Zellen zum Stillstand zu führen. Dieser Stillstand zeigt alle Eigen-
schaften des Wasserstillstands. Wendet man noch schwächere Salz-
lösungen an, so wird natürlich derselbe Effect schneller erreicht. —
Auf der andern Seite genügt schon eine geringe Steigerung des Salz-
gehaltes über 0,6%, um die Bewegung beträchtlich abzuschwächen.
In Lösungen von 1 "/„ verlangsamt sich beispielsweise die Bewegung
innerhalb der ersten Minuten bedeutend, hält sich dann aber oft Stun-
den lang auf niedriger, sehr langsam abnehmender Höhe. Die Bewe-
gungen werden klein, hakenförmig und langsam. Selten geschehen
mehr als zwei bis drei Schläge in der Secunde, meist weniger. Viele
Flinmierhaare stehen schon nach wenig Minuten ganz still. In Lösungen
von 1,25% tritt der Stillstand noch merklich schneller ein; und wenn
man ein frisches Stückchen Schleimhaut direct in eine Lösung von
i!,o'% bringt, so stehen die meisten Wimpern fast augenblicklich still.
Immerhin findet man auch hier fast stets eine Anzahl Flimmerhaare,
^) KöLLiKER, FInsiol. Sludien üb. d. Sanicnflüssigkeit. Ztsclir. f. wiss. Zool,
isr.ß Bd YIl. p. 252.
350 * Tli. W. EiigHinaiiu,
welche ihre Bewegungen, wenn schon äusserst schwach und langsam,
nocli einige Zeit, zuweilen eine halbe Stunde und länger fortsetzen.
Man beobachtet [diess sogar noch in Lösungen von 5 % Salzgehalt.
Roth hat also ganz Recht wenn er sagt, »dass die Flimmerhaare in re-
»lativ weiten Grenzen der Concentration ihre Bewegungen conservi-
-iren.« Freilich gilt diess nicht von der Grosse der Amplitude und Fre-
quenz der Bewegungen. — Ich fand keine deutlichen Unterschiede in
der Wirkung starker Salzlösungen, wenn ich in dem einen Falle ein
frisches Präparat direct in die starke Lösung versetzte, in dem andern
die Stärke der Lösung, von 0,5 "/o ausgehend, allmählich bis zur selben
Hölie steigerte. .Jedem bestimmten Concentrationsgrade scheint somit
eine bestimmte mittlere Stärke und Schnelligkeit der Bewegungen zu
entsprechen und es wird nicht erlaubt sein, eine Accommodation der
Bewegungen an starke Concentrationsgrade bei sehr langsamer Stei-
gerung des Salzgehaltes der Lösung anzunehmen, wie diess Roth thut.
— Die Veränderungen, welche man unter dem Einfluss stärkerer Koch-
salzlösungen (von I "/(, aufwärts) im Aussehen der Flimmerzellen ein-
ti'eten sieht, beruhen auf Fltissigkeitsentziehung. Die Zellen schrum-
pfen zusanmien, erscheinen stärker glänzend, mehr homogen, bei stär-
keren Graden der Einwirkung dunkler und die hitercellularräume
erweitern sich zu hellen, messbar breiten Spalten. Die Flimmerhaare,
welche deutlich an Volum vermindern und dunkler aussehen, stehen,
wie bei früher beschriebenen Arten des Stillstands, steif und schräg
nach vorn geneigt, meist alle unter demselben Winkel von .'}0 — 35'\
zuweilen selbst 45".
Unter den Mitteln , welche die durch stärkere Kochsalzlösungen
herbeigeführte Flimmerruhe beseitigen können, steht das Wasser
obenan. Sobald es in solcher Menge zugesetzt wird, dass die Concentra-
tion der Lösung auf etwa l'^/ound weniger sinkt, zuweilen schon früher,
beginnen die Bewegungen, während die Zellen ihr normales Aussehen
mehr oder minder wieder erhalten. Die Salzlösung darf aber eine ge-
wisse Concentration nicht überschritten haben , wenn Wasser noch
wieder beleben soll. Lösungen von 10 "/o und mehr tödten die Zellen
selbst bei einer Einwirkungsdauer von nur wenigen Minuten. Die
Flimmerhaare lösen sich bei Wasserzutritt dann schnell auf, noch bevor
die Concentration unter 0,5 *yy gesunken ist. Selbst wenn man die
Zellen eine oder mehrere Minuten in Salzlösungen von nur 5 "/q gehal-
ten hat, erwachen beim Verdünnen mit Wasser nicht alle Zellen wie-
der, keinesfalls aber erreichen die Bewegungen ihre normale Stärke
und Schnelligkeit. Diess gelingt nur, wenn der Kochsalzstillstand durch
Lieber die Kliiiiiiit'iiii'wegnng. 351
noch schwächere Lösungen (1% bis '^,5"/o circa) herbeigeführt war. —
Auch wonn nach nur kurzer Einwirkunj; die starken Lösungen (ö^q
und höluM-) ganz alhuälilicli durch iinmci- schwäcliere Lösungen ver-
(hiiMi;l wiiichMi, stieg die Bewegung beim Wiedererreichen der günsli-
i^cM (üinccntr.ilionsslufe, wenn sie übeihau])t wieder erwachte, doch
nie id)(M- eine äusserst gelinge Höhe. Es kann also auch hier von einer
Accommodation nicht die Rede sein.
Das Wassei- ist nun aber keineswegs das einzige Mittel, welches
den Kochsalzslillstand aulhebt. Waren die Lösungen nicht zu concen-
Iriit, z. IL nur l,-)'*/,}, so erwacht die Bewegung auch wieder, wenn
man Ammoniak in Gasform dem Präparate zuführt. Die Bewegungen
beginnen hier aber meist erst, nachdem man die stark mit Ammoniak-
gas beladene Luft ein bis zwei Minuten lang durch die Gaskammer
geführt hat ; nicht schon nach wenigen Secunden wie beim Stillstand
in indilTerenten Lösungen >). Je stärker die Goncentration, um so län-
ger dauert es im Allgemeinen, ehe die belebende Wirkung des Ammo-
niaks sichtbar wird. Die ersten Bewegungen sind oft klein und lang-
sam, können aber (bei 1,5'yoigen Lösungen) in einer halben Minute
gross und rasch (5 bis 8 in 1") werden. Führt man ununterbrochen
Anunoniak durch die Kammer, so stehen sie endlich still ; aber auch
dieser Stillstand tritt im Allgemeinen viel langsamer ein, als bei Flim-
merzellen, die in Kochsalzlösung von 0,5 o/q liegen. Betrug der Salz-
gehalt der Lösung 2,5% und mehr, so konnte durch Ammoniak die
Bewegung nicht mehr hervorgerufen werden.
Auch durch Säuren, z.B. durch Kohlensäure, durch Dämpfe
von Essig- oder Salzsäure kann derStillstand beseitigt werden, der
in massig concentrirten Kochsalzlösungen (l^o 1^'s 2%) eintritt. Auch
liier dauert es in den meisten Fällen eine oder mehrere Minuten ehe
die Bewegungen wieder beginnen. Sie können sehr schnell und gross
werden und hallen sich bei fortdauernder Zufuhr von Säuredämpfen
auch länger als gewöhnlich. Sie hören nändich erst auf, wenn die
Reaction schon Minuten lang stark sauer ist; ja, ich sah die Bewegun-
gen sogar erst nach mehr als viertelstündiger Anwesenheit der sauren
H<\Tction erlöschen.
Wie Ammoniak und Säuren heben auch Dämpfe von Aether, Al-
kohol und Schwefelkohlenstoff den Stillstand in Kochsalzlösungen
auf, wenn der Salzgehalt 2'yubis'2,5 % nicht überschreitet. Auch diese
Körper bedürfen längere Zeit als bei indifferenteren Lösungen, um ihren
anfangs beschleunigenden, später hennnenden Einlluss geltend zu ma-
1) Diess Ijt'iulit ziitii Tlicil scrmudiliih iiiil' der i^crin£<eren Grosse iles Ab-
«'tirijfidnscoeffificiitfii slürkeiTi- Si(lzlösiii);.'tMi \üi die betrefTeiideii (iasi-
352 Tli- ^^' Kiiy;eliiiaiiii,
chen. Endlich wirkt auch Warmes teigeru ng und elektrische
Reizung wieder belebend, wenn die Concentration niciit über 2 "/o
steigt. Hierüber wird in den Abschnitten über Wärme und Elektricitäl
ausführlicher gehandelt werden. —
Alle diese Mittel, welche den durch concentrirtere Salzlösungen
hervorgerufenen Stillstand aufheben, beseitigen auch die in sogenannten
indifferenten Lösungen nach einiger Zeit eintretende Flinimer-
ruhe. Man darf desshalb wohl annehmen — wie wir schon oben ge-
Ihan — dass die letzlere Art der Flimmerruhe gleichfalls darauf zu
schieben sei , dass die Goncentrationsstufe nicht die richtige , die Lö-
sung also streng genommen nicht indifferent war.
Wir kommen nun zu der Frage, unter welchen Umständen still-
stehende Wimpern durch Salzlösungen wieder in Bewegung versetzt
werden können. Concentrirtere Lösungen können, soviel mir bekannt,
nur zwei Arten der Flimmerruhe aufheben, nämHch den Wasserstill-
st a n d und den A 1 k a 1 i s t i 1 1 s t a n d. Ich brachte Flimmerzellen vom
Frosch, die in einem Tropfen Kochsalzlösung von 0,5 V q in der Gaskam-
mer lagen, durch Ammoniakdämpfe zur Ruhe, wobei die Zellen, wie
früher erwähnt, etwas aufzuquellen beginnen. Nun legte ich einen klei-
nen Kochsalzkryslall in die Nähe der Zellen in den Tropfen. Alsbald be-
gann die Bewegung bei den dem Krystall zunächst liegenden Zellen
und mit fortschreitender Diffusion des Salzes allmählich auch bei den
weiter abgelegenen Zellen wieder. War der Krystall so gross, dass der
Tropfen eine starke Concentration annehmen konnte, so trat später na-
türlich Stillstand unter Schrumpfung der Zellen ein. — Säurestillstand,
Stillstand durch Metallsalze, durch Aether oder Chloroformdämpfe, lässt
sich auf diese Weise nicht aufheben. Ebensowenig Wärmestillstand
oder Stillsland durch elektrische Schläge.
Dass es möglich ist, durch Auswaschen der Zellen mit indifferenten
Salzlösungen einen durch Säuren oder durch Alkalien herbeige-
führten Stillstand aufzuheben, davon kann man sich leicht überzeugen.
Roth hat schon erwähnt, dass es ihm gelungen sei, Wimpern, die vor-
sichtig durch Chromsäure von 0, '2% — 0,02% ^ur Ruhe gebracht
waren, durch Auswaschen mit halbprocentiger Kochsalzlösung wieder
zu erwecken. Den Ammoniakstillsland kann man, wenn dabei die Zel-
len nicht sehr gequollen waren, selbst durch schwach alkalisches lod-
serum so vollkommen beseitigen, dass die Bewegung ihre normale Höhe
wieder erreicht. Ebensogut wirkt Chlornatrium von 0,5%.
Minder gut wird der durch Essigsäure, Salzsäure, Chromsäure oder
andere Säuren veranlasste Stillstand durch Auswaschen mit Kochsalz
I
üeber die Fliminerbeweguiig. 353
(Jer angegebenen Goncentration aufgehoben. Die Bewegungen können
zwar wieder eine Frequenz von 2 — 3 Schlägen in der Secunde errei-
chen, das trübe Ansehen der Zellen bleibt aber bestehen. Erst wenn
diess durch Zufuhr von Alkali, am besten von etwas Ammoniakgas,
dem normalen Ansehen wieder Platz gemacht hat, erreichen die Be-
wegungen die normale Höhe wieder. lodserum, welches schwach alka-
lisch ist, beseitigt desshalb den Säurestillstand viel schneller und voll-
kommener als die indifferentesten Kochsalzlösungen.
Ganz ähnlich wie Kochsalz verhalten sich andere neutrale Salze
und auch Zucker, Kreatin und andere neutrale Stoffe gegen die Flim-
merbewegung. Doch sind die Concentrationsgrade, in denen man diese
Stoffe anwenden muss, um einen bestimmten Effect zu erreichen, an-
dere als beim Kochsalz, und im Allgemeinen für jeden Körper beson-
dere, vom endosmotischen Aequivalent des Körpers abhängige. So fand
ich beim Rohrzucker Lösungen von 1 % noch schädlich ; sie bewirkten
binnen wenigen Minuten Stillstand unter Quellung der Zellen und
Kerne, wie bei Einwirkung von reinem Wasser. Ziemlich indifferent
sind Lösungen von 2,5%, und selbst bei einem Zuckergehalt von 5%
steht die Bewegung nicht gleich still, sondern verlangsamt sich ganz
allmählich. Man findet zuweilen noch nach zehn Minuten die meisten
Wimpern in, freilich sehr matter Bewegung. Das Aussehen der Zellen
verräth hier die Folgen der Wasserentziehung : Schrumpfung und stär-
kere Lichtbrechung. Die Wiederbelebung aus dem Stillstand in stärker
concentrirten Lösungen anderer indifferenter Körper, Zuckerz. B., wird
durch dieselben Mittel erreicht wie beim Kochsalz.
IIL Einfluss von Säuren auf die Flimmer bewegung.
a. Kohlensäure.
Nach älteren, oben schon citirten Angaben von Sharpey ^) , deren
Richtigkeit Valentin 2) bestätigt, soll das Flimmerphänomen der Kiemen
der Froschlarven in Wasser, welches mit Kohlensäure gesättigt ist, un-
gestört fortdauern. Neuere von Kühne ^) an dem Flimmerepithel der
Kiemen von Anodonta angestellte Beobachtungen ergaben , dass die
Bewegung nicht nur in reiner Kohlensäure, sondern auch in einer nur
massig mit Kohlensäure vermischten Atmosphäre schnell erlischt.
^} SiiARPEY in Todd's Cyclop. I. p. 536.
2) Valentin, Artikel Fliinmerbewegung in R. Wagner's Handwörterbuch de
Piiysiologie. Bd. I. p. 512.
3) L. c. pag. 374.
Bd. IV. 3. 23
354 Hl. VV. I:;iigelinaiiii,
Dasselbe hatte Kühne früher für die Protoplasmabewegungen verschie-
dener Organismen gefunden.
Ich theile hier die Versuche mit, welche ich an Flimmerzellen vom
Frosche angestellt habe. Die Zellen wurden zunächst in Kochsalzlösung
von 0,5% in Blut, Blutserum oder anderen der oben aufgeführten ver-
hältnissmässig indifferenten Flüssigkeiten untersucht. Die An-
fertigung des Präparates geschah in derselben Weise wie früher. Das-
selbe schwebte während des Versuchs in dem Tropfen an der Unter-
seite des Deckglases der Gaskammer. Einzelne Zellen zeigen bereits
unmittelbar nach der Präparation, während noch die Gaskammer mit
reiner atmosphärischer Luft gefüllt ist, keine oder doch eine sehr ver-
langsamte Bewegung , ohne dass ihr äusseres Ansehen sich verändert
hätte. Bei den meisten tritt aber erst nach längerem Liegen in der
»indifferenten« Lösung Stillstand oder Verlangsamung aus früher an-
gegebenen Ursachen ein. Wenn man nun über solche Zellen einen
raschen Strom reiner Kohlensäure durch die Kammer schickt, ist bin-
nen wenigen Secunden die Flimmerbewegung im ganzen Präparat im
schnellsten Gange. Flimmerhaare, die vorher ganz stillstanden, kön-
nen nach einer Viertelminute schon mit einer Frequenz von acht und
mehr Schlägen in der Secunde schwingen. — Schon ein kleiner Koh-
lensäuregehalt der Luft genügt, alle Bewegungen wieder zu erwecken
und zu beschleunigen. Nimmt man das eine Ende des zur Gaskammer
führenden Kautschukschlauches in den Mund , während man zugleich
in's Mikroskop blickt, so braucht man nur langsam durch die Kammer
zu exspiriren, um überall die Bewegung sich aufs Heftigste beschleu-
nigen zu sehen. Auch mit ziemlich stark abgekühlter Exspirationsluft
gelingt der Versuch, und am besten, wenn man den Athem etwas
lange angehalten hat. — Inspirirt man darauf durch die Kammer, saugt
man also die Kohlensäure zurück, so hört die Bewegung nach einigen
Minuten wieder auf, oder verlangsamt sich wenigstens. Ein neuer
Exspiralionsstrom ruft sie wieder liervor und so kann man , je nach-
dem ein- oder ausgeathmet wird, Verlangsamung und Beschleunigung
miteinander wechseln lassen. —
In einer Atmosphäre von reiner Kohlensäure erlischt die Flimmer-
bewegung in kurzer Zeit. Bringt man frische Flimmerzellen in Koch-
salzlösung von 0,5 % oder Serum in die Gaskammer und verdrängt die
atmosphärische Luft durch einen Strom reiner Kohlensäure, so vermin-
dert sich nach ein oder zwei Minuten die Bewegung im ganzen Präpa-
rate; das Tempo wird langsamer und die Amplitude der Schwingungen
bei den meisten Wimpern kleiner. Fast alle zeigen die hakenförmige
Bewegung. Nach etwa zehn Minuten stehen alle Flimmerhaare still und
ll('l)or die KliiiiiiicilK'wegung. 355
zwnr in derselben schrHg geneigten Stellung, wie im Kochsalz-, im Was-
serstofTstillstande ii. a. Dabei haben die Zellen ein gelbliches, trübes
Ansehen gewonnen , die Zellenkerne treten mit dunkelen Gontouren
hervor, auch die Wimpern scheinen gelblich und weniger durchschei-
nend geworden zu sein. Diese Veränderungen sind meist
schon einige Zeit vor dem völligen Stillstande ganz ausge-
bildet. — Wie in reiner Kohlensäure tritt auch der Stillstand ein in
einer stark mit Kohlensäure beladenen Atmosphäre, doch um so später,
je geringer der Kohlensäuregehalt derselben ist. Bei sehr geringem
Kohlensäuregehalt der atmosphärischen Luft erhält sich dagegen, wie
schon erwähnt, die Bewegung viel länger als in reiner Luft.
Frisch präparirte Flimmerzellen , in Kohlensäure zur Ruhe ge-
bracht, fangen beim Verdrängen der Kohlensäure durch atmosphä-
rische Luft langsam wieder an, sich zu bewegen, und die Bewegung
kann, falls der Kohlensäurestillstand nicht zu lange angehalten hatte,
nach einigen Minuten wieder so lebhaft sein, wie vor dem Einleiten
der Kohlensäure. Sie erhält sich dann bei genügendem SauerstoflTzu-
tritt lange Zeit unfl es scheint nicht, dass der vorübergehende Kohlen-
säurestillsland erhebliche bleibende Störungen hinterlassen habe. —
Der W^iederbeginn der Bewegungen bei dem Verdrängen der Kohlen-
säure durch atmosphärische Luft erfolgt nie so plötzlich, wie z, B. das
Erwachen der Bewegung aus dem später zu schildernden Wasserstoff-
stillstande durch Kohlensäurezufuhr. —
Es ist nun sehr bemerkenswerth, dass die oben erwähnten Ver-
änderungen im Aussehen der Zellen , welche beim Herannahen des
Kohlensäuresillstandes eintreten , beim Verdrängen der Kohlensäure
durch atmosphärische Luft wieder verschwinden. Sobald die Bewe-
gung wieder beginnt, verlieren die Zellen ihr trübes, gelbliches Aus-
sehen , die Kerne werden wieder undeutlich oder ganz unsichtbar und
auch die Wimpern scheinen heller zu werden. Dieser Wechsel im Aus-
sehen der Zellen wiederholt sich , so oft man Bewegung und Kohlen-
säurestillstand miteinander abwechseln lässt. Nach allzuhäufiger oder
allzulanger Kohlensäureeinwirkung stellt sich indessen das frühere An-
sehen der Zellen durch Luft nicht wieder her. — Auf entsprechende
Veränderungen an den rothen Blutkörperchen des Frosches machte
mich Herr Donders gelegentlich aufmerksam. Hier treten ebenfalls bei
Zutritt von Kohlensäure die Kerne plötzlich scharf hervor und werden
wieder unsichtbar, oder doch äusserst blass, wenn die Kohlensäure
durch Wasserstoff oder atmosphärische Luft ausgewaschen wird. In
jedem Präparat von Flimmerzellen finden sich nun rothe Blutkörper-
chen in genügender Menge. Die Beobachtung lehrt, dass die unter den
356 Th.^W. Kiiiielraanii,
oben erwähnten Bedingungen erfolgende Beschleunigung der Flimmer-
bewegung durch Kohlensäure in der Regel etwas früher eintritt als das
Sichtbarwerden der Kerne in den rothen Blutkörperchen. Diess ist am
besten zu constatiren, wenn die betreffenden rothen Blutkörperchen
dicht neben der beobachteten Flimmerzelle liegen. Der Zeitunterschied
beträgt oft nur wenige Secunden, zuweilen mehr. Bei manchen Zellen
tritt aber auch die Beschleunigung der Bewegung erst auf, wenn schon
die Kerne der benachbarten Blutkörperchen zum Vorschein gekommen
sind.
Untersucht man die Reaction des Präparats während der verschie-
denen Stadien der Kohlensäureeinwirkung, z. B. mittels eines in den
Tropfen gelegten Stücks blauen Lakmuspapiers oder fein in der Flüs-
sigkeit vertheilter Lakmuskörnchen , so ergiebt sich Folgendes. Das
Wiedererwachen, respective die Beschleunigung der Bewegung durch
Kohlensäure beginnt in den meisten Fällen früher als die rothe Fär-
bung des Lakmus eintritt. Doch erreicht die Bewegung oft dann erst
ihr Maximum, wenn das Lakmuspapier im Tropfen bereits eine stark
rothe Farbe angenommen hat, und jedenfalls kann der Tropfen schon
mehrere Minuten lang sauer reagiren, ehe die letzte Bewegung erlischt.
Der Wiederbeginn der Bewegungen nach dem Kohlensäurestillstand
findet selten statt, bevor die neutrale Reaction wieder hergestellt ist.
Wie durch einen Luftstrom kann auch , und in der Regel noch
schneller, durch reinen Sauerstoff der Kohlensäurestillstand aufge-
hoben werden. Ganz ähnlich wirkt Verdrängen der Kohlensäure durch
reinen Wasserstoff oder andere indifferente Gase, hnmer ver-
liert sich beim Wiedererwachen der Bewegung das trübe gelbliche
Ansehen der Zellen.
Die Wirkung der Kohlensäure kann aber eine solche Höhe errei-
chen, dass es nicht mehr möglich ist, durch indifferente Gase den
Stillstand zu beseitigen. Wie lange man auch Sauerstoff oder Wasser-
stoff über das Präparat führen möge — die Zellen bleiben trübe, die
Wimpern steif und still. In diesen Fällen beleben Alkalien die Bewe-
gungen wieder. Eine Spur Anunoniakgas, der Luft oder dem Wasser-
stoff beigemischt, reicht in der Regel dazu aus. Ebenso wirkt Aus-
waschen mit äusserst verdünnten Lösungen von Natron oder Kali oder
auch alkalisches Serum.
Von den Fällen, in denen die Kohlensäure belebend wirkt, haben
wir bereits einen eiwähnt, den wo die Bewegung in indifferenten
Flüssigkeiten bei alleiniger Gegenwart von atmosphärischer Luft
erlahmt ist. In den Abschnitten über Wasser und Kochsalz wurde
[Vhor die FlimiiiPrliowcßnng. 357
gleichfalls schon die Thalsncho inilgelheilt, dass sowol der Wasser-
stillstand, als der Stillsland in concentri rteren Salzlösu n-
ti;en (bis 2 " „) dui-ch Kohlensäure aufgehoben werden können. Weiter
unten wird der Wiedererweckung der Bewegung aus dem Alkali-
stillstand durch Kohlensäure gedacht werden. —
Interessant ist das Erwachen der Bewegung aus dem Wasser-
sto ff still stand bei Zutritt reiner Kohlensäure. — Leitet man reines
Wasscrstoffgas so lange über Flinnnerzellen, die in neutralen Salzlösun-
gen passeTuler (loncentration oder in Serum liegen, bis die Bewegung an
den meisten Stellen zur Ruhe gekommen ist, sperrt dann dem Wasser-
stofl' den Zutritt zur Gaskammer ab und lässt nun aus einer Zweiglei-
tung plötzlich einen Strom reiner Kohlensäure einfliesscn, so fängt
nach wenigen Secunden die Bewegung im ganzen Präparate wieder an.
Am schönsten zeigt sich das bei Anwendung von Blut oder Blutserum.
Hier erwacht die Bewegung oft bei allen Zellen gleichzeitig , wie mit
einem Zauberschlage. Die ersten Bewegungen zeichnen sich meist
schon durch grosse Excursionsweite aus und das Tempo beschleunigt
sich so rasch , dass fünf bis zehn Secunden nach dem Erwachen die
Sch\Ningungen unzählbar sind. Das im Tropfen hängende Schleim-
hautstück wird durch die Schläge seiner Wimpern fortbewegt; isolirte
Gruppen von Flimmerzellen gerathen fast plötzlich in wirbelnde Dreh-
bewegungen.
Die Bewegung erwacht um so zeitiger und erreicht um so schnei -
1er ihr Maximum , je grösser die eingedrungene Kohlensäuremenge,
je flacher der Tropfen ist, in dem das Präparat schwebt, und je kür-
zere Zeit der Wasserstofl'stillstand angehalten hat. Standen die Zellen
erst kurze Zeit still, so reicht die Beimischung einer sehr kleinen Menge
Kohlensäure zum Wasserstoffstrom zur W^iederbelebung aus, und selbst
nach mehrstündiger Dauer des WasserstofTstillstandes bedarf es nicht
inmier grosser Kohlensäuremengen , um dasselbe Resultat zu errei-
chen. — Wie man nun den bereits eingetretenen Wasserstoffstillstand
durch Kohlensäure aufheben kann , so kann man auch seinen Eintritt
verzögern, indem man dem Wasserstoffstrome etwas Kohlensäure bei-
mengt. In einem Gemisch von ^ Volumprocent Kohlensäure und 95 %
Wasserstoff erhält sich beispielsweise die Flimmerbewegung wol drei-
und mehrmal so lange als in reinem Wasserstoff. Es dauert nicht sel-
ten mehrere Stunden, ehe hier ,die Bewegung der meisten Zellen auf-
gehört hat.
Auch Wimpern, die in reinem Sauerstoff in möglichst indifferen-
ten Lösungen zu schlagen aufgehört haben, werden durch Kohlensäure
wieder erweckt und in der Regel sehr schnell, binnen einigen Seeun-
358 Th. W. Engelraann,
den. Sorgt man dann dafür, dass dem Sauerstoffstrome, oder der
atmosphärischen Luft vor ihrem Eintritt in die Gaskammer beständig
eine kleine Menge Kohlensäure beigemischt wird, so dauert die Bewe-
gung viele Stunden lang fort und erst die Fäulniss macht ihr ein Ende.
— Ebenso fangen Flimmerhaare, welche so lange in einer Wasserstoff-
atmosphäre verweilt haben, dass sie durch reinen Sauerstoff nicht wie-
der erweckt werden, sogleich wieder an, sich zu bewegen, wenn dem
Sauerstoff Kohlensäure beigemischt wird, und können dann ebenfalls
in einem Gemisch von atmosphärischer Luft und etwas Kohlensäure
lange Zeit in Bewegung erhalten werden.
Ueber die Form der Bewegungen beim Wiedererwachen aus dem
Wasserstoff- oder Sauerstoffstillstande durch Kohlensäure ist nur we-
nig zu bemerken. In manchen Fällen sind gleich die ersten Bewegun-
gen wellenförmig und die folgenden bleiben es dann. Viele Flimmer-
haare beginnen aber mit hakenförmigen Bewegungen , welche entwe-
der zu Anfang schon sehr gross sind, oder es doch bald werden. Sie
können allmählich zu wellenförmigen Bewegungen übergehen. Wieder
andere Flimmerhaare machen nur kleine hakenförmige Bewegungen,
welche nie eine grosse Amplitude erreichen. Das Tempo der Bewe-
gungen beim Wiedererwachen ist ebenfalls verschieden. In der Begel
geschehen die ersten Schwingungen langsam und folgen sich dann
immer schneller, so dass nach 5 bis 1 Secunden schon das Maximum
erreicht sein kann. Zuweilen beginnt die Bewegung schon in einem
Tempo von zwei oder drei Schlägen in der Secunde. —
Im äusseren Ansehen der Zellen ändert sich beim Wiedereintreten
der Bewegung nichts. Weder trübt sich das Zellprotoplasma, noch
werden die Zellenkerne sichtbar, noch auch macht sich eine Quellung
oder Schrumpfung der ganzen Zelle bemerklich. Bald treten dagegen,
wenn grössere Kohlensäuremengen längere Zeit über das Präparat ge-
leitet werden, die oben beschriebenen Veränderungen ein, die mit
einer Abnahme der Bewegungen Hand in Hand gehen. —
Hat man die Flimmerzellen durch Wasserstoff zur Buhe gebracht
und durch Kohlensäure wieder in Bewegung versetzt, so kommen sie
bei fortgesetztem Durchleiten reiner Kohlensäure oder in einer Mischung
von Wasserstoff' mit sehr viel Kohlensäure schneller zur Buhe, als wenn
statt des Wasserstoffs atmosphärische Luft eingewirkt hatte. In der
Regel verstärkt und beschleunigt sich beim Wiedererwachen aus dem
Wasserstoffstillstande durch Kohlensäure die Bewegung in der ersten
halben bis ganzen Minute bedeutend, nimmt aber schon in der zweiten
Minute wieder langsam ab, so dass dann nach drei Minuten , oft etwas
später, die meisten Zellen wieder in Ruhe sind. Auch hier werden die
Uebpr dif Fliinmerbewegunp;. 359
Zellen trübe, die Kerne deullicli. — Vordriingt man nun die Kohlen-
saure wieder durch reinen Wassersloft", so erwachen nach etwa einer
halben Minute oder etwas später bei vielen Zellen wieder langsame,
meist kleine Bewegungen, die sich anfangs ein wenig beschleunigen
und verstärken, aber bald wieder nachlassen. Nach drei Minuten pflegt
in den meisten Fällen wieder vollkommener Stillstand durch den Was-
serstoff herbeigeführt zu sein. — Neue Zufuhr von reiner Kohlensäure
erweckt sofort wieder heftige Bewegungen, die ebenfalls ungefähr
gegen das Ende der ersten oder im Laufe der zweiten Minute ihr Ma-
ximum erreichen. Eine oder zwei Minuten später steht Alles wieder
still. Abermaliges Verdrängen der Kohlensäure durch reinen Wasser-
stoff ruft von Neuem einige schvsache, bald wieder aufhörende Bewe-
gungen hervor und neue Kohlensäure bewirkt auch hierauf Wieder-
erwachen starker Bewegungen. So kann man, indem man Kohlensäure
und reinen Wasserstoff abwechselnd durch die Kammer führt, Still-
stand und Wiederbelebung oft miteinander wechseln lassen. Je öfter
man den Versuch an derselben Zelle wiederholt hat, um so schwächer
pflegen dann die Bewegungen beim Wiedererwachen durch Kohlen-
säure zu sein und um so rascher tritt sowohl der Wasserstoff- als der
Kohlensäurestillstand ein. Doch habe ich Zellen, die binnen einer
Stunde acht Mal den Wechsel durchgemacht hatten , noch aus dem
Wasserstoffstillstande erwecken können, als ich zum neunten Mal reine
Kohlensäure zuführte. Um den Versuch so oft an einer und derselben
Zelle wiederholen zu können, darf man aber jeden einzelnen Wasser-
stoff- und Kohlensäurestillstand nicht länger als etwa 1/2 ^^^ 2 Minu-
ten anhalten lassen. — ■ Wenn endlich in diesen Versuchen die Bewe-
gung weder bei Wasserstoff- noch bei Kohlensäurezufuhr wieder erwa-
chen will, bedarf es nur eines Stromes atmosphärischer Luft oder
Sauerstoffs, um sie wieder hervorzurufen, und zwar wird sie hier, wo
man längere Zeit zwischen Zufuhr von reinem Wasserstoff und von
reiner Kohlensäure abgewechselt hatte, durch reine Luft oder Sauer-
stoff aus dem Kohlensäurestillstande viel sicherer erweckt als aus dem
Wasserstoffstillstande, wenn bei letzterem jede Spur von Kohlensäure
aus der Gaskammer verdrängt war.
b. Andere Säuren.
Es Hess sich erwarten, dass der Einfluss anderer Säuren in allem
Wesentlichen derselbe sein würde, wie der der Kohlensäure, insbeson-
dere dass der unter so vielen Umständen gefundene belebende Einfluss
der Kohlensäure auch den anderen Säuren zukommen würde. In den
bisherigen Arbeilen ist immer nur von der Schädlichkeit der Säuren
360 Tli. W. Engelmann,
die Rede, und in dem einzigen Falle, in welchem man von Säuren eine
belebende Wirkung sah , beruhte diese auf Neutralisation von über-
schüssigem Alkali. — Purkinje und Valentin *) haben schon über den
Einfluss verschiedener organischer und anorganischer Säuren Mitthei-
lungen gemacht. Sie fanden, dass die von ihnen untersuchten Säuren
die Flimmerbewegung zum Stillstand brachten. Essigsäure hemmte
noch in lOOOOfacher, Saksäure, Salpetersäure in lOOOfacher, Ben-
zoesäure, Oxalsäure, verdünnte Schwefelsäure der preussischen Phar-
makopoe noch in lOOfacher Verdünnung. In iOOOOOfacher Wasser-
verdünnung wirkte keiner der geprüften Körper. — Neuere Beobach-
tungen von M. Roth 2) bestätigen diese Angaben. Erwähnung verdient,
dass Roth den durch äusserst verdünnte Essigsäure oder Chromsäure
bewirkten Stillstand aufheben konnte, wenn er einen Strom von lod-
serum oder Kochsalzlösung von 0,5" v, durch das Präparat fliessen Hess.
Roth widerspricht einer früheren Behauptung von Hannover-^), dass
in verdünnter Chromsäure Flimmerbewegung sich erhalten könne. —
Kühne *) endlich, der an Anodonta experimentirte, theilt mit, dass man
die mittels Ammoniakdämpfen zur Ruhe gebrachte Flimmerbewegung
durch Essigsäuredämpfe wiedererwecken könne. • Ein Ueberschuss
der letzteren bewirke dann Stillstand, den man durch Alkalien wieder
aufzuheben vermöge.
Stuart kommt zu demselben Resultat an Essigsäure , Oxalsäure,
Phosphor-, Salz-, Salpeter- und Chromsäure, die er in tropfbar flüs-
siger Form den Zellen von der Rachenschleimhaut des Frosches zu-
führte. Auch er erwähnt nichts von einer erregenden Wirkung der
Säuren.
Meine eigenen Versuche, die wiederum hauptsächlich an den Flim-
merzellen der Mundschleimhaut des Frosches angestellt wurden, er-
strecken sich auf den Einfluss der Salzsäure, der Chromsäure, der
Oxalsäure, der Essigsäure und der Milchsäure. Salz- und Essigsäure
führte ich meist in üampfform dem in der Gaskammer befindlichen
Präparate zu. — Die betreffenden Versuche kann man am schnellsten
und einfachsten so anstellen , dass man über die eine Aiisführungs-
röhre der Kammer einen Kautschukschlauch zieht und dessen freies
i) PuRKi>jE et Valentin, De phaenomeno generali et fundamentali motus vi-
bratorii 1835. pag. 74 — 76. — Valentin, Art. Flimmerbewegung in R. Wagner's H.
d. Ph. Bd. I. pag. 512.
2) Roth, Ueber einige Beziehungen des Flimmerepithels zum contractilen Pro-
toplasma. In ViRCHOw's Archiv Bd. 37. 1866. pag. 184.
3} Hannover in Müller's Archiv. 1840. pag. 557.
4) Kühne in M. Schultze's Archiv. 1866. p. 375.
Olipr A\p Fliinincrbewegnny. 361
Endo in den Mund nimmt. Vor dir andere OefTnung der Kammer, aus
der innn die Röhre herausschrnuben kann, hall man einten mit der Säure
befeuchteten Glasstöpsel oder Glasstab. Die in die Kammer hercin-
gesaugte Luft ist dann mit Säuredämpfen beladen i).
Die Ergebnisse waren, bei Anwendung von Salzsäure- wie von
E s s i g s ä u r e d ä m p f e n , im Wesentlichen dieselben wie bei Kohlen-
säure.
Hat sich die Bewegung in indifferenten Lösungen verlang-
samt, so beginnen nach wenig Secunden an allen Stellen des Präpara-
tes die Bewegungen sich in hohem Maasse zu beschleunigen und zu ver-
stärken. Vorher stillgewesene Wimpern schlagen nach einer Viertel-
minute mit einer Frequenz von mehr als acht Schwingungen in der
Secunde, und an vielen Stellen erfolgen die Bewegungen so rasch, dass
selbst der Eindruck des Flimmerns nicht mehr zu Stande kommt. Die
Bewegungen haben beim Wiedererwachen oft Wellenform ; auch vor-
her hakenförmige , kleine Bewegungen gehen beim Beginn der Salz-
säurewirkung nicht selten rasch in grosse wellenförmige über. —
Wenn nur eine äusserst geringe Menge Säure der Luft beigemischt
bleibt, kann sich die Bewegung sehr lange erhalten, auch wenn sie vor
dem Zutritt der Säure schon stillgestanden hatte. Bei Ueberschuss der
Säure tritt meist sehr schnell Stillstand ein. Beim Uebergang in den
Stillstand verlangsamt sich nicht nur das Tempo, sondern es werden
1 Leitet man die Säuredämpfe vor dem Eintritt in die Gaskammer din-ch
Kautschukschläuche, so hat man auf einen Umstand zu achten, der zu groben Tau -
schungen Veranlassung geben kann. Es fiel mir im Anfang meiner Versuche wie-
derholt auf, dass ich beim Durchsaugen von starken Essigsäuredämpfen durch
Schläuche von nicht valkanisirtem Kautschuk, keinen Säuregeschmack im Munde
bekam. Die Schläuche waren nicht länger als 0,5 Meter und ihr Lumen 3 Mm.
weit. Selbst als ich das eine Ende des Schlauchs in eine mit concentrirter Essig-
säure halbgefüllte Flasche hängen Hess und am andern Ende mit dem Munde kräf-
tig sog, schmeckte ich anfangs nichts von Säure. Erst nach längerem, oft minuten-
lang fortgesetztem Saugen machte 'sich Säuregeschmack bemerkbar. Bei näherer
Untersuchung zeigte sich, dass die Essigsäuredämpfe von den Kautschukschläu-
chen verschluckt waren. In der That hauchten diese Kautschukschläuche nun be-
ständig .Säuredämpfe aus und zwar in so hohem Maasse , dass noch Wochen nach-
her alle atmosphärische Luft , die durch die Schläuche gesaugt wurde , stark sauer
herauskam. Und diess war selbst dann noch der Fall, als dieSchläuche einige Tage
lang in ammoniakhaltigem Wasser gelegen hatten. Man thut darum besser, solche
Schläuche überhaupt nicht zu gebrauchen. Bei Schläuchen von vulkanisirtem
Kautschuk ist mir der genannte Uebelstand nicht aufgefallen. Doch prüfe ich der
Siciierheil lialberdie Reinheit allerSchläuche, indem ich längere Zeit Luft hindurch-
leite und diese einmal in eben blauer, einmal in sfhwach rother Lakniustinctnr auf-
fange. Letzteres ist nöthig, weil auch Ammoniakgas von manchen Schläuchen in
grossen Quantitäten verschluckt und dann ausgehaucht wird.
362 Th. W. Eiigelmanii,
auch die Excursionen in der Regel viel kleiner und die hakenförmigen
Bewegungen werden vorwiegend. Zugleich werden die Zellen gelblich,
feinkörnig getrübt, die Kerne erscheinen mit dunklen unregelmässigen
Contouren, auch die Wimpern scheinen dunkler contourirt und gelb-
lich und stehen endlich schräg und gestreckt still, ebenso wie das frü-
her schon beschrieben wurde. — Die Beschleunigung der Bewegung
tritt ein, noch bevor die Kerne der im Präparate befindlichen rothen
Blutkörperchen durch die Säure sichtbar gemacht werden. Ebenso
tritt sie früher ein, als sich ein im Tropfen befindliches Stück blaues
Lakmuspapier röthet. Auch der Stillstand pflegt schon da zu sein, wenn
die rothe Färbung eintritt.
Um nichtflüchtige Säuren, wie Ghromsäure, Oxalsäure u. a. schon
im ersten Stadium zu beobachten, zog ich es vor, die säurehaltige Flüs-
sigkeit nicht von der Seite her unter dem Deckglase durchOiessen zu
lassen, wie man das sonst wol mit Hilfe von Fliesspapier z. B. thut.
Hierbei ist es aus vielerlei Gründen unmöglich, den Moment zu bestim-
men, in welchem die beobachteten Zellen mit der Säure in Berührung
kommen, namentlich ist die Schleimhaut oft mit einer, nicht selten
ziemlich weit von der Oberfläche der Zellen abstehenden Schleimschicht
überzogen, an welcher sich der Säurestrom bricht, und im Vordringen
zu den Zellen behindert wird. Aus diesen Gründen schlug ich folgen-
des Verfahren ein. Ein Glasröhrchen wurde in eine etwa 2 Cent, lange,
sehr feine capillare Spitze ausgezogen , und mittels einer nach allen
Richtungen frei beweglichen Klemme so fixirt, dass die Mündung die-
ser Spitze (die eine Weite von etwa 0,06 Mm. besass) in der Mitte des
Gesichtsfeldes vom Mikroskop dicht vor den zu beobachtenden Flim-
merzellen im Focus sich befand. In das Glasrohr war nun vorher die
säurehaltige Flüssigkeit so gefüllt worden, dass sie bis ungefähr 1/4 Mm.
weit von der capillaren Oeffnung stand. Hierdurch wird erreicht, dass
beim Eintauchen der Spitze des capillaren Glasrohrs in den Tropfen,
in welchem sich die Flimmerzellen befinden, eine Luftblase von 1/4 Mm.
Länge die Mündung des Röhrchens verschliesst und verhindert, dass
die Säure sich ohne Weiteres mit der Flüssigkeit mische, in der das
Object liegt. Ist das Glasröhrchen in der richtigen Einstellung fixirt,
so treibt man durch Blasen in einen über das weitere Ende des Glas-
rohrs gezogenen Kautschukschlauch erst die in der Mündung steckende
kleine Luftblase heraus , der sogleich die saure Flüssigkeit folgt. Je
nachdem man stärker oder schwächer bläst, geht die Flüssigkeit schnei-
er oder langsamer heraus und kann auch durch Saugen sofort wieder
in das Capillarrohr zurückgebracht werden, falls sie nicht zu weit aus-
getreten war. Auf diese Weise kann man den Zutritt der Flüssigkeit
lieber die Flimmerbewegiing. 363
ziemlich genau localisiron und legulircn und ;illc Stadien der Ein-
wirkung bequem heobnchlen.
Ich brachte nun die Mündung des Capillarrohrs vor eine (jiuppo
von Zellen, deren Bewegung sich in Kochsalz von 0,5% oder Serum
theils veiiangsanil hatte, theils schon stillstand. Trieb ich halbprocen-
tige Kochsalzlösung oder Serum durch das Röhrchen auf die Zellen, so
beschleunigte sich die Bewegung nicht oder nur wenig. Anders, wenn
ich mit Chromsäure von 0,1% versetztes Serum in die Röhre gefüllt
hatte. Im Moment, wo die schwach gelbliche Flüssigkeit aus der Mün-
dung des Röhrchens austrat, beschleunigte und verstärkte sich die Be-
wegung bei den vor der Mündung liegenden Zellen erheblich, einzelne
erwachten aus dem Stillstande. Hiernach trat unter gelblicher Fär-
bung und Trübung der Zellen Stillstand ein. Saugte ich die kleine
Menge der ausgetretenen Chromsäure in die Glasröhre zurück, so be-
gann die Bewegung wieder, doch nicht stark und nicht schnell. Zu-
gleich nahm die gelbliche Färbung der Zellen etwas ab. —
Wurde statt der Chromsäure Oxalsäure oder Milchsäure be-
nutzt, so traten ganz dieselben Aenderungen der Bewegung ein : erst
Beschleunigung, dann Verlangsamung und Stillstand unter Trübung der
Zellen und Sichtbarwerden der Kerne. — Nimmt man die Säuren zu
concentrirt, odßr treibt man sie sehr rasch aus der Mündung heraus,
so kann das Stadium der Beschleunigung unterdrückt werden und man
erhält sogleich Stillstand. —
In der hier angegebenen Weise kann man sich auch von der be-
schleunigenden Wirkung der Kohlensäure überzeugen. Man beobach-
tet eine auffällige Beschleunigung und Verstärkung der Bewegungen,
wenn man eine mit Kohlensäure gefüllte Luftblase aus der Mündung
des Capillarrohrs an die Zellen treten lässt.
Der belebende und erst bei fortgesetzter Einwirkung hemmende
Einfluss der erwähnten Säuren zeigte sich auch ferner unter ganz den-
selben Verhältnissen wie bei der Kohlensäure: bei dem Stillstande durch
Wasser, durch zu stark verdünnte und zu stark concentrirte
Salzlösung, beim Stillstande in reinem Wasserstoff (wenigstens
in der ersten Zeit desselben) oder in reinem Sauerstoff in indifl'e-
rentcn Flüssigkeiten, endlich beim Alkalistillstande. — Niemals
gelang es, durch eine der genannten Säuren einen durch Luft nicht
mehr zu beseitigenden Aether- oder Ghloroformstillstand zu he-
ben ; ebensowenig einen Wä rme still sta n d in Serum, der beim
blossen Abkühlen nicht weichen wollte, oder einen durch elektrische
Schläge herbeigeführten Stillstand.
Wie endlich zu erwarten war, ist es selbst bei grösster Vorsicht
364 Th. W. Eiiuelmaim,
nicht möglich, einen durch eine Säure herbeigeführten Stillstand durch
Zufuhr einer anderen Säure aufzuheben. Hat man aber z. B. einen
Kohlensäurestillsland durch atmosphärische Luft aufgehoben und be-
ginnen nach einiger Zeit die Bewegungen sich in atmosphärischer Luft
zu verlangsamen, so ruft dann Zufuhr von Salzsäure oder Essigsäure
ebensogut Beschleunigung und Verstärkung hervor, wie Kohlensäure.
Gedenken wir noch mit einigen Worten der Mittel, welche die
dvnch Säuren vorsichtig zur Ruhe gebrachte Flimmerung wieder erste-
hen lassen. Wir berücksichtigen hier nur solche Fälle , in denen die
Zellen zu Beginn der Säureeinwirkung in indifferenten Flüssigkeiten
lagen. Hat man den Stillstand durch Salz- oder Essigsäuredämpfe äus-
serst vorsichtig herbeigeführt und lässt man sofort nach seinem Eintritt
reine atmosphärische Luft in starkem Strome durch die Gaskam-
mer gehen, so erwachen mitunter nach einiger Zeit (nach einer halben
bis mehreren Minuten) die Bewegungen wieder. Doch ist es viel häu-
figer, dass der Stillstand fortbestehen bleibt. Auch bleiben die Bewe-
gungen im ersten Falle klein , nicht frequent und erlöschen in der Re-
gel bald wieder. Auch durch wiederholtes Auswaschen mit reinem Was-
ser, noch besser mit Kochsalz von 0,5% kann man, freilich oft erst
nach Minuten, die Bewegungen wieder in's Leben rufen. Aber auch in
diesen Fällen bleiben die wieder erwachten Bewegungen klein, haken-
förmig, wenig frequent. Vielleicht beruht diess Wiedererwachen nur
darauf, dass die Säure nicht weiter als bis in die oberflächlichsten Par-
tien der Zellen eingedrungen war und hier dann nach dem Auswaschen
der Säure dadurch neutralisirt wurde, dass schwach alkalische Flüs-
sigkeit aus den von der Säure nicht erreichten tieferen Partien der
Schleimhaut langsam nach der Oberfläche zu diffundirte. —
Das Hauplmittel gegen den Säurestillstand sind die Alkalien, von
deren Einfluss sogleich weiter die Rede sein wird. — Liess ich Flim-
merzellen durch Salz- oder Essigsäuredämpfe sehr vorsichtig bei ge-
wöhnlicher Zimmertemperatur zur Ruhe kommen, und brachte ich dann
die feuchte Kammer auf den stark geheizten Objecttisch von Schultze,
dann erwachten die Bewegungen niemals wieder, wohl aber (falls die
Erwärmung nicht zu weit getrieben war) , sobald etwas Ammoniak
durch die Kammer geführt wurde.
Taucht man frische Flimmerzellen in verdünnte oder concentrir-
tere Lösungen von reinen Mineralsäuren (Schwefelsäure, Salzsäure.
Salpetersäure von 0,5% und mehr), so steht die Flimmerbewegung
augenblicklich und für immer still. Die Zellen werden dabei undurch-
sichtig und bräunlich.
üeber die Fliminerbewegung. 365
IV. E i n f 1 u s s von Alkalien a u 1" d i e F 1 i ni ni o i' b e vv e g u n g.
Die günstige Wirkung alkalischer Flüssigkeiten ist, nachdem wie
oben schon erwähnt, Virchow den erregenden Einlluss von Kali und
Natron entdeckt hatte, von vielen Seiten bestätigt worden. Doch sind
die Bedingungen , unter denen die Alkalien ihren belebenden Einfluss
äussern , nicht näher untersucht. Nur für den Säurestillstand haben
Cl, Bernard und \V. Kühne gezeigt, dass er durch Alkalien aufgehoben
werden kann, und letzterer Autor meint, dass wol auch in den andern
Fällen die günstige Wirkung des Alkali auf Neutralisation einer Säure
in den Flimmerzellen beruhen möge. — Ich untersuchte wie die Alka-
lien auf Flinuuerzellen wirken , deren Thätigkeit unter verschiedenen,
bestimmten Bedingungen nachgelassen hat, und dann, welche Mittel
einen unter verschiedenen Umständen eingetretenen Alkalistillstand
aufzuheben im Stande seien.
Sind Flimmerzellen, die in Kochsalz von 0,5 — 0,6^0 oder in
Serum liegen, bei Anwesenheit von atmosphärischer Luft oder in einer
Atmosphäre von reinem Sauerstofl* zur Ruhe gekommen, so erweckt
Zusatz von Kali- oder Natronlauge die Bewegungen wieder und
wenn diese Flüssigkeiten in äusserst hoher Verdünnung benutzt wer-
den, kann sich die Bewegung dann lange erhalten. Beim Erwachen
sind die Bewegungen fast ausschliesslich wellenförmig und von sehr
grosser Amplitude, ihr Tempo, anfangs meist langsam, kann sich bald
zu derselben Höhe erheben , wie wir das für die Kohlensäure und an-
dere Säuren fanden. Je weniger Veränderungen man beim Wieder-
erwachen der Bewegung im Aussehen der Zellen bemerkt, um so län-
ger dauert dann die Bewegung. Wird aber das Kali oder Natron nicht
in äusserst geringer Menge der indifferenten Flüssigkeit, in der das
Präparat liegt, zugesetzt, so bemerkt man theils beim Wiederbeginn
der Bewegung, theils bald nachher, unter gleichzeitiger Verlangsamung
der Bewegungen eine erhebliche Quellung. Die Zellen schwellen auf,
werden ganz durchscheinend ; ebenso werden die Flimmerhaare deut-
lich dicker und blasser, endlich können die Zellen platzen und Alles
wird aufgelöst. — Ganz ebenso wirkt nun das kaustische Ammoniak
auf die in Sauerstoff oder atmosphärischer Luft zur Ruhe gekommene
Bewegung. Saugt man einen Luftstrom, dem Ammoniakdämpfe beige-
mischt sind, durch die Gaskammer, so gerathen alle Zellen im Präparat
in die heftigste Bewegung '). Der Tropfen nimmt zugleich eine deutlich
ij Zuin Uebertluss kann man sich auch hier vor dem Anstellen des Versuchs
überzeugen, dass das Duichsaugen eines Stromes reiner atmosphärischer Luft die
Bewegungen nicht wieder anfacht.
366 Th. VV. Kiitfflniaiiii.
alkalische Reaction an. Die Form und das übrige Verhalten der Bewe-
gung beim Wiedorerwachen durch Ammoniak, sind ganz eltenso wie
beim Erwachen durch die fixen Alkalien. Bei längerem Durchführen
des Aramoniakgases tritt dann Stillstand ein, zuweilen noch bevor die
Zellenkörper erheblich gequollen sind. Endlich können, wie in Kali
und Natron die Zellen zerfliesseii^ die Wimpern sich auflösen.
Wie wir früher gesehen haben . beiuhte der Stillstand in indiffe-
renten Lösungen wie Serum , Humor aqueus u. s. w. darauf, dass die
Lösungen nicht indifferent, sondern in den allermeisten Fällen etwas
zu coucenlrirt waren. Es Hess sich desshalb erwarten , dass auch der
durch stark concentrirle Salzlösungen herbeigeführte Still-
stand durch Alkalien aufzuheben sein %%-ürde. Dass diess in der That
möglich ist, haben wir schon bei Besprechung des Einflusses der Salz-
lösungen angegeben. Wir fügen hier noch bei, dass durch eine sehr
geringe Zumischung von Kali. Natron oder Ammoniak ziemlich con-
centrirte und für sich schädliche Lösungen nahezu indiöerent gemacht
werden können. So ist z. B, eine Traubenzuckerlösung von 3%, der
eine Spur äusserst veixlünnter Kalilauge zugesetzt wurde, viel günsti-
ger als reine Traubenzuckerlösung von derselben Concentration.
Es wurde gleichfalls oben schon mitgetheilt, dass die Alkalien ihre
belebende Wirkung vollständig versagen, wenn die Flimmerung durch
Einfluss von reinem Wasser verlangsamt oder zur Ruhe gekommen
ist. Die durch Wasser verlangsamten Bewegungen werden z. B. durch
etwas Ammoniak sofort unter plötzlicher Zunahme der Quellung zum
Stillstand gebracht, der bereits eingetretene Wasserstillstand niemals
durch Alkalien aufgehoben. Dasselbe gilt natürlich, wenn statt reinen
Wassers äusserst verdünnte neutrale Salzlösungen . wie Kochsalz von
0,'i" (j und darunter zur Lähmung der Wimperthätigkeit benutzt wei-
den waren. Zu den Fällen, wo Aet her, Alkohol, Seh wefelkoh-
len Stoff oder Chloroformdämpfe den Stillstand veranlasst hatten
und wo dann ein Luftstrom allein die Bewegungen nicht wieder an-
fachen konnte, helfen Alkalien auch nichts mehr. — Wo dagegen durch
überschüssige Säurezufuhr dem Spiel der Wimpern ein Ende ge-
macht war, können Alkalien eine fast specifische belebende Wirkung
entfalten. Am schönsten sieht man diess bei Zellen, die in einer un-
schädlichen Flüssigkeit in der Gaskammer liegen und durch schwache
Essigsäure- oder Salzsäuredämpfe scheintodt gemacht sind,
wenn ein wenig Ammoniakeas , mit Luft gemischt über das Präparat
geleitet, oder — was unbequemer — wenn letzteres mit alkalischer
Flüssigkeit ausgewaschen wird. Die Veränderungen , welche die Säu-
ren im Aussehen der Zellen hervorgerufen hatten , verschwinden unter
L'eber d»e Fttmraorbewegmi«;. 367
dem Einfluss der Alkalien , und es kommt meist ein Zeilpunct, wo die
Zellen ihr normales Ansehen wieder haben. Sehr leicht überschreitet
jedoch die Säurewirkung die Grenze, wo eine Wiederbelebung durch
Alkalien noch möglich ist. Bei längerem Durchleiten von Ammoniak
oder Auswaschen mit Kali- oder Natronhaitigen Lösungen werden in
diesem Fall die Zellen schliesslich aufgelöst , ohne dass ein Zeitpunct
kommt, wo die Bewegung wieder erwacht.
Ebenso wie die in atmosphärischer Luft oder in Sauerstoff zum
Stillstand gekommene Bewegung, kann in vielen Fällen auch der Was-
serstoffstillstand ohne vorherigen Sauerstoffzutritt durch Alkalien
-aufgehoben werden. Ich brachte neben den Tropfen halbprocentiger
Kochsalzlösung oder Serum, welcher die Flimmerzellen enthielt, einen
Tropfen Serum dem eine Spur Kali- oder Xatronlösung zugesetzt war,
so dicht, dass die Ränder beider Tropfen sich beinah berührten. Nun
wurde Wasserstoff durch die Gaskammer geleitet bis die Bewegung
überall oder doch an den meisten Orten stillstand. Hierauf neigte ich
das Mikroskop mit der Gaskammer etwas , so dass der Kalitropfen mit
dem andern zusammenfloss. Sofort zeigte sich an allen den Stellen, wo
die Kalilauge hindrang Wiederbeginn der Bew egung , und wenn nur
die Lauge genügend schwach gewesen war, dauerte es dann lange, ehe
der Wasserstoffstillstand wieder eintrat. Lässt man unter gleichen Um-
ständen einen Tropfen Serum oder Kochsalzlösung ohne Alkali zu dem
Präparate fliessen , so tritt in der Regel keine Spur von Beschleuni-
gung ein.
Auch durch Beimischen von Ammoniak zum Wasserstoff kann man
den bereits eingetretenen Wasserstoffstillstand schnell aufheben und
wenn die beigemischte Menge Ammoniak klein genug ist . kann der
Eintritt des Wasserstoffstillstands bedeutend verzögert werden, gerade
wie diess eine Beimischung von etwas Kohlensäure zum Wasserstoff
thut. —
Beim Erwachen aus dem Wasserstoffstillstand durch Alkalien ha-
ben die Bewegungen meitt Wellenform und sind gross. Das Tempo
kann binnen fünf Secunden schon beträchtlich schnell geworden sein.
— Hat der Wasserstoffstillstand schon sehr lange angehalten , bevor
das Alkali zugesetzt wird, so erwacht die Bewegung in der Regel nicht
wieder, wenn nicht auch Sauerstoff zugeführt wird. In letzterem Falle
kann dann die Bewegung , wenn auch nicht die normale , doch eine
bedeutende Höhe erreichen.
Von grossem Interesse ist der Einfluss der Alkalien auf Flimmer-
zellen die durch kurzdauernde Er^^;irmuns auf etwa 45" in Läh-
368 ^h. W, Engelmauii,
mung versetzt sind. Hierauf kommen wir weiter unten nusfillirlicher
zurück.
Es fragt sich nun, welche Mittel den Alkali stillstand aufheben.
Wir denken hier zunächst an den Stillstand, der durch überschüssige
Alkalizufuhr zu möglichst indifferenten Flüssigkeiten herbeigeführt
wurde. Man braucht nicht lange Zeit Anmioniakdämpfe über ein in
Serum oder noch besser Kochsalz von etwa 0,ö'% liegendes frisches
Präparat zu leiten, um die Bewegung überall aufhören zu sehen. Sie
steht oft schon still, ehe die Zellen bedeutend gequollen sind und die
Lage der Wimpern ist dieselbe schräg nach vorn geneigte, wie bei den
andern Formen des Stillstands. In solchen Fällen giebt es nun verschie-
dene Mittel der Wiederbelebung. Eins der schwächsten ist Wasser
oder äusserstverdünnte neutrale Salzlösungen. Hier tritt näm-
lich sehr bald nach der Wiederbelebung Wasserstillstand ein. Besser
wirken indifferente Salzlösungen oder überhaupt unschädUche
Flüssigkeiten, auch wenn sie, wie Serum, schwach alkalisch sind.
Lässt man den Alkalistillstand nicht zu lange dauern und sind die Zellen
nicht durch zu starke Einwirkung des Alkali getödtel, dann kann
nach dem Auswaschen die Flimmerung ihre anfängliche Schnelle wie-
der erlangen. Dass die Wiedererweckung auch durch Einlegen eines
Kochsalzkrystalles in die Nähe der stillstehenden Wimpern ge-
lingt, haben wir oben erwähhnt. — Aether und Alkohol können,
wenn nur der Ammoniakstillstand sehr vorsichtig eingeleitet war,
schwache Bewegungen wieder hervorrufen. Hiervon später. Die Säu-
ren aber sind es, welche am schnellsten und sichersten den Alkali-
stillstand beseitigen, und zwar thun sie diess nicht nur, wenn die Zellen
sich anfangs in indifferenten Lösungen befanden, sondern auch wenn
die Bewegungen durch sehr kurze Einwirkung von reinem Wasser eben
verlangsamt und dann durch wenig Ammoniakgas völlig still gemacht
worden waren. Auch wenn die Zellen in etwas stärker concentrirten
Salzlösungen lagen, und durch überschüssiges Alkali gelähmt wurden,
können Säuren noch wiederbeleben.
Man stellt diese Versuche am bequemsten in der früher beschriebe-
nen Weise mit Dämpfen von Essigsäure oder Salzsäure an oder führt Koh-
lensäure durch die Gaskammer. Immer aber muss darauf geachtet wer-
den, dass die Alkalieinwirkung nicht zu weit getrieben wird. Auch ohne
dass die Zellen aufgelöst werden, können sie solche Veränderungen da-
durch erleiden, dass Säuren dann nicht wieder erwecken. Experirnen-
tirt man vorsichtig, so kann man dieselben Zellen wol fünf und mehrmal
IVhnr ilio FlimrtiPrbowPfftiiiß. 360
ihwcchselnd durch Alkalien 'ani hrston Ammoniak) und durch Sauren zur
Uuhc hriniicn und wieder erwecken und zwar scheint es gleichgültig
zu sein, oh man inuner dieselbe Siiure wieder wählt oder ol) jedesmal
eine andere Säure zur Beseitigung des Alkalistillstandes verwendet wird.
V. Einfluss von Wassersto ff un d Sa uerstoff a u f d ie
F li m m e r h e w e g u n g.
Die in der Eiideitung citirten Versuche von Kühnk an Anodonta
sind die einzigen , welche wir über den Einfluss von Wasserstofl" und
Sauerstort" auf die Flimmerbewegung besitzen. Kühne zog aus ihnen
den Schluss, dass der bei längerem Verweilen in reinem Wasserstoff
eintretende Stillstand nicht auf einer giftigen Wirkung des Wasserstoffs,
sondern auf dem Verdrängen des Sauerstoffs beruhe. Beimischung von
nur wenig Sauerstoff reichte aus, den Stillstand aufzuheben. Versuche
bei denen die Zellen in Hämoglobinlösung lagen , zeigten , dass die Be-
wegung von dem Moment an stillstand wo alles Oxyhämoglobin durch
den Wasserstoffstrom reducirt war. Versuche , welche ich über den
Einfluss von Wasserstoff auf die Flimmerbewegung bei Wirbelthieren
anstellte, haben in einigen Puncten andere Resultate ergeben.
Der zu den Versuchen benutzte Wasserstoff wurde durch Einwir-
kung von verdünnter Schwefelsäure auf Zinkblechstücke dargestellt,
vor seinem Eintritt in die Gaskammer in salpetersaurer Silberoxyd-
lösung, in Kalilauge und W^asser gewaschen und nach seinem Austritt
aus der Kammer von Zeit zu Zeit auf seine Reinheit geprüft. Vom luft-
dichten Verschluss der Gasleitungsröhren und der Gaskammer über-
zeugte ich mich jedesmal durch Zudrücken des Ausführungsschlauchs
der Kammer : die Flüssigkeit der Entwicklungsflasche stieg sofort em-
por und in den Waschflaschen stiegen keine Gasblasen mehr auf.
Meist wurden die Flimmerzellen in der früher angeführten Weise
der Rachenschleimhaut eines eben getödteten Frosches entnommen,
und in einem Tropfen Blut, Serum , oder Kochsalz von 0,5% der Ein-
wirkung des Wasserstoffs ausgesetzt. Zur Beobachtung wurden meist
solche Zellen im l'räparate ausgesucht, welche eine zw^ar verlangsamte
aber doch noch lebhafte Bewegung zeigten. Die ausgesuchten Zellen
wurden stets erst fünf Minuten bis eine Viertelstunde lang beobachtet,
während die Gaskammer mit atmosphärischer Luft gefüllt war. Hatte
sich dann ihre Bewegung nicht merklich verändert, so wurde mit der
Einleitung des Wasserstoffgases begonnen.
Wie sich herausstellte , war der Erfolg der Behandlung mit Was-
serstoff im Wesentlichen derselbe , ob nun die Flimmerzellen in Blut
oder Blutserum , in Humor aqueus oder in Kochsalzlösung von 0,")%
R<1 IV 3. 24
370 Hl. VV. Engelmaiin,
lagen. In allen Fällen tritt eine A2)nahme der Bewegung, nach längerer
Einwirkung des Gases Stillsland ein. In der Regel ändert sich die Be-
wegung innerhalb der ersten Minuten nicht. Der Moment des Wasser-
stoffzutritts verräth sich weder durch eine Beschleunigung noch durch
eine Verlangsamung der Bewegung. Nach drei bis fünf Minuten , oft
auch erst nach einer Viertelstunde oder später , im Allgemeinen um so
früher, je schneller der Wasserstoffstrom die atmosphärische Luft aus
der Gaskammer verdrängt, beginnt die Bewegung nachzulassen. Dieser
Nachlass erfolgt nie plötzlich , sondern allmählich und geht ebenso
allmählich in den Stillstand über. Oft vergeht eine halbe bis ganze
Stunde und mehr Zeit , ehe der grösste Theil der Zellen zur Ruhe ge-
bracht ist. — Die Abnahme der Bewegung erfolgt nicht bei allen Zelten
in derselben Weise. Bei der Mehrzahl verlangsamt sich das Tempo,
während zugleich die Amplitude der Schwingungen abnimmt. Die mei-
sten zeigen die hakenförmige Bewegung mit immer kleiner werdenden
Excursionen. In der Regel bewegen sich hier die Haare einer und der-
selben Zelle bis zu Ende synchronisch und in parallelen Richtungen.
Eine kleine Anzahl von Flimmerhaaren nimmt eine mehr pendeiförmige
Bewegung an , bei der sich , wie oben auseinandergesetzt wurde, das
Basalstück der Wimper nicht betheiligt. Die Schwingungen beschrän-
ken sich auf ein immer kleiner werdendes Stück der Haarspitze, wobei
die Excursionsweite abnimmt, das Tempo aber nicht selten schneller
wird. Die Schwingungen benachbarter Haare erfolgen hier nicht mehr
in parallelen, sondern in mannichfach sich durchkreuzenden Richtun-
gen, und geschehen auf einer und derselben Zelle nicht mehr synchro-
nisch. Endlich sieht man nur noch die äussersten Spitzen der Haare
sehr kleine , zitternde Bewegungen ausführen. Diese werden bald un-
messbar klein, endlich nicht mehr wahrnehmbar. — Eine sehr geringe
Anzahl von Flimmerhaaren behält bis zu Ende die wellenförmige Be-
wegung. Hier schwingen alle Haare derselben Zelle bis zuletzt synchro-
nisch und in parallelen Richtungen. Das Tempo verlangsamt sich aber
allmählich , so dass kurz vor dem Aufhören vielleicht nur von fünf zu
fünf Secunden eine Schwingung ausgeführt wird. Dann treten noch
grössere Pausen ein , von einer Viertelminute und darüber, es erfolgt
noch ein einzelner Schlag, endlich nichts mehr.
Wo schon vor dem Einleiten des Gases Verlangsamung der Bewe-
gung bemerkbar war, beschleunigt der Wasserstoff den Eintritt des
Stillstandes. Mitunter hört bei einzelnen Zellon die Bewegung selbst
dann nicht völlig auf, wenn der Wasserstoffstrom eine Stunde und
länger in unverminderter Stärke die Kammer passirt hat und wenn an
den benachbarten wie den entfernteren Stellen des Präparates die Be-
Ucbor die Plimmcrbewegiirig. 371
wegung schon lange stillsteht. Diess sind meist , doch durcliaus nicht
itnnier, solche Zellen, welche zu Anfang des Versuches eine sehr starke
und schnelle Bewegung zeigten. Man Irill't sie namentlich hei Anwen-
dung von Blut oder Blutserum als Untersuchungsflüssigkeit, doch im-
merhin selten. Stets ist ihre Bewegung wenigstens sehr helriichtlich
verlangsamt, und kounnt nach mehrstündigem Verweilen in der Atmo-
sphäre von reinem Wasserstoff endlich auch zur Ruhe.
Liegen die Zellen nicht in den obengenannten »indifferenten Flüs-
sigkeiten,« sondern in etwas concentrirterer Kochsalzlösung
(z. B. 1%)» so tritt der Wasserstoffstillstand noch viel eher ein und zwar
viel früher, als er bei Anwesenheit von Sauerstoff in der letzteren Lö-
sung zu Stande gekommen sein würde.
Verschiedene Versuche, bei denen die Zellen in Oxyhämoglobin-
lösung oder reinem Blut lagen, ergaben das constante Resultat, dass
die Bewegung noch lange (eine Stunde und mehr) fortbestehen blieb,
nachdem alles Sauerstoniiämoglobin durch den Wasserstoffstrom redu-
cirt schien. Es wurde bei diesen Versuchen regelmässig erst längere Zeit
(eine Viertelstunde und länger) Wasserstoff durch die vor der Gaskam-
mer gelegenen Theile des Apparates geführt, ehe die Gaskammer selbst
in den Wasserstoffstrom eingeschaltet ward. Der Druck im Innern der
Gaskammer war inuner ansehnlich höher als der der Atmosphäre. Unter
diesen Umständen, wo von Anfang an reiner Wasserstoff 4n die Kam-
mer eintritt, brauchte man in der Regel nicht mehr als 10 — 15 Minuten
lang Wasserstoff durchzuführen um alles Sauerstoffhämoglobin zu re-
duciren , das sich in dem , w ie gew öhnlich unbedeckt , an der Unter-
fläche des Deckglases schwebenden Tropfen befand. Schon für das
blosse Auge war zu dieser Zeit deutlich die bekannte Farbenverände-
rung eingetreten und mittelst des Mikroskops konnte man sich an den
einzelnen Blutkörperchen von derselben überzeugen. Die Untersuchung
mit dem Spectralapparat zeigte, dass die beiden anfangs sehr deutlich
wahrnelunbaren AI>sorptionsbänder des Sauerstoffhämoglobins ver-
schwunden waren. Dennoch hatte zu dieser Zeit die Stärke und Schnel-
ligkeit der Bewegung nur wenig oder gar nicht abgenommen. Als etwas
atmosphärische Luft in den Apparat gelassen w'urde, erschienen die
Absorptionsbänder des Sauerstoffliämoglobins sehr schnell wieder.
Zur Wiederbelebung aus dem Wasserstoffstillstand reicht Zufuhr von
Sauerstoff in vielen Fällen aus. Hat man durch einen Strom reinen *
Wasserstoffgases die Flimmerbewegung, in Serum z. B. , verlangsanü
und mischt nun den) Wasserstoff plötzlich Sauerstoff bei, so beginnt
bald an allen Stellen die Bewegung sich zu beschleunigen und die Ani-
44 *
372 Tb. W. Kiig:elnianii.
plitude der Schwingungen sich zu vcrgrössorn. I.sl (ii(^ znm'fuhilc
Sauorslollincugo sehr gering, so dauert es olt eine halhc iVliiiule und
länger, eiio die Beschleunigung sich benierkhar inachl. Auch tritt sie
dann nicht niil einem Schlage, sondern allniählicli ein. Eine Minute
und mehr Zeit kann verstreichen, ehe die Winipeni Nsieder so schnell
schlagen, wie vor dem Einleiten des Wasserstofis. — Ist die zugeführte
Sauerstoffmcnge gross, so kann schon nach zehn Secunden eine ziem-
lich plötzliche Beschleunigung und Verstärkung der Bewegungen be-
ginnen. Wenige Secunden später kann die Bewegung ihr Maximum
erreicht haben, und hält sich nun, wenn fortdauernd genügende Sauer-
stoffmengen zugeführt werden, lange Zeil auf dieser Höhe. — Im Beginne
der Sauersloffeinwirkung beobachtet man gleichzeitig eine Vergrösse-
rung der Excursionsweite und eine Steigerung dor Frequenz. Wim-
pern, die bei der Verlangsamung in Wasserstoff eine hakenförmige
Bewegung zeigten, nehmen dann zuweilen wieder die normale wellen-
förmige Bewegung an. Im Aussehen der Zellen ändert sich nichts.
Ist die Flimmerbewegung durch einen WasserstofFstrom in Serum
oder Kochsalz von 0,5% völHg zur Buhe gebracht, so hängt die Schnel-
ligkeit der Wiederbelebung durch Sauerstoff von mehreren Umständen
ab. Einmal nämlich von der Zeit, welche der Wasserstoffstillstand be-
reits gedauert hat und dann von der Menge des zugeführten Sauer-
stoffs. Stehen die Wimpern erst kurze Zeit (einige Minuten bis eine
halbe Stunde) im Wasserstoffstrom still, so genügt eine sehr kleine
Menge Sauerstoff, um sie wieder in Bewegung zu biingen. Sie er-
wachen um so später und um so langsamer, je länger sie schon im
Wasserstoff stillgestanden haben und je geringer die Saucrstoffmeng<^
ist. Führt man den Sauerstoff erst zu, nachdem der Wasserstoffstill-
stand mehrere Stunden lang gedauert hat, so muss man oft einige Mi-
nuten warten, ehe die Bewegung wieder beginnt. Ja, wenn nur sehr
wenig Sauerstoff zugeleitet wird, kann es vorkommen, dass die Bewe-
gung innei'halb der ersten Viertelstunde und vielleicht überhaupt nicht
mehr erwacht. — Verdrängt man plötzlich den Wasserstoff durch rei-
nen Sauerstoff, so kann man wenigstens, wenn die Zellen in Blut oder
Blutserum liegen , sicher sein , selbst nach langer Dauer des Wasser--
stoffstillstandes , die meisten Zellen wieder in Bewegung zu bringen.
Doch muss man auch hier mitunter Minuten lang warten. Nicht alle
Wimpern fangen dann zu gleicher Zeit an . sich wieder zu bewegen.
Einzelne beginnen mit einer sehr langsamen , grossen Schwingung,
andere mit sein- kleinen, hakenförmigen Bewegungen, die allmählich
grösser und frequenter werden. Selten erreichen die Bewegungen,
wenn sie längere Zeit in Wasserstoff' stiHgeslanden haben, eine bedeu-
Uehor iln' riiiiiiiioificwpiiiiiiß. 373
tciidc (i(Sili\Ni!i(lii;k.c'il. ßoi niclil wenigen Zellen sieht selion ein piuw
Minuten nach dem Zutritt des Sauersiofl's die Bewegung wieder still.
Hegelmiissig erwaeht bei einzelnen Zellen die Bewegung selbst in rei-
nem Sauerslofl nicht wieder. Ebenso wie der Sauerstofl wirkt auch
kohlensäurelVeie atmosphärische Luft auf den WasserstolTslillstand.
Noch häufiger misslingt die Wiederbelebung der Bewegung durch
SauersLoir. wenn die Zellen in elsNas /u concentrirlen Kochsalzlösungen
P'„ etwa) gelegen und schon längere Zeit im Wassersloflstrom still-
gestanden haben. Da man hier ausser dem hemmenden Einfluss des
Wasserstofls noch die schädliche Wirkung einer 7ai stark concentrirten
Flüssigkeit hat, nimmt es nicht Wunder, dass Sauerstoffzufuhr allein
zur Wiinlerbelebung nicht immer ausreicht. Und dasselbe gilt auch
von den angeblich indifferenten Lösungen, wie Serum, Humor aqueus
u. s. f., da diese, wie wir oben zeigten, fast immer etwas zu concen-
trirt sind. Auch wenn in diesen Flüssigkeiten die Flimmerzellen in rei-
nem Wassersloflstrom zur Ruhe kamen , ist dieser Stillstand nicht dem
WasserstotT allein zuzuschreiben. Diess geht daraus hervor, dass in den
Fällen , wo Verdrängen des Wasserstoffs durch Sauerstoff allein nicfit
ausreicht, die Bewegung wieder zu erwecken, diess doch sofort ge-
schieht, wenn man einen Tropfen Wasser, den Dampf von einer Säure,
von Ammoniak , von Aether, Wärme, kurz irgend eins der Mittel dem
Präparat zuführt, welche den in indifferenten oder zu concentrirten
Lösungen »von selbst« eintretenden Stillstand aufheben. Ja, wenn der
Wasserstofl'stillstand nicht schon Stunden lang angehalten hatte , rei-
chen in der Regel sogar, wie früher schon erwähnt, die letztgenannten
Mittel allein zur Wiederbelebung aus, ohne dass es der Zufuhr von
Sauerstoff bedürfte. Hierauf beruht es denn auch, dass der Wasserstoff-
stillsland später eintritt in alkalischem Serum als in den günstigsten Koch-
salzlösungen, später in di'eiprocenliger Zuckerlösung der eine Spur Alkali
zugesetzt wurde als in reiner Zuckerlösung von 3%, später wenn dem
Wassersloffstrom beständig eine Spur Kohlensäure beigemischt, wird,
U.S. f. Das Nähere; hierül)er wurde schon in früheren Abschnitten mit-
getheilt . Die F I i m tn e r b e w e g u n g kann sich also in einer
sa uerstof ff reien Atmosphäre noch einige Zeit (bis mehrere
Stunden) erhalten, wenn nur die Flüssigkeit in der die Zel-
len liegen eine passende Cancentra tion , Reaction und
Temperatur besitzt.
Ganz ähnlich wie in Wasserstoff verhalten sich die Zellen in einer
Almosphäre von koh I ensä urefreiem Leuchtgas. Allmählich —
meist im Verlauf einei- oder mehrerer vStunden — tritt Stillstand ein,
den Sauersloffzufuhi- aufhebt.
/;»
374 Th. W. Engelmaiin,
Lässt man den Wasserstottstillstand bei Zellen die in Serum oder
Kochsalz von 0,5% liegen, sehr lange, etwa mehrere Stunden dauern,
so gelingt die Wiederbelebung durch Wasser, Säuren, Alkalien,
Wärme u. s. f. nicht, wenn Sauerstoff abgeschlossen bleibt. Unter-
bricht man dann aber den Wasserstoffstrom und lässt Luft in die Gas-
kammer eintreten, so erwacht die Thäligkeit der Zellen wieder.
Mischt man dem Wasserstoffslrom vor seinem Eintritt in die Gas-
kammer beständig eine Spur Sauerstoff bei, so erhält sich die Bewe-
gung viel länger als in reinem Wasserstoff. Die Menge des beigemisch-
ten Sauerstoffs ist auf die Dauer der Bewegung von merklichem Ein -
fluss. Im Allgemeinen hält die Bewegung um so länger an, je mehr
Sauerstoff" beigemischt wird , doch reichen schon kleine Mengen dieses
Gases aus, um den Eintritt des Stillstandes lange hinauszuschieben.
Ist die Menge des Sauerstoffs im Verhältniss zu der des Wasserstoffs
sehr klein, so tritt der Stillstand bei weitaus den meisten Zellen früher
ein, als er unter übrigens gleichen Umständen bei alleiniger Anwesen-
heit von atmosphärischer Luft eingetreten sein würde. Man kann schon
nach ein paar Stunden, bei Anwendung von halbprocentigcr Kochsalz-
lösung, die Mehrzahl der Zellen in Ruhe linden. Doch ist es mir nie
gelungen alle Zellen still zu machen, wenn überhaupt noch etwas Sauer-
stoff in die Gaskammer gelangte.
Der günstige Einfluss des Sauerstoffs kann sich selbst dann noch
äussern , wenn die Flimmerbewegung in indifferenten Lösungen in at-
mosphärischer Luft sich zu verlangsamen beginnt. Schickt man einen
Strom reinen Sauerstoffgases durch die bis dahin mit atmosphärischer Luft
gefüllte Kammer, so beschleunigen und verstärken sich binnen wenigen
Secunden alle Bewegungen und können sich dann lange auf einer be-
trächtlichen Höhe erhalten. Auch bei Zellen , welche unmittelbar nach
dem Anfertigen des Präparates schon eine verlangsamte Bewegung zei-
gen , bewirkt das Verdrängen der atmosphärischen Luft durch reines
Sauerstoffgas eine Beschleunigung, oder falls schon Stillstand eingetre-
ten war, ein Wiedererwachen der Bewegung. Doch erlischt bei ihnen
nach einiger Zeit auch in reinem Sauerstoffgase die Bewegung!
Auch der Stillstand, welchen etwas zu concentrirtc Koch-
salzlösungen herbeiführen, ebenso der Wasserstillstand , wenn
er erst seit sehr kurzer Zeit besteht, kann durch einen Strom von rei-
nem Sauerstoffgas für kurze Zeit gehoben werden.
In einer Atmosphäre von reinem Sauerstoff scheint die Bewegung
zuweilen etwas früher zu erlöschen als unter sonst gleichen Bedingun-
gen bei Anwesenheit von Luft. Der einmal in reinem Sauerstoff ein-
Ueber die Flimmerbewegiing. 375
i^clic'Uno Slillslitnd kann aber uieiiiaLs durch Lull odor irgend ein in-
difVerentes Gas beseitigt werden; es hängt nur v^on der BeschafTenheil
der rnlersuehungsdüssigkeit ab, welche Mittel man zur Wiederbele-
bung wühlen niuss ; bei indifl'erenten oder etwas zu concentrirtcn Lö-
sungen also Wasser, Alkalien, Säuren, Wärme u. s. f.
Die in reinem SauerslolV zur Ruhe gekonnnenen Flimmerhaarc ha-
ben dasselbe Aussehen, wie die unter sonst gleichen Bedingungen in
Wasserslofl" oder in aln»osphärischer Luft zur Ruhe gebrachten Zellen.
Die Cilien stehen schräg nach \orn geneigt.
Dasselbe Verhalten gegen Wasserstoff und Sauerstoff, welches hier
für die Flimmerzellen der Mund- und Rachenschicimhaut des Frosches
geschildert wurde, zeigte auch die Flimmerbewegung vom Oesophagus,
vom Herzbeutel des Frosches, die der Tracheal- und der Nasenschleim-
liaul des lüuiinchens.
Leber den Einfluss von Ozon habe ich keine Versuche angestellt.
VI. Einfluss von Aelher, Alkohol und Schwefelkohlen-
stoff auf die F li nimerbe wegung.
Nach den Angaben von Purkyne und Valentin ') hebt Schwefel-
älher in hundertfacher, Alkohol in zehnfacher Wasserverdünnung die
Flinnnei'be wegung »in kürzerer oder längerer Zeit« auf. In Ueberein-
stimmung hiermit fand später Kölliker^] ^ dass Alkohol und Aether
auch auf die Bewegungen der Spermatozoon schädlich wirken. Claude
Bkrnard 'j endlich brachte den Oesophagus eines Frosches unter eine
mit Aelherdämpfen gefüllte Glasglocke und sah, dass die Bewegung
bald aufhörte, beim Aufheben der Glocke aber wieder begann. Diess
Wenige ist, soviel ich weiss. Alles, was über die Einwirkung der ge-
nannten Stoffe auf die Flimmerbewegung bekannt ist.
Es lohnte sich, zu untersuchen , wie diese Körper wirken , wenn
man sie als Gase den Flimmerzellen zuführt. Ich benutzte dazu wieder
die frühei' beschriebene Gaskammer. Das Object hing auf der untern
Fläche des Deckglases im Innern der Kammer. Mittelst eines capillar aus-
gezogenen Glasröhrchens ward ein AetUer- oder Alkoholtropfen durch
eine der seitlichen Mündungen auf den Boden der Gaskammer gebracht.
Um das Einführen der Flüssigkeit durch die Mündung zu erleichtern, war
eine der messingenen Ansatzröhren abgeschraubt worden. Ueber die an-
1) P. et V. De phaenoineno generali etc. p. 74. — R. W. H. Bd. I. pag. 512.
2) Ztschr. f. wiss. Zoologie Bd. VIL pag. 218.
3) Le^ons sur les proprietes de.s tissus vivants. pag. 137. Paris 1866.
376 Tb. W. Engelmann.
dere war ein Kautschukschlauch gezogen, dessen freies Ende ich in der
Regel während der Beobachtung im Munde hielt, um — worauf es in
diesen Versuchen oft ankommt — jederzeit einen beliebig starken Luft-
slrom durch die Kammer saugen zu können. Durch ein paar Tropfen
Wasser wurde der Raum feucht gehalten.
Lässt man in dieser Weise Aether auf Flimmerzellen wirken, die
der Rachenschleimhaut eines eben getödtelen Frosches entnommen
wurden, so beobachtet man Folgendes.
War die Flimmerbewegung in Serum oder in indifferenten
Kochsalz- oder Zuckerlösungen langsamer geworden, stellenweise
vielleicht ganz ausgelöscht, so erwacht sie beim Zutritt der Aether-
dämpfe und kann zuweilen die normale Höhe fast wieder erreichen.
Schon zehn bis zwanzig Secunden nach dem Einführen des Aethers be-
ginnt, wenn der Aethertropfen gross war, die Bewegung mit starken,
wellenförmigen Schlägen und in raschem , schnell das Maximum errei-
chenden Tempo. Wurde nur wenig Aether eingeführt, dann können die
ersten Bewegungen sehr langsam sein , sind aber auch meist gross und
wellenförmig und nehmen allmählich an SchneUigkeit zu. Im Aussehen
der Flimmerzellen selbst ändert sich hierbei nichts. — Bringt man nun
mehr Aether ein, so dass die Kammer beständig mit Aetherdampf gefüllt
ist, so verlangsamt sich die Bewegung bald wieder, wobei aber die
einzelnen Bewegungen meist gross und wellenförmig l)leiben; schon
nach zwei bis drei Minuten kann Stillstand im ganzen Präparat sein.
Zugleich entsteht eine feinkörnige Trübung im Innern der Zellen und oft
quellen dann hyaline Tröpfchen an der Oberfläche des Epithels, na-
mentlich aus den sogenannten Becherzellen heraus. — Die Wimpern
stehen in der Aetherruhe alle schräg nach einer Seite geneigt , ebenso
wie das früher für andere Arten des Stillstandes beschrieben wurde.
Je langsamer der Aether still stand eingetreten ist, und je kür-
zere Zeit er angedauert hat, um so leichte)' ist es, ihn zu beseitigen. Man
braucht dazu nur einen starken Strom atmosphärischer Luft durch
die Kammer zu saugen : allmählich fangen dann die meisten Wimpern
wieder an zu schlagen; erst sehr langsam, dann schneller. DieTrübung
der Zellen nimmt hierbei wieder ab. Die Bewegungen erreichen aber,
namentlich wenn sie schon einige Minuten lang still gestanden hatten,
selten wieder eine bedeutende Grösse und Schnelligkeit. Sie bleiben
oft hakenförmig. —
War die Aetherein Wirkung so stark, dass Durchsaugen \on Luft
die Bewegung nicht wiedererweckl , so stehen die Zellen für immer
still. Wedel- Säuren noch Alkalien , weder reines Wasser noch Salz-
l'plipv dif Flimmerbi'wejiuiiii 377
losunyiMi bt'lcboii sie, wieder. Sauren und Alkalien befördern vidnielir
den Einlrilt des Aetheislillslandes , wenigstens bei Zellen die in lod-
scruni oder indilVercnlen S.iizlösungen liegen. Liess ich z. B. so lange
Aether einwirken, bis die Bewegung auf etwa ö — 8 Schlage in H Se-
cunden verlangsamt war , so trat momentan Stillstand ein , als eine
Spur von Amnioniakgas in die Kammer gesogen wurde. Dasselbe ge-
schah, wenn slalt des Ammoniaks sehwache Essigsäuiedämpfe ange-
wendet wurden.
Hat man die Flimmerbewegung durch schwach w a s s e r e n l z i e -
h ende Mittel, z. B. Kochsalzlösung von 1,5% bis 2%, Zucker von
3 "/o oder verdünntes Glycerin verlangsamt odei- zum Stillstand gebracht,
so wirkt der Aether ebenfalls erst beschleunigend und wieder erweckend,
bei längerer Einwirkung dann hemmend. Die Beschleunigung sowol
als der darauf folgende Stillstand treten hier aber langsamer ein , als
bei den ganz indifferenten Lösungen. Wie bei letzteren kann der Still-
sland, wenn er vorsichtig herbeigeführt wurde , durch Verdrängen des
Aetherdampfes mittelst atmosphärischer Luft aufgehoben werden. Ge-
lingt diess nicht, dann können weder Säuren noch Alkalien, auch Was-
ser nicht die Bewegung wiederbeleben. — Erreicht die Concentration der
Kochsalzlösung 2,5% und mehr, so vermag Aether nicht zu beleben.
Von Belang ist es , dass der Aether ebenso wie auf Flimmerzellen
die durch wasserenlziehende Mittel zur Ruhe gebracht wurden, auch auf
solche Zellen wirkt, welche durch Behandlung mit destillirtem Was-
ser, also unter Quellung still geworden sind. Auch im letzteren Falle
belebt Aether die Bewegung wieder, wenngleich nicht so stark als un-
ter den obengenannten Umständen. Bei forldauernder Einwirkung tritt
dann Stillstand ein , der gleichfalls durch einen .starken Luftslrom zu-
weilen aufgehoben werden kann.
Minder deutlich ist das Stadium der Beschleunigung, wenn die Flim-
merbewegung (in lodseruu); durch Ammoniakgas verlangsamt ist.
Lässl man die Ammoniakdämpfe so lange einwirken, bis die Haare nur
noch ungefähr drei bis fünf Schw ingungen in fünf Secunden ausfüh-
len, und bringt man dann ein wenig Aether in die Kammer, so tritt eine
höchst unbedeutende Beschleunigung ein , der sehr schnell Stillstand
folgt. Letzteren kann man durch einen Luftslrom wieder aufheben. —
Waren die Zellen durch das Ammoniak schon völlig zur Ruhe gekom-
men, so gelingt eine Wiederbelebung durch Aether selten vfnd auch
dann sind die Bewegungen nur sehr klein, mehr zitternd und von sehr
kurzer Dauer. Nach Durchsaugen nou Lull kann man dann durch Säu-
ren den Stillsland fast ebenso leicht \\i<Ml<'r aufheben, als wenn kein
378 Tli. W. Eutrelinanii,
Aellier eingewirkt hätte; vorausgesetzt, dass man nicht viel Aetber
hatte einwirken lassen. —
Ebenso wie auf die durch Ammoniak wirkt nun der Aether auf
die durch Säuren verlangsamte Flimmerbewegung: äusserst schwache
Beschleunigung anfangs, die auch ganz fehlen kann, hierauf Stillstand,
der durch Luft aufzuheben ist. Säurestillstand kann nur selten und
immer nur sehr vorübergehend durch Aether beseitigt w erden ; meist
aber durch Alkalien nach Verdrängung des Aethers durch Luft. — Die
durch schwere Mctallsalze vorsichtig erzeugte Flimmerruhe bleibt bei
Zufuhr von Aether bestehen. —
Ganz übereinstimmend mit dem Aether wirken nun Alkohol und
Schwefelkohlenstoff, Sie beschleunigen unter denselben Bedingun-
gen wie der Aether die erlahmte Bewegung. Bei längerer Einwirkung
machen sie Stillstand. Auch dieser Stillstand kann unter Umständen selbst
nach Minuten langer Dauer durch einen Luftstrom aufgehoben werden.
Vermag Luft allein nicht mehr diess zu thun, so helfen auch Säuren,
Alkalien und reines Wasser nichts ; ebenso Wenig natürlich Aether.
Die Veränderungen der Zellen bei der Einwirkung des Alkohols und
des Schw cfelkohlenstoffs sind ganz ähnlich denen , welche unter dem
Einfluss des Aethers entstehen , Schwefelkohlenstoff macht die in lod-
serum liegenden Zellen etwas glänzend ; zugleich isoliren sich die Zel-
len von einander.
VlI. Einfluss des Chloroforms auf die Flimmer-
bewegung.
Die Wirkung des Chloroforms unterscheidet sich wesentlich von
der der drei ebenerwähnlen Stoffe: es fehlt nämlich das Stadium der
Beschleunigung. Unter allen Umständen beginnt die Bewegung sogleich
sich zu verlangsamen, und sehr wenig Ghloroformdampf genügt
schon , um selbst eine vorher äusserst lebhafte Bew egung völlig zur
Uuhe zu bringen. Beim Eintritt der Chloroformnarkose bildet sich in
den (in lodserum liegenden) Zellen eine äusserst feinkörnige, allmäh-
lich zunehmende Trübung. Die Kerne erscheinen als matte, pralle
Bläschen mit deutlichem Kernkörperchen. Während der Narkose ste-
hen die Wimpern, wie bei andern Formen des Stillstandes, alle schräg
vorn ül^ergeneigt.
Ebenso leicht wie die Bewegung durch Chloroform einschläft, ebenso
leicht — schon nach ein paar Secunden — erwacht sie auch wieder,
wenn man einen Strom reiner atmosphärischer Luft durch die
Oher die Fliinmerbeweguiiß. 379
Giiskiiinmor snui;l. Die Z(^llen nehmen hierbei das normale Aussehen
allmiihhch wieder ;in. Man kann bei cinicjer Vorsieht die Narkose ohne
Gefahr für die Zellen eine Vierlelslunde und länc;er anhalten lassen.
An lodserunipriiparalen habe ich den Clilorofornislilisland noch naeh
einer Dauer von 20 Minuten durch einen Luflslrom aufhel)en können.
Die Be\\et;uni;en sind beim Wiedcrerwaehen von kurzem Still-
stande erst sehr langsam (— die erste Schwingung dauert /unn eilen
drei Secunden — ), aber fast immer sind sie gross und wellenförmig.
Sic können binnen einer halben Minute ihre anfängliche Schnelligkeit
wieder erreichen. — Man kann auch die Zellen wohl fünf- und niehr-
mal nacheinander chloroformircn und wieder erwecken, ohne dass die
Bewegung dadurch l)leil)cnd geschwächt wird. Hierin unterscheidet
sich die Chloroformnarkose vom Acthcr; nach mehrmals wiederholtem
Aelherslillstande erreichen die Bewegungen keine grosse Hohe mehr. —
So leicht nun ein massiger Grad von Chloroformnarkose durch
Verdrängen des Giftes mittels atmosphärischer Luft aufgehoben wer-
den kann, so unmöglich ist es, einen Chloroformstillstand zu beseiti-
gen, der durch Luft allein nicht gelöst wird. Hier helfen weder Alka-
lien noch Säuren, weder Wasser noch Salzlösungen. Auch Aether,
Alkohol und Schwefelkohlenstoff versagen ihren belebenden Einfluss.
Vlll. Einfluss einiger Gifte auf die Flimmerbewegung.
Nach den bisherigen Erfahrungen giebt es kein Gift füF die Flim-
merbewegung. Die furchtbarsten Gifte sind nach Purkinje und Valen-
tin selbst in starken Concentrationsgraden unschädlich: Blausäure und
salpetcrsaures Strychnin z. B. haben nach den genannten Autoren we-
der in den gesättigtesten noch in der verdünnteslen Lösung einen Ein-
fluss auf die Bewegung bei Unio und Anoden ta. Morphiun) aceticum
und Extiactum belladonnac ebensowenig. In gesättigter Lösung von
salzsaurem Veratrin soll die Bewegung erst nach 1 Minuten aufgehört
und in verdünntercn Lösungen sich unverändert erhalten haben. Die
Anführung dieser Angaben, welche zum Theil auch von Sharpey bestä-
tigt wurden, und denen, so viel mir bekannt, bisher nicht widerspro-
chen worden ist, mögen hier genügen.
Meineeigenen Versuche, welche mit Veratrin, Curare, Strych-
nin, Atropin, Calabarextract an dem Flimmerepithel der Bachen-
schleimhaut des Frosches angestellt wurden, zeigten gleichfalls, dass diese
Stoffe keine Gifte für die Flimmerbewegung sind. Hat man mit einem
der genannten Körper — gleichviel in welcher Dosis — einen Frosch
vergiftet, so bleibt die Flimmerbewegung unverändert bestehen , und
380 Tli. W, F.nai'lmaiiii.
reagirl gegen alle äusseren Einflüsse wie die normale Bewegung. — An-
ders ist es natürlich, wenn man die Flimmerzellen direcl in Lösungen
der Gifte bringt. Aber auch hier zeigt sich, dass minimale Dosen ohne
Einfluss sind. Die reinen Alkaloide verhalten sich wie andere alkalisch
reagirende Stoffe, ihre Salze sich wie andere Salze. Concentration und
Reaction bestimmen den Erfolg.
Bei einem bestimmten Concentrationsgrade , der sich von dem
nicht giftiger neutraler Salze nicht entfernt, sind neutrale Lösungen
jener giftigen Salze indifferent für die Flimmerbewegung. Concentrir-
tere Lösungen wirken wasserentziehend, schrumpfend, verdünntere
zeigen die Wirkungen des Wassers um so deutlicher, je geringer der
Salzgehalt wird. In sehr kleinen Mengen indifferenten Flüssigkeiten,
wie lodserum beigemischt, äussern die giftigen Salze keinen Einfluss.
Diejenigen unter ihnen, deren wässerige Lösungen sauer reagiren, ver-
halten sich wie andere saure Salze. So z. B. das essigsaure Veratrin ;
diess bewirkt in einprocentiger wässeriger Lösung sofort Stillstand
unter allen Erscheinungen der Essigsäure-Einwirkung. Die Zellen
werden trübe , die Kerne deutlicher , die Wimpern stehen steif und
schräg nach vorn geneigt. Führt man Annnoniakdämpfe über das Prä-
parat, so erwacht die Bewegung wieder. — Neulralisirl man eine fünf-
procentige Lösung von reinem essigsaurem Veratrin so weil mit Am-
moniak, dass die Lösung nur noch kaum bemerkbar sauer reagirl, und
bringt man dann ein Stückchen von einer frischen Rachenschleimhaul
hinein, so erhält sich die Bewegung 10 Minuten lang und länger, bis
schhesslich StiUstand mit den Zeichen des Essigsäure-Stillstandes ein-
tritt.
Reagirl die wässerige Lösung des Giftes alkalisch, so verhält sie
sich auch gegen die Flimmerbewegung genau so, wie Lös